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Himari
Himari stand im Garten des Daimyoschlosses im Schatten einer stufig gestutzten Schwarzkiefer und las ihren Schülerinnen und Schülern, die vor ihr auf dem Gras saßen, aus dem Kodex der Kriegerkaste von Takato vor. In ihrem Gürtel steckte ihr Katana-Schwert, ihre Schülerinnen und Schüler hatten Übungswaffen neben sich abgelegt. Eben noch hatten sie an den gerollten, aufrecht stehenden Tatamimatten trainiert und versucht, diese mit einem Schlag zu zerteilen. Jetzt durften ihre Schützlinge beim Zuhören verschnaufen.
Als hochgestellte Kriegerin aus einer adligen Familie, als Onna-Bugeisha hohen Ranges, durfte sie in den Han-Schulen den Samurai-Nachwuchs unterrichten.
Sie hielt das altehrwürdige Schriftstück aus dem Burgarchiv behutsam mit beiden Händen. Die Ideale, wie sich ein kämpfender Vertreter des Fürstentums Takato zu verhalten hatte, waren der Kern ihrer Ritterlichkeit: »Ehre, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Mut.«
Himari kam beim Vorlesen der gewichtigen Tugenden ihr warmherziger, aber furchtsamer Assistent Kuniji in den Sinn - nicht jedes Ideal konnte im Alltag von jedem Samurai gleichermaßen umgesetzt werden.
Eigentlich unterrichtete sie hauptsächlich die Kunst, das Schwert zu führen, aber diese war nichts ohne die dazugehörige Philosophie.
Zwei weitere Tugenden waren Höflichkeit und Treue dem Lehnsherrn gegenüber.
»Die Tugenden geben euch vor, gegen wen ihr das Schwert erhebt. So wie jede unserer Handlungen einem Sinn folgen soll, darf auch das Schwert nicht willkürlich gebraucht werden.«
Ihr Assistent, der ihr beim Unterricht zur Hand ging, flüsterte ihr ins Ohr: »Vergesst bitte nicht die Audienz!«
Himari hatte sich mit anderen hohen Samurais in der Audienzhalle des Daimyos einzufinden. Dort, zwischen den mit goldenen Drachen bemalten Papierwänden, würden sie duldsam sitzen und einem von ihnen zuhören, der über die Lage im Fürstentum Takato berichtete. Diese Audienzen fanden regelmäßig statt, gehörten für Himari demnach eigentlich zur Routine. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb hätte sie es in der Tat beinahe vergessen, aber in organisatorischen Angelegenheiten konnte sie sich auf Kuniji verlassen.
Sie nickte und wandte sich wieder ihren Schülern zu. Alle anwesenden Mädchen und Jungen waren noch sehr jung. Wie sie hatte auch Himari einst in weißer Trainingskleidung im Gras gesessen und den Worten ihres Lehrers Hayashi gelauscht, der ein großer Militärstratege gewesen war und bekannt für sein Konzept, das Lehen als große Familie zu verstehen. Diese Idee prägte sie bis heute.
Auch das Leben ihrer Schülerinnen und Schüler würde vom Weg der Samurais bestimmt sein - ein Weg, den man nicht verließ.
Hinter ihren Schülerinnen und Schülern konnte sie am Eingang der Burg schon prachtvoll gekleidete Hofdamen mit goldenen Haarnadeln in hochgesteckten Frisuren und andere Mitglieder des Hofstaates sehen, die zum Audienzsaal strebten.
Himari betrachtete den Hofstaat, während sie die Schriftrolle verstaute. Sie hielt viele der verwöhnten Höflinge für verweichlicht und fand, dass sie einen schlechten Einfluss auf den Daimyo ausübten. Immer schon war sie der Meinung gewesen, dass der Hof zu aufgeplustert war und der Daimyo mehr Ruhe haben sollte, um sich auf das Regieren konzentrieren zu können.
»Sensei?«, fragte einer ihrer Schüler. »Ist der Unterricht beendet?« Himari sah zu ihm herüber. Sie hatte viel dafür geopfert, um den Titel einer Lehrerin tragen zu dürfen. Nur die hohen Onna-Bugeishas mit dem vorzüglichsten Wissen über Kriegsführung, Philosophie und Literatur durften an den Han-Schulen unterrichten. Sie hatte stets davon geträumt, das Los der totgeschwiegenen Frauen als Krieger zweiter Klasse zu überwinden.
»Ja, für heute sind wir fertig.« Sie klatschte in die Hände, und alle Schüler erhoben sich aus dem Gras und klopften ihre Kleidung aus. Sie verbeugten sich fast gleichzeitig vor ihrer Lehrerin und verließen dann in Zweierreihen den Burgpark.
Da Himari gerade Unterricht im Schwertkampf gegeben hatte, würde ihre Erscheinung für die Audienz passend sein.
Prüfend blickte sie an sich herunter. Der Brustpanzer aus rot lackierten Eisenlamellen saß stramm und fest. Auch ihre Armschienen mit Goldapplikationen waren so geschnürt, wie es sein sollte.
Auch wenn es nicht ihre Aufgabe war, überlegte sie kurz, ob noch Zeit blieb, ihrem Assistenten beim Wegräumen der zusammengerollten Tatamimatten zu helfen, die sie für die Schwertübungen der Schüler gebraucht hatten.
Nein, sie sollte sich lieber beeilen, dachte Himari dann, vielleicht ergäbe sich die Gelegenheit, in der Nähe von Shinya zu sitzen. Sie rief ihrem Assistenten »Bis morgen!« zu und stapfte los.
Kurz blieb sie an einem Teich, in dem Koikarpfen schwammen, stehen und überprüfte ihr Spiegelbild. Ihre langen rötlich braunen Haare waren wie üblich locker am Hinterkopf zusammengebunden. Ihre Augen und den Rest ihres schlanken sommersprossigen Gesichtes konnte sie aber nur für einen kleinen Augenblick erkennen, weil schon gleich die Karpfen angeschwommen kamen, die Wasseroberfläche aufwühlten, um mit offenen Mäulern nach Futter zu betteln.
Sie lief weiter, überquerte eine rote Holzbrücke, die auf hohen Pfeilern über einen der Burggräben führte, und durchschritt danach ein zweiflügeliges Tor mit ziegelgedecktem Dach. Die beiden Soldaten, die den Eingang bewachten, kannten Himari und verbeugten sich vor ihr. Viel hatten sie nicht zu tun, denn dieses Tor, der Graben und die dazugehörige Mauer lagen bereits innerhalb mehrerer Befestigungsringe, die die Burg von der Außenwelt abriegelten.
Die Burg Takato war planvoll angelegt. Die Hauptburg, die Himari jetzt ansteuerte, war von zwei weiteren Burgbereichen umschlossen. Die wassergefüllten Gräben und die etlichen Befestigungswälle, die sie voneinander trennten, hatten Takato über die Jahrhunderte den Ruf eingebracht, uneinnehmbar zu sein.
Im Frühlingswind wogte hier jedes Jahr aufs Neue ein malerisch schöner Ozean aus Kirschblüten. Himari hatte schon viele Stunden unter den Bäumen zugebracht, und sie waren ihr oft eine treffliche Inspiration für Haiku- oder Tanka-Gedichte gewesen.
Die Stadt außerhalb der äußersten Mauer schmiegte sich an die erhöht liegende Burganlage. Himaris Elternhaus war am weit entfernten Rand des Fürstentums gelegen, und so lebte sie in einer Gemeinschaftsunterkunft in der Burg.
Sie war aber oft in der Stadt unterwegs, und es gehörte zu ihren regelmäßigen Freuden, als Gast in den Häusern der anderen hohen Samurais zu sein, die hier heimisch waren.
In einem dieser herrschaftlichen Häuser mit eigener Trainingshalle und vielen Bediensteten war auch einmal Shinya zu Gast gewesen. Jener Samurai aus einer der angesehensten Familien des Landes, der ihr seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging.
Himari war er sofort aufgefallen, wie er da inmitten der anderen Gäste mit dem Hausherrn in einen Lyrikband versunken gewesen war. Das warme Lächeln, das sich bei dem Gespräch mit dem anderen Samurai immer wieder gezeigt hatte, hatte sie berührt. Ohne mit Shinya gesprochen zu haben, fühlte sie sich von ihm angezogen.
Himari erreichte die Hauptburg, die den Kern der gesamten Burganlage bildete.
Glatt geschliffene Steinblöcke von unterschiedlicher Größe bildeten den Sockel, auf dem die aus Holz und Lehm geschaffene Burg thronte. Schwarze Balken wechselten sich mit weißem Putz ab und verliehen dem schlichten Bauwerk eine edle Schönheit. Die fünf Etagen des Hauptturms verjüngten sich bis zur Spitze, und jede Etage war von dunklen Dachschindeln gerahmt. Ganz oben auf dem Giebel des höchsten Daches prangte das Wappen des Daimyo-Clans, auf dem die langen herabhängenden Blüten des Blauregens zu sehen waren.
Wie kleine Brüder standen zwei Nebentürme dem Hauptturm zur Seite. In einem von ihnen würde schon bald die Audienz stattfinden. Für Himari verkörperte die Burg die Werte der Samurais und die Macht des Daimyos sowie dessen Verantwortung seinem Volk gegenüber. Goldbesetzte Dachverzierungen in Gestalt von Fischen glitzerten in der Sonne und blendeten Himari, als sie zu ihnen hinaufschaute.
Zusammen mit zwei Samurais, die auch zu der Audienz wollten, erklomm sie die steilen, breit angelegten Stufen aus rohem Felsen. Oben angelangt erkannte sie, dass sie als eine der Letzten eintraf. Der Empfangssaal war voller Krieger und Kriegerinnen. Zum Glück war der Daimyo noch nicht erschienen.
Der niedere Samurai, sein Name war Himari entfallen, der heute seinen Rapport abgeben würde, stand bereits an der Stirnseite des Raumes neben dem Kissen, auf dem der Daimyo Platz nehmen würde. Der junge Mann war sichtlich nervös und trat steif von einem Fuß auf den anderen.
Shinya stand unerreichbar inmitten der anderen Samurais in der ersten Reihe und war in ein Gespräch vertieft.
Himari war enttäuscht, aber da betrat ihre Freundin Haruka den Raum und deutete eine zackige Verbeugung an. Sie würde sie ablenken.
»Ich habe dich schon gesucht. Hast du gehört, dass Itarou einen neuen Falken hat? Er hat gesagt, dass er es sogar mit den Falken deines Vaters aufnehmen könnte.«
Es stimmte, dass Himaris Vater berühmt für seine Falkenzucht war, aber sie konnte sich nicht dafür begeistern.
»Aber ich weiß ja, dass dich das nicht...
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