Schweitzer Fachinformationen
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Aoi
Aoi sah sich verwundert um.
Das Bild, das sie erblickte, schien in der glühenden Hitze zu vibrieren. Feuerrote Ziegel bedeckten ein geschwungenes Dach, das auf einem Haus von kolossalem Ausmaß thronte. Funken stiegen in den schwarzen Himmel empor, doch das Gebäude selbst brannte nicht.
Es war ein Anblick, der Aoi surreal erschien, ihr aber auf eine merkwürdige Art vertraut vorkam.
Eine Mauer aus scharfkantigen Felsblöcken umgab die schwarze Holzfassade des Hauses. Nur dort, wo sich dessen Eingang befand, öffnete sich die Mauer und gab den Blick frei auf eine Tür, die verhangen war von Tüchern, auf denen die Schriftzeichen für die Zweigeteiltheit des Seins prangten.
Rauch nahm die Sicht und machte das Luftholen schwer. Es war Aoi, als würden bei jedem Atemzug Flammen durch ihren Körper lodern.
Die Tücher über der Schiebetür wogten in der flirrenden Hitze. Aois Wangen begannen zu glühen, während sie ein drückender Wind umfing und sie, einer unsichtbaren Macht gleich, zum Eingang zog.
Sie trat durch die Öffnung in der Mauer, ihr Blick wanderte hinauf zum Giebel, der ihr zugewandt war, und sie erstarrte. Oben, auf der höchsten Dachschindel, saß eine kleine Gestalt, die in einen roten Kimono gehüllt war. Schwarze dichte Haare, die ihr ins gesenkte Gesicht fielen, machten es unmöglich, sie zu erkennen. Jetzt hob die Gestalt eine Hand und bedeutete Aoi, näher zu treten.
Aoi war es unheimlich, zögerlich blieb sie stehen, senkte den Blick. Der felsige Boden unter ihren Füßen schien zu beben, als würde unter ihr ein Vulkan brodeln.
Als sie wieder hinaufsah, war, wer auch immer sie von der Höhe des Daches zum Näherkommen eingeladen hatte, verschwunden. Aoi überwand ihre Bewegungslosigkeit und lief auf die Tür zu.
Mit zitternden Händen griff sie hinter die Tücher, schob die mit Papier bespannte Tür aus Bambusholz beiseite und trat ein.
Vor ihr erstreckte sich ein einziger riesiger Raum, der mit Reisstrohmatten ausgelegt war. Ein mehrere Meter langer Esstisch aus poliertem Kirschholz in der Mitte des Raums trug schwer an einem gigantischen Ikebana-Arrangement.
Während übliche Blumenbouquets in eine normale Schale passten, war dieses Gesteck eine kunstvoll kreierte riesige Landschaft aus Bäumen und Wurzeln, in der von Efeu umschlungen Blumen in allen erdenklichen Farben und Formen sprossen. Rotorangefarbene Ahornblätter und sattgrüne Kiefernzweige erhoben sich über gesprenkelten Lilien, zartem Jasmin, aufragenden Orchideen und edlen Chrysanthemen. Zwischen den Blüten und dem Holz ragten Farnwedel auf und vervollkommneten mit ihrem kräftigen Grün, undurchdringlich und dicht, das Kunstwerk. Fast bis zur Holzdecke des Raumes, in dem eine angenehm milde Temperatur herrschte, ragten die Pflanzen auf.
Offenbar musste hier eine sehr wohlhabende und vielleicht sogar mächtige Person wohnen. Aoi fragte sich, wer es wohl war.
Unter der Decke baumelten Lampions, die den Raum in goldenes Licht tauchten.
Aoi trat näher an den Tisch heran. Ihr Blick fiel auf eine Chrysanthemenblüte. Schneeweiß war sie mit einer gelbgrünen Mitte. Chrysanthemen waren die Lieblingsblumen ihrer Mutter gewesen.
Plötzlich schien sie irgendetwas oder irgendjemand an der Schulter zu berühren. Aoi drehte sich langsam um, doch da war nichts. Die Berührung hatte sie gar nicht zusammenzucken lassen, sie hatte sich warm und angenehm angefühlt. Fast so, als hätte sie ihr Kraft geben wollen.
Aoi sah sich weiter im Raum um. Oben an der Decke lebten Legenden in farbenfrohen Bildern auf. Eine Prinzessin im weißen Brautgewand war dort zu sehen, über die bei einer Hochzeitsparade ein roter Papierschirm gehalten wurde. An anderer Stelle befand sich ein Fabelwesen, das eine Mischung aus Bär, Elefant, Ochse und Tiger war. Aoi kannte diese Chimäre und wusste, dass sie sich aus Albträumen nährte.
Eine wohlbekannte geliebte Stimme raunte ihr jetzt zu: »Lass mich in deinen Gedanken verweilen, bis du meine Liebe fühlst!«
Plötzlich raschelte es in dem dichten Ikebana-Wald, der von unbekannter Hand angelegt worden war.
Direkt vor Aoi schob sich etwas zwischen den Blättern hervor und starrte sie an.
Es war ein Kopf, aber er hatte keine Gesichtszüge.
Aoi entfuhr ein Schrei.
Sie schlug die Augen auf. Uheis kräftiges Gesicht mit dem Schriftzeichen für Hund auf der Stirn war direkt vor ihr.
Es war alles nur ein Traum gewesen. Ein Traum, der ein beklemmendes Gefühl hinterlassen hatte, das ihr Herz noch schmerzend bedrückte.
»Geht es dir gut?« Uheis Stirn war sorgenvoll in Falten gelegt, sodass sich das Schriftzeichen zusammenzog und fast unleserlich wurde.
Aoi blinzelte. Es fühlte sich an, als wären ihre Augen voller Sand.
Sie setzte sich auf und sah sich um. Gleich vor ihr befanden sich der Pinsel und das Papier, auf dem sie geschrieben hatte. Zum Glück war sie auf dem Papier liegend eingeschlafen, sonst hätte der Wind, der in den Bergen wehte, ihre kostbaren Aufzeichnungen fortgetragen.
»Schön, dass du noch lebst!« Uheis Stimme klang matt und erschöpft. »Es tut mir leid, dass ich dich verloren habe, obwohl Himari mir befohlen hatte, auf dich aufzupassen.«
Der dunkelblaue Lack auf Aois Samurairüstung reflektierte das Sonnenlicht.
Wie lange sie wohl auf diesem Felsplateau geschlafen hatte, fragte sie sich. Der Berg Fuji war nicht mehr zu sehen. Er hatte sich hinter dichte Wolken zurückgezogen.
»Steh auf! Ein paar unserer Leute warten mit Nahrung in einem Dorf auf uns.«
Die Zerstörung der Rebellion war nahezu vollständig. Nur wenige Krieger waren übrig und wahrscheinlich weit verstreut.
»Komm mit! Unten am Berg sind Ane und noch drei andere.«
Der Traum, aus dem sie soeben erwacht war, ließ Aoi verstört zurück. Die Bilder, die ihre Seele ihrem inneren Auge gezeigt hatte, waren so real und verstörend gewesen, dass sie sich fast nahtlos in die traumatischen Erlebnisse einreihten, die Aoi zuvor in der Schlacht durchlebt hatte. Waren es Szenen der Vergangenheit oder der Zukunft gewesen, die sie geträumt hatte?
Aoi folgte Uhei ein gutes Stück bergab. Sie war ratlos. Sie wusste, dass es weitergehen musste, aber sie wusste nicht, wie.
Als sie Ane erblickte, war sie froh. Die grauenerregenden Erlebnisse, die sie durchgestanden haben musste, als die feindlichen Samurais des Sakai-Clans aus Himeji den Tross der Nichtkämpfenden niedergemetzelt hatten, wollte sie sich nicht vorstellen. Neben Ane standen ein herrenloser Samurai, ein sogenannter Ronin, der sich den Rebellen angeschlossen hatte, ein kleiner Junge und der Assistent des Schmieds. Aois Vater Keio hatte versucht, ihn mit Aoi zu verheiraten, aber sie hatte sich erfolgreich zur Wehr gesetzt. Aoi fiel jetzt auf, dass sie nicht einmal seinen Namen wusste. Und auch nicht, ob ihr Vater noch lebte.
Kaum war Aoi vor Ane zum Stehen gekommen, brach diese in Tränen aus. »Aoi, was ist nur mit uns geschehen?«
Uhei kam Aoi mit seiner Antwort zuvor. »Der Kaga-Daimyo hat uns verraten. Hätten seine Truppen sich nicht gegen uns gewendet, hätten wir den Daimyo von Takato und seine Verbündeten niedergemacht.«
Der Samurai sagte: »Dass das Fürstentum Himeji mit seinen Schlächtern so plötzlich auftaucht, hätte ich nie gedacht.«
»Jetzt geht es nur noch darum, dass wir überleben«, schluchzte Ane. »Sollen wir uns ins Dorf aufmachen?«
Uhei nickte. »Ja, gehen wir zu unserem Rückzugsort, dort wo sich hoffentlich alle von uns einfinden werden.«
Ane musste aufgrund ihres noch nicht ganz geheilten Knochenbruches und weil sie immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wurde, getragen werden.
»Wir müssen aufpassen, dass wir dem Feind nicht in die Arme laufen. Der schwirrt hier sicher überall noch rum.« Uhei zog sein Schwert aus dem Gürtel, der seine braune Samurairüstung umschloss. Er musste sie auf dem Schlachtfeld erbeutet haben.
Sie bewegten sich nur mit äußerster Vorsicht vorwärts. Nach allen Seiten Ausschau haltend, schlichen sie durch das dichte Gehölz des Waldes. Sie wollten sich so schnell wie möglich vom Suwa-See entfernen, wo die Rebellion ihren Kampf gegen vier Daimyate verloren hatte.
Aoi war erstaunt, als ihr bewusst wurde, dass sie selbst nach dieser Niederlage noch immer Zuversicht verspürte. Sie würde alles dafür tun, einen Weg zu finden, die Rebellion, die jetzt nur noch ein glimmender Funke in einer einst lodernden Feuerstelle war, am Leben zu erhalten. Das hatte sie Himari versprochen. Der Geist der Samurais und der Onna-Bugeishas sollte in einem neuen Japan weiterleben.
Der Traum von Gleichberechtigung und der Kaiserlichen Herrschaft durfte nicht auf ewig ein Traum bleiben. Himari lebte in Aoi weiter, und Aoi würde sich für Himaris Vision einsetzen.
Niemand sprach ein Wort. Der Samurai, der Ane trug, und der kleine Junge, dessen Name Jiro war, wurden von den anderen drei in die Mitte genommen.
»Runter!« Uheis scharfem Kommando leisteten sofort alle Folge. Ane stöhnte leise, als sie mit dem Samurai ins Gras sank.
Der Herbst hatte bereits einige der Blätter golden werden und zu Boden fallen lassen. Aoi beobachtete durch trockene Äste hindurch, dass weiter unten, nicht weit von ihnen entfernt, ein Spähtrupp von Himeji-Samurais und...
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