Schweitzer Fachinformationen
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Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, verehrte Anwesende,
willkommen zum zweiten Teil der Führung durch das Haus der Poesie. Ich konstatiere erfreut, daß die Schwellenangst nicht zu-, sondern eher abgenommen hat, und ich rekapituliere, in welche Räume wir beim ersten Durchgang hineingeschaut haben: In die Krabbelstube, in das Kinderzimmer, in den Klassenraum und in den Clubraum, wo wir für ein Weilchen den Dichtern beim gemeinsamen Dichten zuhören und zuschauen und dabei feststellen konnten, daß das Gedicht auch das kann: Menschen aus Fleisch und Blut zusammenzuführen und gemeinsam zu beschäftigen - Dichten als Gesellungsmedium.
Weit häufiger freilich leistet das Gedicht diesen Dienst auf virtuelle Weise - suchen wir also den Ort auf, der seit jeher die Dichter aller Zeiten und Räume zusammenbringt, treten wir in den Lesesaal und versuchen wir, wenigstens einige idealtypische Begegnungsformen zwischen Gedicht und Dichter in Erfahrung zu bringen.
Wir erinnern uns, daß Goethe dem jungen Hölderlin geraten hatte, »kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen«.
Wir wissen, daß Hölderlin diesen kollegialen Rat in den Wind schlug und statt kleiner Gedichte große Gesänge schrieb, Hymnen im hohen Ton, immer wieder durchsetzt von derart suggestiven Zeilen, daß nachgeborene Dichter sie fortwährend wie bezaubert aufgriffen und ihren Gedichten einverleibten.
Folgendermaßen beginnt Hölderlins Gedicht »Der Gang aufs Land«:
Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.
Im Jahre 1800 geschriebene Worte, die, vermute ich, nie aufmerksamer gehört und nötiger gebraucht worden sind als rund 170 Jahre später, im Deutschland der 70er Jahre des ausgehenden 20sten Jahrhunderts nämlich, und zwar in beiden Teilen des zerfallenen Landes.
Die folgenden Zeilen sind ein Zitat aus einem längeren, »Das innerste Afrika« überschriebenen Gedicht des in der DDR beheimateten und sich an der DDR abarbeitenden Dichters Volker Braun. Es beginnt mit den Worten:
Komm in ein wärmeres Land
mit Rosenwetter
Und grünen laubigen Türen
Wo unverkleidete Männer
Deine Genossen sind.
[.]
Komm
aus deinem Bau deinem lebenslänglichen Planjahr ewigen Schnee / Wartesaal wo die Geschichte auf den vergilbten Fahrplan starrt die Reisenden ranzig / Truppengelände TRAUERN IST NICHT GESTATTET
- ein reichlich düsterer Ort, an dem es, glaubt man dem Dichter, zusehends ungemütlicher wird:
[.] Blut sickert aus den Nähten der Niederlage / Zukunftsgraupel und fast will / Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit
Sie können dich töten, aber vielleicht
Kommst du davon
Ledig und unbestimmt
komm! Ins Offene, Freund!
Ich zitiere aus einem von Peter Geist herausgegebenen - so hat er selber es genannt - »Lesebuch«. Es trägt den befremdlichen Titel »Ein Molotow-Cocktail auf fremder Bettkante« sowie den hilfreichen Untertitel »Lyrik der siebziger/achtziger Jahre von Dichtern aus der DDR«. Es ist 1991 im Reclam Verlag Leipzig erschienen, und im Nachwort dieses Lesebuchs schildert der Herausgeber die wachsende Kluft, die sich seit Beginn der siebziger Jahre auftut zwischen den erfahrungshungrigen DDR-Dichtern und der mauerbewehrten DDR: »Die trotzige Option auf ein >Prinzip Hoffnung< destilliert sich nun in Beschwörungen. Aus keinem Gedicht ist in diesem Zusammenhang so häufig zitiert worden wie aus Hölderlins >Gang aufs Land<, um in abermals >bleierner Zeit< aufzufordern: >Komm ins Offene, Freund<.«
Doch nicht nur DDR-Dichter fanden in Hölderlin einen, der das sagte, was sie litten. Als die BRD-Regisseurin Margarethe von Trotta das Schicksal des RAF-Mitglieds Gudrun Ensslin verfilmte, nannte sie ihren Film »Die bleierne Zeit«, und als dieser Film im Jahre 1981 bei den Filmfestspielen von Venedig den »Goldenen Löwen« errang, wurde sein italienischer Titel »Anni di Piombo«, »Bleierne Jahre« also oder »Jahre aus Blei«, in Italiens Medien zum geflügelten Wort, zu einem feststehenden Begriff, auf den auch heute noch immer dann zurückgegriffen wird, wenn es darum geht, die Zeit der Brigate Rosse, der Attentate und der Aldo-Moro-Entführung, die Zeit der 70er also, zu benennen und zu evozieren.
Nicht nur Bücher, auch Zeilen und Wortpaarungen haben ihre Schicksale.
»Was bleibet aber, stiften die Dichter«, könnte der Belesene angesichts der wundersamen Langlebigkeit und Verbreitung einer Wortfügung wie »die bleierne Zeit« sagen und hätte damit doch nur wieder Hölderlin zitiert, ein Zitat, das einen weiteren Dichter, Erich Fried, zu der Variante »Was bleibt, geht stiften« angeregt hat und das der frühverstorbene Österreicher Reinhard Prießnitz in seinem Gedicht »In Stanzen« fast, aber nicht ganz zur Unkenntlichkeit verquirlt:
nämlich das wissen, dass, mit dichten stiften,
was dichter stiften, stifter dichten: nervung;
das windig wirkliche in allen schriften,
gestanzt von den instanzen der verwerfung [.].
»In Stanzen« - das meint: in der tradierten achtzeiligen Stanzenstrophe - hat Hölderlin meines Wissens nach nicht gedichtet, zur »Instanz« aber - in deutschen Landen wie bei deutschen Dichtern - ist er nicht erst in den bleiernen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts geworden.
»Andenken« hat er sein Gedicht überschrieben, das mit der Zeile endet:
»Was bleibet aber, stiften die Dichter«. Und so beginnt es:
Der Nordost wehet,
Der liebste unter den Winden
Mir, weil er feurigen Geist
Und gute Fahrt verheißet den Schiffern.
Geh aber nun und grüße
Die schöne Garonne,
Und die Gärten von Bordeaux
Dort, wo am scharfen Ufer
Hingehet der Steg und in den Strom
Tief fällt der Bach, darüber aber
Hinschauet ein edel Paar
Von Eichen und Silberpappeln;
Belassen wir es bei dieser Strophe, bei dieser Beschwörung einer schönen, guten und edlen Welt:
»Geh aber nun und grüße
die schöne Garonne - «
- hat der Dichter Günter Eich diese schönen Zeilen Hölderlins gebraucht, als er 1946 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft saß, oder hat ihn ihre Schönheit geschlaucht?
Auf jeden Fall hat er sie zitiert, nicht verspielt wie Prießnitz, sondern fast vorwurfsvoll, jedenfalls voll blutigen Ernstes, in seinem Gedicht
Über stinkendem Graben,
Papier voll Blut und Urin,
umschwirrt von funkelnden Fliegen,
hocke ich in den Knien,
den Blick auf bewaldete Ufer,
Gärten, gestrandetes Boot.
In den Schlamm der Verwesung
klatscht der versteinte Kot.
Irr mir im Ohre schallen
Verse von Hölderlin.
In schneeiger Reinheit spiegeln
Wolken sich im Urin.
Unter den schwankenden Füßen
schwimmen die Wolken davon.
Eich zitiert zwei Zeilen von Hölderlin, ich habe mir beim Vielzitierten noch mehr herausgenommen: ein ganzes Gedicht. Allerdings handelt es sich um eines der selteneren wirklich kurzen Gedichte Hölderlins, um ein Distichon, um zwei Zeilen also, die mir zu Gesicht kamen, als ich den Versuch unternahm, mir in einem Gedichtzyklus Klarheit zu verschaffen über das prekäre Verhältnis von Spaßmacher und Ernstmacher. Dieser Zyklus besteht aus zwölf Teilen à acht Zeilen, und im achten Achtzeiler lasse ich zunächst Hölderlin zu Wort kommen, um ihn sodann zu kommentieren:
Erst einmal das Distichon von Hölderlin komplett:
Immer spielt ihr und scherzt? ihr müßt! o Freunde! mir geht dies
In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.
Und nun der Einbau eines Hölderlin-Zweizeilers in einen Gernhardt-Achtzeiler:
Wenn der Dichter uns fragt: Immer spielt ihr und scherzt?
Und er fortfährt: Ihr müßt! O Freunde! Mir geht dies
In die Seele, denn dies - und so schließt er gewaltig:
Müssen Verzweifelte nur. - Wer wollte
Da widersprechen? Die Frage gar gegen
Den Fragenden richten: Du, der du niemals
Scherztest noch spieltest - warst du denn je...
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