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Frank Steenhoff fluchte leise.
Das Bild hing schief. Eindeutig. Vorsichtig schob er den gerahmten Druck von Emil Nolde an der linken Ecke ein paar Millimeter nach oben. Aber das Bild rutschte an der glatten Wand wieder zurück in seine alte Position. Hätte er doch den Rat seiner Frau Ira angenommen und neben Hammer und Nagel auch eine Wasserwaage mit ins Büro genommen. Nun hatte er den Salat. Drei Nägel prangten bereits in der neutapezierten und frischgestrichenen Wand. Steenhoff warf einen Blick zur Tür.
Sie war verschlossen.
Er hatte keine Lust, sich beim Einrichten seines neuen Büros auch noch den Spott der Kollegen zuzuziehen. Die wussten sowieso, dass seine Frau mit Bohrmaschine und Säge besser umzugehen verstand als er. Damals als der Doppelmord an dem jungen Pärchen Steenhoff und die gesamte Mordkommission Tag und Nacht in Atem gehalten hatte, hatte Ira die Umbauarbeiten an ihrem alten Bauernhaus einfach selbst in die Hand genommen.
Niemand hätte Ira zuvor für besonders handwerklich begabt gehalten; eine Frau, die in der ausgebauten Scheune des ehemaligen Resthofes Yoga, Meditation und Richtig-Fasten-Kurse anbieten wollte. Doch mit ihrer anpackend fröhlichen Art hatte sie sich von Woche zu Woche mehr zugetraut und schließlich sogar gemeinsam mit einem Nachbarn eine neue Trennwand im Haus hochgezogen und verputzt.
Statt froh zu sein, dass der zeitraubende Umbau des Hofes auch ohne ihn weiterging, hatte die Tatkraft seiner Frau Steenhoff gekränkt. Die aufgemauerte Wand sei schief, befand er, und die Tapeten seien unsauber aneinandergeklebt.
Ira hatte sich sein Genörgel nicht lange angehört. Statt wütend zu werden, griff sie auf «Sachbeweise» zurück, wie sie ihre Verteidigung ironisch bezeichnete. Ein Senklot bewies, dass die Wand gerade aufgemauert war, und ihr Nachbar, ein früh in Rente gegangener Malermeister, bescheinigte Ira, hervorragend gearbeitet zu haben. Schließlich hatte Steenhoff einfach akzeptiert, dass seine Frau handwerklich die Geschicktere war.
Der Druck von Nolde hing immer noch schief.
Steenhoff griff nach einem weiteren Nagel und schlug ihn einen halben Zentimeter höher als den mittleren in die Wand. Dann machte er sich daran, die zu tief angesetzten Nägel wieder herauszuziehen. Doch sie steckten so fest, dass er erst eine Weile an ihnen hin und her ruckeln musste.
Zwei Löcher verrieten, wo sie eben noch gesteckt hatten.
Auch nach dem dritten Versuch hing das Bild noch schief. Es waren nur ein paar Millimeter, aber Steenhoff wusste, es würde ihn jeden Morgen, wenn er das Büro betrat, stören.
Fluchend griff er zu einer Tube Sekundenkleber und versah die Rückseite des Gemäldes mit einem daumengroßen Klecks.
Im selben Moment klingelte das Telefon.
«Mist.»
Steenhoff widerstand dem Impuls, das Bild loszulassen, und zählte innerlich die Sekunden. Nach achtmal Klingeln, entschied er, müsste das Bild fest hängen. Als es das neunte Mal klingelte, riss er den Telefonhörer ans Ohr. «Frank Steenhoff?»
Zufrieden registrierte der 46-Jährige, dass Nolde kapituliert hatte. Das Bild hing einfach perfekt unter der kleinen Dachschräge.
«Papa, ich bin's.» Seine Tochter klang mitgenommen.
«Auf dem Hof ist etwas Furchtbares passiert.»
Steenhoff war sofort alarmiert. «Ist etwas mit Mama?»
«Nein, doch nicht auf unserem Hof», beruhigte ihn Marie.
«Auf der Jugendfarm, auf der ich donnerstags immer reite, hat gestern Nacht jemand vier Hühner und einen Hasen getötet. Das ist echt grausam, und Daniel meint, die Polizei würde nichts weiter tun.»
«Hm.»
Steenhoff wusste nicht recht, was er seiner Tochter Tröstendes sagen sollte. Es irritierte und freute ihn zugleich, dass Marie mit ihrem Kummer zuerst zu ihm kam. Sonst war immer Ira ihre engste Vertraute.
«Kannst du deinen Kollegen nicht sagen, sie sollen mit mehreren Leuten nach dem Täter suchen? Oder ihnen am besten ein bisschen dabei helfen?»
Steenhoff musste lachen.
«Für das tragische Schicksal von Hasen bin ich in dieser Stadt zum Glück noch nicht zuständig», sagte er und bereute seine flapsige Antwort sofort.
Für seine tierliebende Tochter war der gewaltsame Tod eines Hasen genauso verwerflich wie für andere der Mord an einem Menschen.
«Entschuldige, mein Schatz», sagte Steenhoff und versuchte den Faden zu seiner Tochter wiederaufzunehmen.
«Aber du kannst dich auf die Kollegen vom Revier verlassen. Die kennen ihre Pappenheimer in den Stadtteilen. Mach dir keine Sorgen. Den haben die bald.»
Doch Marie war nicht überzeugt. Beharrlich bestand sie darauf, dass seine Kollegen von der Schutzpolizei den «Tier-Mord» nicht ernst nahmen und ihn nur als Sachbeschädigung behandelten. Als sie das dritte Mal den Namen Daniel erwähnte, wurde Steenhoff hellhörig.
«Von wem sprichst du da eigentlich immer? Ist Daniel ein Schulkamerad von dir?»
«Nein, das ist nur der neue Zivi auf dem Hof», antwortete Marie knapp. Auf einmal schien sie es eilig zu haben. Bevor sich Steenhoff von seiner Tochter verabschiedete, verabredeten sie sich noch zum Englischlernen am Abend. Marie sollte am nächsten Morgen in der Schule eine Grammatikarbeit schreiben.
Steenhoff war an diesem Tag für die Mordbereitschaft eingeteilt. Als junger Kommissar hatte er die Bezeichnung für den Dienst geradezu absurd gefunden. Doch inzwischen benutzte er sie genauso selbstverständlich wie alle anderen auch.
Wann immer an diesem Tag irgendwo in Bremen ein toter Jogger oder eine alte Frau unter ungeklärten Umständen tot in ihrer Wohnung entdeckt werden würden, müsste er seine Umzugskisten stehen und liegen lassen und zum Einsatz fahren. Doch vielleicht, so hoffte Steenhoff, hatte er Glück und konnte sich vorher in seinem neuen Büro einrichten.
Vor zehn Jahren war Frank Steenhoff von der Schutzpolizei zur Bremer Mordkommission gewechselt. Zuvor hatte er noch einige Abteilungen als sogenannter Durchläufer bei der Kriminalpolizei kennengelernt, doch sofort gewusst, dass er zurück ins 1. Kommissariat für Kapitaldelikte wollte. So bedrückend die meisten Fälle auch waren, die Arbeit bei den Mordermittlern hatte ihn von Anfang an fasziniert. Dabei konnte er zu Beginn kein Blut sehen.
Er erinnerte sich genau an seine Zeit beim Kriminaldauerdienst Anfang der 90er Jahre. Damals war er nachts zu einer Messerstecherei zwischen zwei Dealern gerufen worden. Einer der beiden Nigerianer hatte seine Hand auf eine klaffende Bauchwunde gepresst und leise gestöhnt. Steenhoff konnte sich noch daran erinnern, dass er Erste Hilfe leisten wollte, ihm aber plötzlich schwarz vor Augen geworden war. Seine Kollegen mussten in dieser Nacht zwei Krankenwagen alarmieren. Einen für den jungen Dealer und einen für Steenhoff. Ein peinlicher Zwischenfall, der noch Jahre später auf Weihnachtsfeiern immer wieder gern erzählt wurde.
Steenhoff blickte auf die Umzugskisten zu seinen Füßen.
Seufzend machte er sich wieder an die Arbeit und räumte Akte für Akte in die leeren Schränke. Ein Schwelbrand in einem Büro des Kommissariats im zweiten Stock hatte vor drei Wochen nachts einen großen Bereich ihrer Etage verrußt. Die Feuerwehr hatte mit ihrem Löschwasser den Schaden noch vergrößert.
Steenhoffs Büro am Ende des Flurs, das er sich zuletzt mit den Kollegen Wessel und Moormann geteilt hatte, war dank der verschlossenen Tür unbeschädigt davongekommen. Doch um die rund 20 Brand- und Mordermittler des 1. Kommissariats nicht monatelang räumlich auseinanderzureißen, mussten nun alle ins ausgebaute Dachgeschoss umziehen.
Steenhoff sollte das Büro künftig mit einer neuen Kollegin teilen, die die Stelle eines verstorbenen Ermittlers übernehmen sollte. Umso wichtiger war es Steenhoff, das Zimmer schon einmal optisch mit Bildern und Pflanzen in Beschlag zu nehmen. All die Jahre war es ihm peinlich gewesen, wenn Besucher oder Zeugen in ihr Dreierzimmer kamen und der Blick sofort auf die überdimensionale Mickymaus an der Wand fiel. Sein Kollege Wessel, ein eingeschworener Comicfan, hatte im Laufe der Zeit auch noch Plakate von Goofy und Mickys Freundin Minniemaus aufgehängt.
Immer wieder hatten sie über Geschmack und Außendarstellung diskutiert. Doch der «Kinderkram», wie Steenhoff die Bilder seines Kollegen abfällig nannte, blieb an der Wand.
Schließlich hatte er sich damit getröstet, dass das Büro ja nicht sein Zuhause war. Tatsächlich wusste er aber nur zu gut, dass er während einer Mordermittlung mehr Zeit bei der Arbeit als bei seiner Familie verbrachte. Schließlich hatte er es irgendwann geschafft, die Comicbilder komplett zu ignorieren. Nun hatte er endlich sein eigenes Reich.
Am frühen Nachmittag hatte Steenhoff bis auf eine Kiste alle Unterlagen einsortiert. Die beiden Schreibtische in dem Büro standen sich nun schräg gegenüber und machten den kleinen Raum optisch etwas größer. Zuerst hatte Steenhoff seinen Tisch ans Fenster geschoben. Doch für die neue Kollegin wäre bei dieser Raumaufteilung nur der Blick auf eine Wand geblieben. Eine klare Benachteiligung, die Steenhoff sofort ins Auge stach. Nach einigen weiteren Versuchen hatte er sich dafür entschieden, die beiden Schreibtische einander gegenüberzustellen.
Ein wuchernder Benjamini trennte beide Tische optisch voneinander. So konnte er sich beim Telefonieren ungestört fühlen, dachte Steenhoff zufrieden.
Die ersten Märztage verbrachte Steenhoff damit, sich einen alten, ungelösten Fall noch einmal vorzunehmen. Vor drei Jahren war eine Rentnerin bei einem Einbruch im Bremer...