Schweitzer Fachinformationen
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Navideh Petersen klopfte an die Tür. Der junge Staatsanwalt, der dicht hinter ihr stand, sah sie belustigt an.
«Bei dem müssen Sie nicht anklopfen. Der kriegt gern Besuch von attraktiven Frauen.»
Sie ignorierte die Bemerkung und öffnete vorsichtig die Tür von Staatsanwalt Jens Degert. Der kleine Raum unter dem Dach der Bremer Staatsanwaltschaft war vollgestopft mit Akten. Links und rechts der Computertastatur, auf abgestoßenen, hölzernen Beistelltischen sowie auf der grauen Auslegeware auf dem Fußboden türmten sich Ordner und prallgefüllte Schnellhefter. Der Computer war eingeschaltet, aber Degert war nicht in seinem Zimmer.
«Eben war er noch da», bemerkte Degerts junger Kollege. Mit dem kleinen Kaffeetablett in der Hand lief er den Flur entlang und öffnete die Türen der Nachbarbüros. Drei der Zimmer waren verschlossen. «Die haben schon Feierabend gemacht», sagte er verblüfft.
«Es ist Freitag, 18 Uhr», erwiderte Petersen.
«Also mitten am Tag, wenn Sie unsere Vorgesetzten fragen würden», antwortete der Staatsanwalt sarkastisch. Er stellte das Tablett mit seinem Milchkaffee und einem gewaltigen Stück Apfelkuchen ab und bot sich an, Degert im anderen Trakt des alten Gebäudes zu suchen. «Vermutlich hat er sich nur irgendwo festgequatscht.» Dann eilte er davon. Müde lehnte sich Navideh Petersen mit dem Rücken gegen die Wand des schmalen Flurs. Sie widerstand dem Impuls, die Augen zu schließen. Plötzlich meinte sie ein leises Vibrieren in ihrer Jackentasche gespürt zu haben. Sie holte ihr Handy hervor und schaute aufs Display. Frank Steenhoff hatte ihr eine Nachricht geschrieben. Sie sollte sich melden, sobald sie Degert erreicht hatte. «Der STA ist verschwunden. Suchtrupp bereits unterwegs», schrieb sie zurück. Steenhoffs Antwort kam prompt: «Soll ich die Mantrailer von der Leine lassen?» Sie musste schmunzeln, wurde aber sofort wieder ernst. Die Zeit drängte. Sie brauchten unbedingt Degerts Okay für ihre geplante Aktion.
Nachdem sie bald zehn Minuten auf die beiden Männer gewartet hatte, wählte sie Degerts Nummer. Sekunden später klingelte es zwei Zimmer weiter, ohne dass jemand abnahm. Sie brach den Anruf ab und versuchte es erneut. Wieder kam derselbe Klingelton aus dem Zimmer ganz in der Nähe des Fahrstuhls. Neugierig ging sie auf die Tür zu. Als sie die Klinke herunterdrückte, stellte sie fest, dass der Raum nicht abgeschlossen war.
«Herr Degert?»
Sie öffnete die Tür und starrte sprachlos auf die Szene, die sich ihr bot. Degert hockte auf dem Boden und hielt triumphierend ein abgeschraubtes Tischbein in seiner rechten Hand. Große Schweißflecken hatten sich auf dem Rücken und unter den Achseln seines blauen Hemdes gebildet.
«Alles okay bei Ihnen, Herr Degert?»
Jens Degert drehte sich mit einem Ruck zu ihr um. Einen Moment lang hätte Petersen schwören können, dass sein Kopf noch eine Spur roter wurde.
«Wie passend! Frau Petersen. Immer wenn man sie braucht, erscheint die Polizei.» Seine Stimme hatte einen amüsierten Unterton angenommen. «Könnten Sie mal bitte halten?»
Mit einer Kopfbewegung dirigierte er sie zu dem modernen, mehrfach verstellbaren Schreibtisch und forderte sie auf, ihn anzuheben.
«Haben Sie etwas verloren?»
Degert sah sie von schräg unten an. Dann machte er sich daran, das zweite Bein abzuschrauben und durch ein deutlich kürzeres zu ersetzen.
«Der werte Kollege würde vermutlich sagen, dass ich nichts in seinem Zimmer verloren habe», sagte er. «Aber obwohl ich wahrlich kein Sitzriese bin, überrage ich diesen Zwerg da um Längen.» Er schaute kurz auf den leeren Schreibtischstuhl. «Da mein Schreibtisch noch aus dem vorigen Jahrhundert stammt und ich seit Jahren Bierdeckel unter die Beine stellen muss, um ihn auf meine Größe einzustellen, habe ich beschlossen, bei passender Gelegenheit mit dem Kollegen zu tauschen.»
«Tauschen», wiederholte Petersen trocken.
«Ja. Merkt der Zwerg gar nicht», fügte Degert ungerührt hinzu.
«So. Sie können jetzt den Tisch wieder abstellen.» Er zog sich an der Fensterbank hoch und grinste breit.
«Das heißt .», begann Petersen vorsichtig.
«Genau.» Mit einem letzten Blick auf den Schreibtisch schob er Petersen aus dem Raum. «Ich habe die Dinger geklaut.» Er taxierte sie von oben bis unten: «Irgendwelche Probleme damit?»
Petersens linke, geschwungene Augenbraue ging nach oben. «Nein, ich bin beim 1. K. Wir sind nur für Mord- und Totschlag, Entführung und Brandstiftung zuständig. Gestohlene Tischbeine gehören meines Erachtens nicht dazu.»
Degert überhörte den Unterton geflissentlich. «Dachte ich mir, dass Sie so etwas nicht erschüttern kann. Schließlich beschäftigen wir beide uns ja mit der wahren Kriminalität, nicht wahr?»
Er schien keine Antwort zu erwarten, öffnete die Tür zu seinem Büro und steuerte auf eine Art Kaffeemaschine zu, die irgendwo zwischen den Aktenordnern hervorlugte.
«Espresso?»
Navideh Petersen schüttelte den Kopf. Aber Degert hatte schon zwei Tassen bereitgestellt.
«Jetzt bringen wir die Sache hier erst mal zu Ende. Wenn Sie noch mal so freundlich wären und meinen Tisch anheben könnten?»
Fünf Minuten später waren die verstellbaren Tischbeine aus dem Nachbarzimmer an Degerts Tisch montiert. Zufrieden warf der Staatsanwalt für Kapitaldelikte den Stapel Bierdeckel in den Papierkorb und ließ sich in seinen Bürostuhl zurückfallen.
«Und was verschafft mir die Ehre, dass mich die hübscheste Mordermittlerin Norddeutschlands in meiner Behausung besucht?»
Er faltete die Hände wie zum Gebet zusammen und sah Petersen mit einem offenen Lächeln an.
«Es geht um die Steinewerfer. Gestern Nacht haben sie, wie Sie wissen, wieder zugeschlagen. Wir gehen davon aus, dass .»
«Wieso weiß ich davon nichts?» Degert schnellte aus seinem Stuhl vor und scrollte hektisch in seinem Posteingang herum.
«Meine Kollegen haben heute Morgen versucht, Sie zu erreichen, und Ihnen den Sachverhalt rübergeschickt. Es ist aber zum Glück auch nichts passiert. Und trotzdem wollen wir .»
«Ah. Hier ist es», unterbrach er Petersen erneut. «Ich war den ganzen Tag in einer Verhandlung und musste anschließend der Presse Interviews geben und dann .»
«Dann mussten sie noch dringend etwas klauen gehen.»
«Genau.» Degert sah Petersen auffordernd an. «Na, dann fassen Sie mal zusammen: Die Kerle haben also wieder Steine auf die Autobahn geworfen?»
Degert beobachtete die Kommissarin, während sie ein Notizbuch aus ihrer Tasche holte. Die langen, schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht. Als sich Navideh Petersen wieder aufrichtete, zwirbelte sie ihre Haare mit einer ungeduldigen Bewegung in Sekundenschnelle am Hinterkopf zusammen und befestigte sie mit einer einzigen langen Spange, die sie aus ihrer Jackentasche gezogen hatte. Eine Strähne löste sich aus der Hochsteckfrisur und gab ihrem Gesicht einen weichen Zug.
Wieder einmal beneidete der Staatsanwalt Frank Steenhoff darum, dass dieser Tag für Tag mit Navideh Petersen zusammen in einem kleinen Büro des Polizeipräsidiums sitzen durfte. Die gebürtige Iranerin war eine der auffälligsten Frauen, die er je gesehen hatte. Dabei schien sich die Kommissarin aus ihrem Äußeren nicht viel zu machen. Degert kannte sie kaum anders als in Jeans und Lederjacke. Er fragte sich, was Steenhoffs Frau wohl darüber dachte, dass Petersen und ihr Mann so eng zusammenarbeiteten. Unwillkürlich fiel ihm seine krankhaft eifersüchtige Exfrau ein.
Simone hätte ihm die Hölle heißgemacht.
Jetzt kramte Petersen nach einem Stift in ihrer Tasche.
Ob die beiden jemals etwas miteinander hatten? Degert fragte sich das nicht zum ersten Mal. Es hieß, Petersen habe nach ihrer Scheidung mehrere Jahre mit einer Frau zusammengelebt. Dem Flurfunk im Polizeipräsidium zufolge hatte sie aber derzeit eine Beziehung zu einem Mann, der an einer amerikanischen Universität an der Ostküste Medizin studierte. Weit weg von Bremen! Degert hatte sich einmal nach dem Mann, den er insgeheim nur das Phantom nannte, bei Steenhoff erkundigt, aber der hatte nur einsilbig geantwortet. Offenbar blockte Steenhoff alle Fragen nach dem Privatleben seiner Kollegin kategorisch ab. Degert fand die Haltung so anständig wie bedauerlich.
«Ein Reisebus mit Jugendlichen aus Spanien ist in Höhe der Uni beworfen worden», unterbrach Petersen plötzlich seine Gedanken. «Der Stein verfehlte die rechte Seite des Busses nur um Haaresbreite.»
Degert presste die Lippen zusammen und zwang sich zur Konzentration. «Nachahmer? Bislang waren unsere Täter doch nur im Bremer Norden auf den Autobahnbrücken unterwegs.»
«Eher nicht. Es handelt sich um einen ganz ähnlichen Stein wie am vergangenen Wochenende.» Petersen stellte ihre Tasche auf den Boden und beschrieb mit ihren Händen den Umfang des Steins.
«Habt ihr den Brocken gewogen?»
«Ja, fast 40 Kilogramm.»
«Damit steht fest, dass es keine Kinder sind», sagte Degert bestimmt. «Dagegen spricht auch die Uhrzeit. War es diesmal wieder in den frühen Morgenstunden?»
Petersen nickte. «Um 4.30 Uhr.»
«Gegen die Theorie von irgendwelchen durchgeknallten Kids sprechen auch die weit auseinanderliegenden Örtlichkeiten», fuhr Degert fort. «Die Täter müssen ein Auto haben, in dem sie die Steine transportieren.»
«Zeugen haben kurz vor dem Zwischenfall wieder zwei dunkel gekleidete Menschen auf der Brücke gesehen», fügte Petersen hinzu.
Degert schüttelte den Kopf. «Das ist doch total krank....
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