Schweitzer Fachinformationen
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1. Das Parallelogramm von Mensch und Politik. So viele Nachteile die Demokratie auch immer haben mag: Sie gilt vielen Menschen, die Erfahrungen mit ihr machen konnten, als die beste Option. Zwar ist sie die Regierungsform, deren Unzulänglichkeiten die Kritik ihrer Bürger unablässig auf sich zieht; aber dadurch, dass sie diese Kritik zulässt und sich schon damit für Innovationen offenhält, ist sie anderen Systemen überlegen, insbesondere solchen, die das Recht nicht achten und damit der Willkür des herrschenden Personals überlassen sind.
Die Demokratie setzt auf die gleiche Freiheit der Individuen, bietet Raum für öffentliche Debatten und kann so dem Gemeinwesen größere Chancen eröffnen. Das macht sie in vielem aufwändig und manchmal auch unbequem; aber im Vergleich mit Diktaturen und Einparteienstaaten bietet sie Rechtssicherheit und größere Meinungsvielfalt. Also eröffnet sie der Mehrheit mehr Entfaltungsraum mit einem höheren Anteil individueller Zufriedenheit - zumindest so lange sie ein auskömmliches, möglichst berechenbares und Zukunftschancen bietendes Leben verspricht.
Solange diese Voraussetzungen gegeben sind, gehört der Demokratie die Zukunft. Und solange sie Erfolg hat, wird sie auch die besten Chancen haben, die Menschen überall auf der Welt für sich zu gewinnen. So könnte die Demokratie bereits in absehbarer Zeit die Verfassung sein, unter der die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt und auch in Zukunft leben möchte.
Aber was ist, wenn die Rahmenbedingungen sich ändern? Wenn Naturkatastrophen, wirtschaftliche Krisen, Kriege, Terrorakte, Kriminalität oder Seuchen unerwartete Probleme schaffen, können die politischen Vorzüge der Demokratie rasch an Attraktivität verlieren. Dann schlägt die Stunde der Demagogen und Populisten und mit ihnen sind Rechtssicherheit und Freiheit dahin. Die historischen Beispiele sind zahlreich; die jüngsten Fälle sehen wir gegenwärtig in Hongkong und im Verhältnis zu Taiwan, in Russland, Venezuela, Brasilien, Myanmar oder Haiti. Und in Washington wurde uns vier Jahre lang das aus Dummheit, Bosheit, Nationalegoismus, hartnäckigen Lügen und Anstiftung zu putschistischer Gewalt verfertigte Trauerspiel der Selbstdemontage einer großen Demokratie geboten.
Die erste Demokratie hat es vor zweieinhalbtausend Jahren in Athen gegeben: Doch nach großen militärischen Erfolgen, einer staunenswerten Aufbauleistung und einer glanzvollen ersten Blüte war sie binnen weniger Jahrzehnte nur noch ein Schatten ihrer selbst und ging zugrunde. Unter dem äußeren und inneren Druck demagogisch geschürter Gegensätze scheiterte die attische Demokratie an den Aufgaben, geordnete Machtwechsel zu garantieren, dem Recht Geltung zu verschaffen und dem größeren Teil der Bevölkerung einen durch eigene Tätigkeit erworbenen Lebensunterhalt in Aussicht zu stellen.
Das Scheitern noch vor dem Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts wirkte so ernüchternd, dass nicht nur in der nachfolgenden Antike, sondern auch im Mittelalter und der frühen Neuzeit die Demokratie als Regierungsform nicht mehr ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Über mehr als zweitausend Jahre blieb sie das Exempel für eine sich selbst den Untergang bereitende Verfassung.
Soll es nach dem hoffnungsvollen Neubeginn in Philadelphia vor nahezu 250 Jahren nicht erneut so weit kommen, gilt es, erneut über die Demokratie, ihre Vorzüge und ihre Schwächen nachzudenken. Das soll in der nachfolgenden philosophischen Betrachtung geschehen. Dabei bietet uns die Zeit, in der die Idee der Demokratie erste Anhänger gefunden hat, Aufschluss über ein basales Merkmal, das sie allen anderen Regierungsformen überlegen macht.
Um diesen Vorzug angemessen zu fassen, sei an zwei der Antike vertraute metaphorische Umschreibungen des Verhältnisses von Mensch und Staat erinnert. Auch wenn sie von ihren ersten Anwälten nicht nur auf demokratische Regierungsformen bezogen wurden, kann ihnen nur in einer Demokratie Genüge getan werden. Die beiden Autoren, denen wir sie verdanken, gehören nicht zu den erklärten Theoretikern der Demokratie; aber einer von ihnen steht ihr, wie sich zeigen wird, so nahe, dass sie einer nachfolgenden grundsätzlichen Zuordnung nicht entgegenstehen. Und der andere ist ein wirkungsmächtiger Anwalt der Republik.
Der Erste ist Platon, der im zweiten Buch der Politeia den Staat mit einem in «Großbuchstaben» geschriebenen Menschen vergleicht: Wenn es nicht gelinge, die Tugenden beim einzelnen Menschen zu erkennen, weil sie gleichsam in «sehr kleinen Buchstaben» geschrieben sind, die wir «von weitem» nicht zu lesen vermögen, könnten wir die Möglichkeit nutzen, dass «dieselben (!) Buchstaben» auch in vergrößerter Fassung zu finden sind (368d-c.).
Mit diesem Vergleich begründet Platon sein Vorgehen, die Tugenden, um die es ihm vorrangig geht, zunächst als die gute Verfassung einer polis zu beschreiben, mit Blick auf welche es möglich ist, auch für den vergleichsweise klein erscheinenden einzelnen Menschen zu erkennen, was unter «Gerechtigkeit», «Besonnenheit», «Tapferkeit» und «Frömmigkeit» zu verstehen ist.
Die Pointe dieses Vergleichs kann man sich auch heute noch anschaulich machen: In der Vielfalt seiner sich vielfach widersprechenden Empfindungen, Bedürfnisse, Einstellungen, Erwartungen und Ansprüche ist der Einzelne darauf angewiesen, sich als Einheit zu verstehen, sobald er als Person wahr- und ernst genommen werden will. Und das Modell für diese Einheit kann ihm in einem gut bestellten Staat vor Augen stehen, dessen Einheit nach Analogie des einzelnen Menschen vorgestellt wird.
Das erscheint aufwändig, dürfte aber im Gebrauch der Begriffe für politische Einheiten wenig Schwierigkeiten bereiten, wenn wir sehen, wie selbstverständlich auch dem Staat ein «Körper» zugerechnet wird, der ein «Haupt» und eine Reihe von «Gliedern» hat. Das Frontispiz von Hobbes' Leviathan, auf dem ein aus lauter kleinen Menschen bestehender königlicher Riesenmensch mit Krone, Zepter und Schwert ein ganzes Land bewacht und beschützt, zeigt einen «großgeschriebenen Menschen». Auch wenn Hobbes kein Anhänger Platons war, suchte er seine Beispiele aus dem Fundus der Antike. Das Bild verstehen wir augenblicklich, denn bis heute sprechen wir vom «Staatskörper» und seinen «Organen», der Staat ist die «Körperschaft» schlechthin, auch wenn sich die Rede von «Oberhaupt» und «Fußvolk» nur noch selten findet. So ist die Analogie von Mensch und Staat zum Bestandteil unserer politischen Sprache geworden. Doch man hat vergessen, dass in ihr auch ein Maßstab liegt, mit dem die staatliche Ordnung auf den Menschen verpflichtet wird, so dass die Politik als vorrangige Aufgabe einer immer auch als moralisch verstandenen Selbstachtung der zu ihr gehörenden Menschen angesehen werden kann.
Die erste große philosophische Darstellung des griechischen Staatsverständnisses durch Platon stützt sich also auf eine grundlegende Entsprechung zwischen dem Einzelmenschen und dem Staat. Die Tatsache, dass es Menschen sind, die den Staat gründen, ihn bilden und nach ihren Vorstellungen leiten, hat eine offenkundige Konsequenz für den Begriff der polis: Der Mensch schafft den Staat nach seinem Bild und ist dabei von der Erwartung geleitet, dass dieser seinem Urheber in Verfassung und Aufgabe ähnlich bleibt. Die politische Lehre ist von der Erwartung bestimmt, dass ein Staat seiner menschlichen Herkunft dauerhaft verpflichtet bleibt.
Das zweite Beispiel findet sich nahezu vierhundert Jahre später in einem Text, der beansprucht, eine Begebenheit zu berichten, die sich gut 100 Jahre vor Platons Niederschrift der Politeia ereignet haben soll. Titus Livius gibt im zweiten Buch seiner monumentalen Geschichte der römischen Republik die Verhandlung wieder, die um das Jahr 495 v. Chr., 15 Jahre nach der Vertreibung des letzten römischen Königs, stattgefunden haben soll. Die Verhandlung führte zu einer Vereinbarung, die eine rechtlich verankerte Beteiligung auch der besitzlosen Bürger an der Verwaltung Roms ermöglichte. Diese Einigung war eine unerhörte Innovation, die es modernen Historikern erlaubt, die Römische Republik sogar in die Nähe der modernen Demokratie zu rücken.
Die Schilderung der Ereignisse durch Livius gibt der Vermutung Raum, die kluge und ...
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