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Ungläubig starrte Frank Steenhoff in die Kaffeedose neben seinem Schreibtisch. Leer. Dabei hatte er sie erst vor einer Woche aufgefüllt. Vermutlich hatten sich in seiner Abwesenheit wieder seine Kollegen aus dem Nachbarzimmer bedient. Jetzt konnte er sehen, woher er um diese Uhrzeit eine Tasse Kaffee bekam.
Genervt riss Steenhoff die Schreibtischschubladen auf. Vielleicht hatte er noch irgendwo ein Glas Instantkaffee stehen. Doch er fand nur eine halbe Tafel Schokolade und eine Packung Brühwürfel. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch gegenüber. Vielleicht hatte er dort Glück.
Steenhoff zog gerade die unterste Schublade auf, als die Bürotür aufging. Eine schlanke junge Frau schaute ihn verwundert an. «Kann ich dir irgendwie behilflich sein?»
Die Stimme klang freundlich, aber Steenhoff sah, wie die feingeschwungene linke Augenbraue der Frau sich um ein paar Millimeter nach oben zog.
Peinlich berührt seufzte Steenhoff. «Entschuldige, Navideh, dass ich in deinem Schreibtisch rumwühle. Mein Kaffee ist alle. Und ich dachte, du hättest vielleicht noch irgendwo ein Depot für alle Fälle.»
Navideh sah ihn spöttisch an. «Und so was schimpft sich Kriminalist. Seit einem Jahr sitzen wir zusammen, und du weißt immer noch nicht, dass ich nur Tee trinke. Deine Beobachtungsgabe sparst du dir wohl für unsere Kundschaft auf?»
Steenhoff wollte etwas erwidern, schluckte die Antwort aber hinunter. Tatsächlich hatte er bislang über keinen seiner Kollegen in der Mordkommission so viel nachgedacht wie über Navideh Petersen. Navideh war gebürtige Perserin und als Kind mit ihrer Familie vor dem Mullah-Regime nach Deutschland geflüchtet. Mit 19 hatte sie einen Bremer Jurastudenten geheiratet, um der Enge ihrer Familie zu entfliehen. Doch nach wenigen Jahren ließ sie sich wieder scheiden. Den deutschen Nachnamen ihres Exmannes behielt sie, aber das Interesse an Männern hatte sie ganz offensichtlich verloren. Seit vier Jahren lebte sie mit einer Frau zusammen. Die Tatsache, dass die hübsche Kollegin von Männern nichts wissen wollte, schien manchen Ermittler aus dem 1. Kommissariat zu reizen. Doch Petersen ging auf keinen der vielen Flirtversuche ein und blieb immer eine Spur distanziert. Steenhoff hatte sich an dem Balzgehabe nie beteiligt. Vielleicht war das der Grund, warum Navideh das Büro gern mit ihm teilte. Sie waren in der Vergangenheit schon oft aneinandergeraten, aber er schätzte ihre hellwache, engagierte Art, an einen Fall heranzugehen, und ihre Verlässlichkeit.
Vor einem Jahr hatten sie wochenlang einen sadistischen Serienmörder gejagt. Die dramatische Festnahme des Täters hätte Steenhoff wohl kaum unverletzt überstanden, wenn Navideh Petersen nicht darauf bestanden hätte, ihn in der Nacht auf die Jugendfarm zu begleiten. Er schob die Gedanken an den Fall beiseite. Immer wieder kam die Erinnerung an die grausigen Details hoch. Wahrscheinlich lag es daran, dass seine Tochter Marie damals . Nein. Verdammt. Er wollte nicht mehr daran denken. Nicht jetzt. Am besten gar nicht mehr.
Steenhoff spürte, wie Petersen ihn musterte.
«Du wirkst ja völlig verloren, ohne deinen Kaffee.»
Navideh schloss die Tür hinter sich, zog ihre braune Lederjacke aus und warf sie über ihren Stuhl. «Ich werde uns jetzt einen persischen Tee aufbrühen, der uns durch die Nacht bringt.»
Kurz darauf kam Petersen mit dem Wasserkocher ins Büro zurück. Sie gab eine Handvoll Teeblätter und ein paar Kräuter in ihre silberne Kanne, die sie extra von zu Hause mitgebracht hatte, und goss das Wasser in hohem Bogen aus dem Kocher in das Gefäß. Interessiert beobachtete Steenhoff ihre Handgriffe, die in ihrer Konzentriertheit an ein altes Ritual erinnerten. Petersen hatte ihm den Rücken zugedreht, während sie mit dem Tee beschäftigt war. Das eng anliegende T-Shirt und die Jeans betonten ihre sportliche Figur. Er zwang sich, wieder in seine Akten zu schauen, und seufzte unbewusst. Petersen, die es gehört hatte, reagierte prompt. «Der Tee ist ja gleich fertig. Nur noch zwei, drei Minuten, und er hat genug gezogen.»
Sie holte sich eine Akte aus dem Schrank und schien gezielt eine Passage zu suchen. Nach ein paar Minuten unterbrach sie ihr Aktenstudium und stellte Steenhoff eine Tasse auf den Schreibtisch.
«Danke», sagte er. Ein zarter Duft von Minze stieg ihm in die Nase. Unwillig nippte er an dem heißen Getränk. Er wollte Kaffee und keinen Tee. Wer auch immer so unverschämt gewesen war, seinen Kaffee auszutrinken, würde morgen von ihm ein paar Takte zu hören kriegen. Demonstrativ schaute er auf die Uhr. «Sag mal, Navideh, weißt du eigentlich, wie spät es ist?»
«20 Uhr. Aber soviel ich sehe, bist du ja auch noch hier.»
«Ich habe Mordbereitschaft und gehe um 22 Uhr nach Hause», sagte Steenhoff bestimmt.
«Dann bin ich hier auch weg», kündigte Petersen an. «Aber mir kam zu Hause ein Gedanke zu unseren Raubüberfällen, und Vanessa ist für zwei Tage zu ihren Eltern gefahren. Da bin ich noch mal zurück ins Büro.»
Interessiert schaute Steenhoff sie an. «Was für ein Gedanke?»
«Gleich. Lass mich erst die Stelle in der Akte finden. Dann erzähl ich es dir.» Langsam blätterte Petersen das letzte Drittel der Seiten durch.
Seit drei Wochen saßen sie an einer ungewöhnlichen Raubserie. Eigentlich kein Fall für die Mordermittler. Doch die näheren Umstände deuteten darauf hin, dass die Täter für ein paar Euro notfalls auch töten würden. Zwei schwerverletzte Menschen an fünf Tatorten gingen bereits auf ihr Konto. Steenhoff zweifelte nicht daran, dass die Männer zu allem bereit waren.
Das Duo ging immer nach demselben Schema vor. Sie hatten es auf die Filialen einer großen Drogeriekette abgesehen. Die Bedingungen waren günstig. Nachmittags, wenn die angelieferte Ware schon in die Regale verteilt war, hielt sich oft nur eine Verkäuferin in der Filiale auf. Und obwohl die Drogerien fast alle an Hauptverkehrsstraßen mit viel Laufkundschaft lagen, riskierten es die beiden Räuber, die Geschäfte am helllichten Tag auszurauben. Einer von ihnen ging hinein, spähte den Tatort aus und gab vermutlich per Handy das Signal, wann sein Komplize das Geschäft betreten sollte. Der Maskierte verschenkte keine Sekunde. Mit ein paar Schritten war er bei der Verkäuferin, richtete seinen Revolver auf ihren Kopf und sagte nur drei Worte: «Geld! Los, los!»
Der bislang letzte Überfall fand im früheren Arbeiterviertel Gröpelingen statt. Die 24-jährige Verkäuferin konnte sich vor Angst kaum rühren. Während einer der Männer die Scheine in eine Tüte packte, fing sie plötzlich an, hysterisch zu schreien. Der Bewaffnete reagierte sofort. Unter einem massiven Schlag mit dem Revolverknauf sackte die Frau blutüberströmt zusammen. Ohne sich um das Opfer zu kümmern, sammelten die Männer das Kleingeld ein und verließen ruhig und unmaskiert das Geschäft. Am Eingang liefen sie einem sechsjährigen Jungen in die Arme. Das Kind fand das besinnungslose Opfer und rannte weinend zum Gemüsegeschäft seiner Mutter.
Sieben Minuten später hielt der Notarztwagen vor der Drogerie, kurz darauf auch der Streifenwagen. Da der kleine Junge noch immer unter Schock stand und keine Personenbeschreibung abgeben konnte, blieb die Fahndung nach den Männern erfolglos. Zehn Tage zuvor hatte es eine Filiale im Süden Bremens, in Kattenturm, getroffen. Doch da hatten sich die Täter verrechnet. Die Angestellte war nicht allein. In einem kleinen Raum im hinteren Teil des Ladens ging der zuständige Bezirksleiter stichprobenartig die Umsätze der vergangenen Wochen durch.
Matthias Schomek hatte einen Verdacht, als er an diesem Montagnachmittag die Ausdrucke mit den Umsätzen des Geschäftes an der Kattenturmer Heerstraße mit denen aus Filialen in der näheren Umgebung verglich. Tatsächlich waren die Umsätze seit rund sechs Wochen stetig rückläufig. Er sah durch die Glastür und beobachtete Ingeborg Clausen, wie sie Spülmittel in die Regale räumte. Eine Kundin sprach die Verkäuferin an und wurde unwirsch abgefertigt. Ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, zeigte Ingeborg Clausen nur kurz hinter sich. Matthias Schomek sah, wie die Kundin wütend in die angegebene Richtung ging und konzentriert ein Regal von oben bis unten mit den Augen absuchte. Schließlich zuckte sie hilflos mit den Achseln und rief der Verkäuferin etwas zu. Empört registrierte der Bezirksleiter, dass seine Mitarbeiterin auch jetzt nicht ihre Arbeit unterbrach. Am liebsten wäre er in den Verkaufsraum gegangen und hätte der Kundin persönlich geholfen. Aber es war nicht sein Stil, die Verkäuferinnen vor den Kunden zu maßregeln. Und mit Ingeborg Clausen würde er sowieso ein ernstes Wort zu reden haben.
Die Zahlenreihen verrieten Schomek, dass die Geschäfte seit Ingeborg Clausens Einstellung deutlich schlechter liefen. Er selber hatte ihr vor mehreren anderen Bewerberinnen den Vorzug gegeben. Ihre zupackende Art hatte ihm gefallen. Aber sie schien wenig Gespür im Umgang mit Kunden zu haben.
Ein Rumpeln ließ Schomek hochschrecken. Fassungslos sah er, wie ein maskierter Mann mehrere Packungen Kaffee vom obersten Regal hinunterstieß. Drohend hielt er eine Waffe auf Ingeborg Clausen gerichtet. Doch die ließ sich nicht einschüchtern. «Verpiss dich! Bei mir zieht die Masche nicht!», schrie sie. Ein zweiter Mann tauchte auf. Auch er war maskiert. Seine Faust traf Ingeborg Clausen unterhalb des linken Auges. Die Verkäuferin taumelte rückwärts und versuchte vergeblich, sich an einem Regal festzuhalten.
Mit einem Ruck riss Matthias Schomek die Tür zum Verkaufsraum auf. Der Bewaffnete wirbelte herum. Noch immer war der...