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Nilgün umklammerte den Riemen ihres Rucksackes. Die Chemiebücher wogen schwer. Aber sie spürte nicht, wie sich Nacken und Schultern durch das Gewicht langsam verhärteten. Ungeduldig starrte sie die Hauptstraße hinauf in die Richtung, aus der die Bahn kommen sollte.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Die Bahn hatte schon zwei Minuten Verspätung. Ein schlechtes Omen.
Nilgün atmete heftig aus. Unsinn! Jetzt fing sie schon genauso an wie ihre Tante, die überall böse Vorzeichen ausmachte und danach ihr Leben ausrichtete - und das ihrer Kinder. Selbst ihre Anne machte sich über die Tante lustig. Unwillig schob Nilgün den Gedanken an ihre Mutter weg. Jetzt nur nicht an Mama denken! Wenn die wüsste, wofür ihre Tochter sich nach einer qualvollen Woche entschieden hatte! Wenn sie nur eine Ahnung hätte, was sie an diesem Nachmittag vorhatte .
Ihre Anne würde weinen, schreien und die eigene Tochter im Haus einsperren. Nilgün verbot sich weiterzudenken. Nichts wäre mehr so wie früher. Nichts.
Die ahnungslose Mutter hatte Nilgün zum Abschied umarmt und ihr einen flüchtigen Kuss auf das halblange schwarze Haar gegeben. «Pass gut auf, meine kluge Tochter, pass gut auf dich auf.» Dann schickte sie Nilgün noch ein Lächeln hinterher und schloss die Tür.
Langsam war Nilgün die Treppe hinuntergegangen. Das Geländer war an vielen Stellen abgestoßen und zerkratzt. Die stumpfgelbe Tapete, die schon seit Jahren keinen frischen Anstrich mehr bekommen hatte, rollte sich an den Ecken auf. Vor den Eingangstüren der Nachbarn lagen Dutzende von Schuhen. Ein Dreirad, an dem eine Pedale fehlte, versperrte ihr den Weg. Genervt schob Nilgün es beiseite. Die Sonne, die durch das matte Fensterglas schien, wärmte das Treppenhaus. Aber Nilgün spürte die Wärme nicht. Die Stimme ihrer Mutter, in der so viel Stolz mitgeschwungen hatte, klang ihr noch in den Ohren.
Auch die Gespräche der Leute an der Straßenbahnhaltestelle drangen nur aus weiter Ferne zu ihr durch. Die Männer und Frauen warteten auf dieselbe Bahn, wohnten im selben Stadtteil und kauften im selben Supermarkt ein. Aber tatsächlich lebten sie auf einem anderen Planeten als Nilgün und ihre Familie. Nur gelegentlich, in der Schule oder auf der Arbeit, überschnitten sich die Umlaufbahnen. Danach kehrte jeder wieder zu sich nach Hause zurück. In sein eigenes Universum. Aber sie, Nilgün, kannte beide Leben. Das der Deutschen und das der Türken.
Wie jeden Montag traf sich die Chemie-AG nachmittags am Gymnasium. Diese Zeit bedeutete drei Stunden Freiheit für Nilgün. Ein Vorgeschmack auf das Leben, wie sie es später einmal führen wollte. Dann, wenn sie studieren und in einer anderen Stadt leben würde. Weit weg von ihrer Familie. Am besten im Osten, wo niemand sie kannte.
Die Bahn hielt direkt mit den Türen vor ihr. Nilgün fand einen Sitzplatz und lehnte den Kopf an das Fenster. Die schäbigen kleinen Reihenhäuser an der Straße glitten an ihr vorbei, aber sie beachtete die Umgebung nicht. Nilgün dachte an ihre Eltern, ihre Brüder, ihre Onkel und Tanten, die vielen Cousins und Cousinen. Heute Abend würde eine andere Nilgün nach Hause zurückkehren. Bei dem Gedanken daran schlug ihr Herz schneller. Es würde schwer werden. Der Vater würde toben. Aber was hatten ihre Eltern für eine Wahl? Letztlich müssten sie ihre Entscheidung akzeptieren.
Nilgün griff in ihre Jackentasche, holte das Handy heraus und schaltete es auf lautlos. Sobald sie in der Schule war, erwartete niemand aus der Familie, dass sie erreichbar war. Für drei Stunden durfte sie ihr Universum verlassen. Drei Stunden am Montag und ein Nachmittag zum gemeinsamen Lernen mit Freundinnen am Wochenende. Die Schule war ihre Insel. Unerreichbar für die anderen.
Schon immer hatte Nilgün Ausflüchte benutzt und Ausreden erfunden. Mal blitzschnelle Notlügen, mal ausgefeilte, verschlungene Geschichten. Sie war in ihnen zu Hause, so als gäbe es zwei Wirklichkeiten. Ihre eigene und die, die ihre Eltern hören wollten. Ein schlechtes Gewissen hatte sie deswegen nicht. Was sollte sie machen? Sie war ein Mädchen. Ein türkisches Mädchen.
Ihre älteren Brüder fragte niemand, wohin sie gingen oder wann sie wieder nach Hause kämen. Murat hatte sogar seit einem Vierteljahr eine deutsche Freundin. Natürlich würde er sie niemals heiraten. Sie war schließlich eine «Ungläubige». Aber die Freundin rief sogar manchmal bei ihnen zu Hause an und verlangte, Murat zu sprechen. Das erste Mal hatte der Vater den Mund zusammengepresst und das Telefon wortlos an seinen Ältesten weitergereicht. Murat tat so, als bemerke er den Widerwillen seines Vaters nicht. Er konnte es sich leisten. Er war der Erstgeborene. Dann kamen Osman, Nilgün und schließlich ihre kleine Schwester Saliha.
Nilgün war die Einzige aus ihrer früheren Grundschulklasse, die den Sprung auf eines der Bremer Innenstadt-Gymnasien schaffte. Und sie hatte nie Schwierigkeiten gehabt, sich gegen ihre deutschen Mitschüler zu behaupten.
Ihre Anne bewunderte sie dafür, wie sie sich durch die vielen Bücher in ihrem Zimmer «hindurchfraß». Ja, das war das Wort, das ihre Mutter immer benutzte: «Du frisst die vielen Wörter in dich hinein.» Sie selbst hatte erst in Deutschland lesen und schreiben gelernt. Ihr Vater hatte sie nie in die Schule geschickt. Denn es stand von Anfang an fest, dass sie mit 14 den fünf Jahre älteren Cousin Kemal heiraten würde. Und so war Nilgüns Mutter zu Hause geblieben, anstatt zur Schule zu gehen, und hatte sich auf ihre Pflichten als Ehefrau vorbereitet. Sie lernte kochen und das Feld bestellen und vor allem - gehorchen. Gehorsam, so meinte ihr Vater, lernte sie am besten zu Hause.
Aber Besma war wissbegierig. Eine Cousine brachte ihr am späten Nachmittag, wenn sie aus der Schule kam, während der Feldarbeit die ersten Buchstaben und das Rechnen bei. Heimlich natürlich.
Doch richtig schreiben lernte Nilgüns Mutter erst Jahre später in Deutschland.
«Großartig» hatte die Deutschlehrerin unter das erste fehlerfreie kleine Diktat geschrieben. Besma zeigte es den Kindern mittags voller Stolz und machte ihnen ohne viele Worte klar, dass sie sich Ähnliches von ihnen erhoffte. Besonders von ihren Mädchen, Nilgün und Saliha.
«Das Wissen wird euch schützen», wiederholte sie immer wieder. Nilgün fragte nie, was die Mutter damit meinte. Sie verstand auch so. Und sie wurde eine gute Schülerin. Die beste in ihrer Grundschulklasse. Und jetzt ging sie als Erste in der Familie aufs Gymnasium.
Noch immer spürte Nilgün den flüchtigen Kuss ihrer Mutter auf den Haaren. Sie hatte ihre Anne, wie sie die Mutter häufig auf Türkisch nannten, verraten. Ihren Vater, ihre Brüder, ihre kleine Schwester Saliha, aber vor allem die Mutter. Tränen stiegen in ihr hoch. Sie würde weiter lernen, jetzt erst recht.
Am Hauptbahnhof stieg Nilgün um. Sie musste nicht lange auf ihre Anschlussbahn warten. Minuten später kam sie zur Haltestelle ihrer Schule. Doch Nilgün blieb sitzen und fuhr an dem Gebäude vorbei. Die Chemie-AG würde heute ohne sie stattfinden. So wie seit einem Dreivierteljahr. Niemand würde ihr Fehlen bemerken, denn sie hatte sich nie in der Arbeitsgruppe angemeldet.
Zwei Stationen später stieg Nilgün aus. Sie schaute sich einmal flüchtig um und bog nach wenigen Metern von der Hauptstraße in eine gepflegte Wohnstraße ein. Kleine, liebevoll bepflanzte Grünstreifen trennten Radweg und Bürgersteig. Die großen Einfamilienhäuser stammten aus den Anfängen des vergangenen Jahrhunderts. In Nilgüns Augen glichen sie herrschaftlichen Wohnsitzen. Jedes Kind hatte ein eigenes Zimmer. Manche sogar ein eigenes Bad. Nilgün dagegen teilte sich ihr Zimmer mit Saliha. Bevor sie die Welt ihrer deutschen Mitschüler vom Gymnasium kennenlernte, hätte sie sich so viel Platz für ein einzelnes Kind nicht vorstellen können. Ihre türkischen Freundinnen schliefen alle mit ihren Geschwistern in einem Zimmer. Eine Bekannte hatte ihren Schlafplatz sogar jahrelang hinter einem Vorhang in einer Ecke des Wohnzimmers gehabt. Nilgün beneidete sie damals um diesen Platz, weil sie bis spätabends heimlich mit fernsehen konnte.
Nilgün ging an zwei Frauen vorbei, die von ihren Rädern abgestiegen waren und sich angeregt unterhielten. Die Straße machte einen kleinen Bogen, dann sah sie endlich die große Magnolie vor dem Hauseingang. Ihr Herz begann heftiger zu schlagen. Wie jeden Montag. Sie hatte eine SMS geschrieben, um ihr Kommen anzukündigen. Endlich würden sie reden können. Endlich könnte Nilgün ihre Gedanken und Ängste mit jemandem teilen. Hier war sie sicher.
Mit großen Schritten nahm sie die Sandsteintreppe und drückte auf die Klingel. Ungeduldig wartete sie darauf, dass sich jemand der Tür näherte. Doch im Haus blieb alles ruhig. Nilgün drückte erneut auf den Klingelknopf. Irgendwo im Haus wurde eine Tür geöffnet. Sie hörte, wie jemand aus der Küche über das Parkett auf die Haustür zuging.
Es war Montagnachmittag. Jetzt würde alles gut werden. Ein Strahlen legte sich auf Nilgüns Gesicht. Doch es erstarb, als die Tür mit einem Ruck aufging. Vor Verblüffung bekam Nilgün kein Wort heraus.
«Hallo. Schön, dich mal wieder zu sehen, Nilgün. Komm rein.»
Romans Vater sah sie mit einem offenen Lächeln an, deutete eine Verbeugung an und machte eine einladende Handbewegung.
Nilgün zögerte.
Sie sollte umkehren. Irgendetwas musste dazwischengekommen sein. Etwas Wichtiges. Noch nie in den vergangenen Monaten war ihre Verabredung am Montagnachmittag geplatzt. Es würde auch diesmal klappen. Sicher gab es nur eine kleine Verzögerung.
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