Schweitzer Fachinformationen
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Die schmale Straße auf dem Damm folgte den Windungen des gemächlich dahinströmenden Flusses. Die letzten Strahlen der Abendsonne legten einen bronzenen Schimmer über das moorig trübe Wasser aus den Entwässerungsgräben des alten Siedlungsgebietes.
Die Frau musste scharf abbremsen, als sie zu schnell mit ihrem Auto in eine Kurve ging und dabei einem entgegenkommenden Radfahrer gefährlich nah kam. Einen Moment lang geriet der Wagen ins Schleudern. Erschrocken versuchte sie gegenzusteuern und trat auf die Bremse. Die Reifen fraßen sich in die Grasnarbe am Fahrbahnrand, ihr Kopf ruckte nach vorn, der Wagen kam zum Stehen. Schwer atmend schaute die Frau in den Rückspiegel. Der Radfahrer hob seine Faust. Er rief etwas, aber sie verstand nicht, was, und hatte ihn vergessen, sobald sie den Blick wieder auf die Straße senkte. Langsam setzte sie ihre Fahrt fort. Nach wenigen hundert Metern erblickte sie in der Ferne die Dorfkirche auf ihrem alten künstlich aufgeschütteten Hügel. In den Wintern früherer Jahrhunderte, wenn die beiden Flüsse, die sich nicht weit von hier vereinigten, regelmäßig über die Ufer traten, hatte das kleine Dorf mit seiner Backsteinkirche oft wie eine Insel aus der Wasserlandschaft geragt. Sie hatte den Weg vom ersten Moment an geliebt. Schiefe, reetgedeckte Bauernhäuser schienen sich auf ihren Wurten hinter dem Deich gegen die Böen zu stemmen. Der Wind gehörte zu dieser Landschaft wie die hohen Weiden am Fluss. Rechts von der schmalen Straße türmten sich weiße Wolkengebirge über den abgemähten Wiesen auf. Hier wussten die Menschen, wohin sie gehörten, waren seit Generationen mit ihren Höfen verwachsen. Das Leben versprach ihnen hier am Rande der Moore keine großen Überraschungen, auch keine Reichtümer, aber es war verlässlich. Auf die Frau strahlten das kleine Dorf und seine Bewohner eine selbstverständliche Gelassenheit aus.
Doch heute war es anders. War alles anders.
Statt die innere Ruhe wahrzunehmen, die sich immer einstellte, sobald sie nur die Straße nach Wasserhorst einschlug, bebte sie am ganzen Körper. Selbst als sie das Lenkrad fest umklammerte, zitterten ihre Hände noch. Sie starrte geradeaus, aber statt der Wiesen und des flachen Deiches sah sie nur immer dieselbe Szene. Keine fünf Minuten hatte es gebraucht, und alles, worauf sie ihr Leben gegründet hatte, war zerstört. Sie schluchzte laut auf und suchte vergeblich in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch. Mit dem Ärmel wischte sie sich schließlich durchs Gesicht und kämpfte dagegen an loszuheulen.
Vor der Kirche bog sie auf die mit Kopfstein gepflasterte Dorfstraße ein und stellte ihren Wagen neben einem Mercedes ab. In dem Wagen saß ein älteres Ehepaar. Die beiden waren ins Gespräch vertieft und schienen sie nicht zu bemerken. Sie stieg aus und nahm die wenigen Stufen bis zu der offen stehenden Friedhofspforte. Wie immer steuerte sie die Holzbank gegenüber der Kirche an. Selbst zu dieser Zeit lag noch Sonnenlicht über der Bank.
Die Frau setzte sich, nahm eine gerade, aufrechte Haltung ein und schloss die Augen. Sie legte ihre zitternden Hände auf den Bauch und versuchte, ihrer Atmung nachzuspüren. Vergeblich bemühte sie sich, genauso lange ein- wie auszuatmen und die Bilder in sich abzurufen, die ihr sonst immer so guttaten. Doch die Dunkelheit in ihr breitete sich unaufhaltsam aus. Tatsächlich fühlte sie sich seit ein paar Stunden wie eine Ertrinkende. Unwillkürlich stöhnte sie auf, erschrak über den heftigen Laut, der aus ihrer Brust drang, und öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf die Kirche, an deren Seitenschiff die Friedhofsbesucher ihre Handschaufeln, Gießkannen und Harken aufgehängt hatten. Eine Saatkrähe kam mit lautem Krächzen vom Turm geflogen, setzte sich auf einen der schief stehenden Grabsteine ihr gegenüber und beäugte die Frau misstrauisch. Als die Frau die Hand hob, um sich eine Träne von der Wange zu wischen, erhob sich die Krähe und flog in das Geäst einer mächtigen Eiche beim Denkmal. Es war die einzige Ecke des kleinen Friedhofes, die die Frau bei ihren regelmäßigen Besuchen bewusst mied. Laubwerk der mehrere hundert Jahre alten Eiche beschattete den Platz um den klotzigen Stein mit den Namen der gefallenen Söhne von Wasserhorst. Manche Nachnamen waren gleich mehrfach eingemeißelt. Beim ersten Mal hatte sie jeden einzelnen gelesen. Jung waren die meisten gewesen. Keine zwanzig Jahre alt. Die kleine Gemeinde hatte einen hohen Blutzoll im Ersten Weltkrieg gezahlt. Als sie das erste Mal vor dem Stein gestanden hatte, war ihr unwillkürlich der Gedanke gekommen, wie sehr ihn die Mütter von Wasserhorst gehasst und zugleich gefürchtet haben mussten. Die Namen bezeugten, dass es ihre Söhne und Männer nicht mehr gab. Stattdessen lagen ihre Leiber irgendwo verscharrt, ohne Kreuz und Andenken. Sie schüttelte den Gedanken an die Toten ab. Sie hatte ihr eigenes Leid. Nie hätte sie gedacht, dass ihre Existenz so brüchig sein könnte.
Wieder versuchte sie, sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Doch diesmal riss das Quietschen der eisernen Friedhofspforte sie aus ihrer Übung. Das ältere Paar steuerte die Sammlung von Gartengeräten an der Kirchenmauer an, nahm sich Gießkanne und Schaufel und kam auf ihre Bank zu. Die Frau fühlte, wie neugierige Blicke auf ihr ruhten. Ungeduldig sprang sie auf und lief, ohne den Gruß der beiden Alten zu erwidern, über den geharkten Weg, riss die Pforte auf und eilte die Dorfstraße hinunter. Plötzlich überwältigte die Erinnerung an das Geschehene sie. Tränen schossen ihr in die Augen. Ich brauche Ruhe, Ruhe, Ruhe, dachte sie verzweifelt. Sie musste nachdenken, musste dringend Entscheidungen treffen. Es gab nur einen Ort in Bremen, an dem sie loslassen und wieder zu sich finden könnte. Ein Ort, den niemand kannte, der nur ihr gehörte.
Sie erreichte das kleine Café, das in einem früheren Bauernhaus an der Straße untergebracht war. Mittlerweile war die Sonne hinter dunklen Wolken verschwunden. Die Kellnerin sammelte hastig die Sitzkissen von den Stühlen ein. Im Vorbeieilen bemerkte die Frau, wie der hohe Stapel im Arm der Kellnerin plötzlich ins Rutschen kam und in eine Pfütze fiel. Der Wind trug den Fluch der Kellnerin zu ihr herüber. Ohne Zögern bog sie kurz darauf von der Dorfstraße in einen schmalen Feldweg ein.
Die Frau passierte eine hohe Weide, an der vor langer Zeit jemand ein Metallschild aufgehängt hatte. Es war verwittert, doch die Schrift war noch lesbar: «Betreten der Ländereien verboten! Lebensgefahr!» Bei jedem ihrer Besuche auf der Halbinsel hatte sie sich gefragt, von wann das Schild war und wovor die wenigen Spaziergänger, die es hierher verschlagen haben mochte, damals gewarnt wurden. Sie kannte keinen friedlicheren Ort in Norddeutschland als diese von der Zeit vergessene Landschaft am Rande Bremens. Wie zur Bestätigung meldete sich ein Kuckuck, der irgendwo in der dicht mit Schilf und alten Weiden bewachsenen Uferböschung hockte. Sie war gut eine Viertelstunde gegangen, als sie die Stelle der Halbinsel erreichte, wo sich die beiden Flüsse Wümme und Hamme zur Lesum vereinigten. Die wenigen reetgedeckten Häuser, die über den Deich ragten, lagen weit zurück. Erleichtert stellte sie fest, dass sie, wie immer, allein war. An einer Birke stieg sie den kleinen Damm hoch, der die Wiesen vor Hochwasser schützte, blickte sich noch ein letztes Mal um und trat auf einen kaum sichtbaren Pfad zwischen dem mannshohen Schilf.
Nach wenigen Metern erreichte sie einen abgestorbenen Baum, dessen weißer Stamm und tote Äste gespenstisch in den Himmel ragten. Sie umrundete ihn vorsichtig, um nicht im Morast zu versinken. Jeder Schritt des verborgenen Pfades war ihr bekannt, war sie ihn in der Vergangenheit doch oft gegangen. Sie stutzte. An einigen Stellen war das Gras heruntergedrückt. Sie überlegte, ob es ein Fuchs oder vielleicht sogar ein Wildschwein gewesen sein könnte, doch ein Vogel, der aus einem Gebüsch vor ihr aufflog, riss sie aus den Gedanken. Dann war sie endlich am Ziel. Unter den tiefhängenden Ästen einer Erle lag, knapp zwei Handbreit erhöht, ein trockenes, verborgenes Plätzchen. In einer Astgabel der Erle hatte sie die zusammengerollte Hälfte einer Isomatte verstaut. Als sie sie auf dem Boden ausrollte, passte das Stück Schaumstoff gerade auf die schmale Erhebung. Von hier aus konnte sie auf den Fluss zu ihren Füßen sehen. Kamen Kanuten oder Angler in ihren Motorbooten vorbei, konnte sie die Menschen beobachten, ohne selbst bemerkt zu werden. Beugte sie sich ein Stück tiefer, konnte sie das gegenüberliegende Ufer und die menschenleeren Niederungen dahinter sehen. Hier kam sie zur Ruhe, wie erschöpft oder niedergeschlagen sie sich auch fühlte. Bevor sie anfing, nahm sie ihre Uhr ab und die silberne Kette, die sie immer um den Hals trug, und hängte beides über ein Ästchen einer Moorbirke direkt neben einem Busch mit blühendem Blutweiderich. Den Ehering legte sie auf einen flachen Stein neben sich. Dann schloss sie die Augen. Ganz in der Nähe rief ein Fasan. Rechts von ihr raschelte sanft das Schilf im Wind. Sie spürte die Kraft, die von diesem Ort ausging. Mit jeder Minute, die sie eins wurde mit ihrer Umgebung, konnte sie ihren Atem besser fließen lassen. Sie probierte, das Wasser zu hören, zu fühlen, wie es dunkel an die Uferkante zu ihren Füßen schwappte und weiterfloss. Ihre Sinne nahmen die Kühle wahr, die aus dem dicht bewachsenen Ufersaum zu ihr heraufkroch, die Bewegungen der Tiere, die sich darin verborgen hielten. Als sie Teil des Windes, der feuchten, modrigen Luft, der Gräser und Büsche um sie herum wurde, verschwand endlich auch das Zittern, das sie am Nachmittag von einer Minute auf die andere angefallen hatte. Tiefe Ruhe füllte sie aus. Plötzlich wusste...
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