Schweitzer Fachinformationen
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»Und? Was haben wir?«
Der schmächtige Kriminalbeamte richtete sich auf, knickte seinen Notizblock zusammen und legte die hohe Stirn in Falten. Ausdruckslos musterte er den großen, massigen Mann, der sich vor ihm aufgebaut hatte und ihn auffordernd musterte. »Guten Morgen, Chef.«
»Jaja! Moin, Kramer. Und? Was ist nun?« Frühmorgens um 5.30 Uhr, unausgeschlafen und ohne Frühstück im Bauch. Hauptkommissar Stahnke klang genauso, wie er sich fühlte.
Der schmale Mann zuckte die Achseln. »Unklar. Heute Nacht um 2.45 Uhr hat ein junger Mann über den Notruf Schreie und laute Geräusche am Containerterminal gemeldet. Eine Funkstreife war ganz in der Nähe und traf wenige Minuten später hier ein, konnte aber zunächst nichts entdecken. Vor allem keinerlei Personen auf dem Gelände.« Kramer referierte auswendig, ohne seine Notizen eines Blickes zu würdigen. »Danach haben sich die beiden Kollegen erst einmal den Anrufer vorgenommen.«
»Was ist das denn überhaupt für einer? Einsamer, verirrter Zecher mit Hang zu rosa Elefanten?« Stahnke blinzelte in die Sonne, die sich bereits über den Horizont gewagt hatte. Immerhin war Juli, die Tage waren lang, und sie waren heiß. Vermutlich wieder ein Jahrhundertsommer, hieß es. Den letzten hatte es erst vor drei Jahren gegeben. Ziemlich kurz, diese Jahrhunderte im Zeitalter des Klimawandels.
»Weder noch.« Kramer quittierte den schlappen Scherz seines Vorgesetzten nicht einmal mit dem Zucken eines Mundwinkels. Das tat er nie. »Bei dem Anrufer handelt es sich um den männlichen Teil eines gemischtgeschlechtlichen Pärchens. Er war einigermaßen nüchtern und scheint sich seiner Sache recht sicher zu sein. 22 Jahre, Marinesoldat, gehört zur Besatzung eines Schnellbootes, das zur Reparatur hier im Hafen liegt. Na ja, und an Bord konnten die beiden ja nun schlecht . Immerhin war es eine laue Nacht, nicht wahr, so was bringt einen auf Ideen, und hier im Bereich des Binnenhafens ist um diese Zeit gewöhnlich nicht allzu viel los.«
Wohl wahr. Die Boomzeit des Emder Hafens war schon eine Weile her. Der Erzumschlag war wegen der nachlassenden Nachfrage, des schwierigen Emsfahrwassers und der niederländischen Konkurrenz praktisch zum Erliegen gekommen. Ohne die Autoverladung am VW-Kai im Außenhafen wäre hier jahrelang fast überhaupt nichts mehr gelaufen. Inzwischen ging es zwar wieder aufwärts, das alte Niveau aber war noch weit entfernt. Immerhin bemühte sich die Emder Hafenwirtschaft um Anschluss an die aktuelle Entwicklung. Zum Beispiel in Sachen Marineschiffbau. Und Windkraftanlagen. Und Container.
»Dann fühlten sich die jungen Leute also in ihrer Zweisamkeit gestört?«, vermutete Stahnke. »Frechheit aber auch. Oder hatten die beiden etwa schon selber ein Feuerwerk entzündet?«
Kramer hob die Augenbrauen: »Wie bitte?«
»Nichts. Vergessen Sie's.« Stahnke winkte ab. »Und kommen Sie vor allem mal auf den Punkt. Denn wenn alles nur ein Hirngespinst wäre, stünden wir jetzt ja wohl nicht hier.«
»Nein. Vielmehr ja, richtig. Ein Hirngespinst war es wirklich nicht.« Kramer wies auf einen mattrot gestrichenen, rostigen und schon ein wenig verbeulten Container, den untersten eines hohen Stapels. »Wir haben Blutspuren gefunden. Dort, etwa in Kopfhöhe, und dann auch am Boden. Eine richtige Blutspur. Als ob ein Verletzter hier entlanggelaufen wäre.«
»Von wo nach wo? Und wo ist er jetzt?«
»Das wissen wir noch nicht. Die Kollegen sind ja noch an der Arbeit.« Kramer wies auf die Kriminaltechniker, die in ihren dünnen, weißen Kapuzenoveralls auf dem Gelände herumstapften wie Astronauten auf dem Mond. Einem Mond voller Container.
»Unklar ist auch, ob es einen Kampf gegeben hat. Oder ob gar geschossen worden ist. Vielleicht war es ja auch nur ein Unfall mit Personenschaden.«
»Vielleicht.« Stahnke seufzte, stemmte die Hände in die Nierengegend und streckte das Kreuz. Sein Rücken schmerzte, und er begann zu wippen und zu trippeln, um die verspannte Muskulatur zu lockern. Der Gedanke, womöglich für einen schnöden Unfall aus dem bei dieser Hitze ohnehin sehr knappen Nachtschlaf gerissen worden und fast 30 Kilometer weit gefahren zu sein, setzte seiner Laune weiter zu. Wenn schon, dann sollte es wenigstens ein richtiger Fall sein. Darauf hatte er doch wohl moralisch wie dienstgradmäßig Anspruch.
Nachdenklich blickte er sich um. Die Umgebung war ihm, mal abgesehen von den Containerstapeln in seinem Rücken, sehr vertraut. In Emden geboren und aufgewachsen, hatte er sich oft in der Hafengegend herumgetrieben. Zum Entsetzen seiner überängstlichen Mutter ebenso wie zur stillen Freude seines Vaters, der selber eine Vorliebe für alles Maritime gehabt hatte. Die Große Seeschleuse, deren inneres Tor direkt gegenüber auf der anderen Seite des Neuen Binnenhafens zu erkennen war, die Liegeplätze der Bugsierschlepper rechts davon, daneben die Jachtanleger, dort, wo früher die Festmacherboote in Lauerstellung gelegen hatten - das waren geradezu Plätze seiner Jugend. Links vom Schleusenhöft lag jetzt ein Dreimaster, ein Restaurantschiff; dann kam der Erzkai, früher das Herz des Hafenumschlags, heute weitgehend verwaist. Nur noch drei der hochbeinigen Verladebrücken waren übrig, die restlichen hatte man mangels Auslastung demontiert. Dahinter, schon jenseits des Emsdeichs, ragte eine gigantische Fünf-Megawatt-Windkraftanlage empor, ein Versuchsmodell für den Offshorebetrieb. So etwas hatte es damals natürlich noch nicht gegeben.
Ach ja, damals. Da hatte er natürlich Kapitän werden wollen, was denn auch sonst, aber dann hatten sich die Dinge doch anders entwickelt. Na, immerhin hatte er zwischenzeitlich schon einmal rund um die Seeschleuse ermittelt. Erfolgreich. Vielleicht ein gutes Omen.
Unter seiner linken Schuhsohle knirschte es leise. Stahnke erstarrte in der Bewegung. Die größte Gefahr für eine Spur am Tatort war ein unvorsichtiger Polizist, das wusste er, und deshalb hatte er sich auch gehütet, irgendetwas anzufassen. Aber auch mit den Füßen konnte man Schaden anrichten.
Er drehte sich leicht in der Hüfte und peilte an seinem Bein entlang nach unten. Da lag tatsächlich etwas. Schien aus Metall zu sein. Und aus Glas, denn es blitzte auf in den Sonnenstrahlen, die soeben zwischen den aufgetürmten Containern hindurch ihren Weg bis auf das Betonpflaster des Stellplatzes gefunden hatten. Das Ding sah aus wie .
»Eine Brille«, sagte Kramer.
Als er sich bückte, hatte er Latexhandschuhe an und eine Plastiktüte in der Hand. Kramer tat immer das Richtige und war immer auf alles vorbereitet. Unheimlich. Geradezu unmenschlich, fand Stahnke. Vermutlich deshalb siezte er seinen Kollegen nach all den Jahren der Zusammenarbeit immer noch.
»Zum Glück stehen Sie nur auf einem der Bügel. Wenn Sie vielleicht mal eben das Bein heben könnten?«
Stahnke trat einen Schritt zur Seite. Tatsächlich eine Brille. Dort, wo sie lag, hatte sich ein Büschel Gras durch einen Spalt im Beton ans Licht gezwängt. Gerade genügend Halme, um das Metallgestell und die beiden ovalen Gläser vor seinen Blicken zu verbergen. Und vor denen der Kriminaltechniker auch. Das tröstete ihn ein wenig.
Das Brillengestell glänzte silbrig. Es war ein bisschen zu flott gestylt, um intellektuell auszusehen. Und es kam Stahnke vage bekannt vor. Vermutlich ein gängiges Modell, das er schon einmal in der Werbung gesehen hatte.
Einer der Overallträger näherte sich. Der Hauptkommissar kannte ihn nicht. Seine und Kramers Abordnung von Leer nach Emden war erst ein paar Tage her, zu kurz, als dass er bereits jeden in seiner neuen Dienststelle kennen konnte. Zudem war es eine Abordnung auf Zeit, da lohnte es sich wahrscheinlich gar nicht, sich jedes einzelne Gesicht dauerhaft einzuprägen.
Ein Lächeln aber konnte wohl nicht schaden. »Moin. Na, wie sieht's aus?«
»Moin.« Der Overallträger war ebenso groß wie Stahnke; die untere Hälfte seines Gesichts war hinter einem dunklen, kurz gestutzten Vollbart verborgen. In seiner behandschuhten Rechten hielt er einen Kugelschreiber, an dem ein Schlüsselbund baumelte. »Wir sind der Blutspur gefolgt. In beide Richtungen. Sie führt zu einem Pkw, der außerhalb des Terminalgeländes abgestellt ist. VW Polo, dunkelblau, Oldenburger Kennzeichen. Unverschlossen. Zündschlüssel steckt.«
»Irgendwelche Schäden am Fahrzeug, die auf einen Unfall hindeuten?«
Der Bärtige schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es gibt Blutspuren am Türgriff auf der Fahrerseite. Dem Augenschein nach auch im Inneren. Bei unserem Verletzten dürfte es sich also wohl eher um den Fahrer gehandelt haben.«
Stahnke fuhr sich mit der Hand durch die weißblonden, stoppelkurz geschnittenen Haare. »Und er kam bereits blutend hier an.« Das klang merkwürdig, hütete er sich, diesen Gedanken auszusprechen. Manche Fakten wirkten für sich genommen genauso sinnlos wie umherliegende Kettenglieder. Wenn man aber erst die ganze Kette kannte, war plötzlich alles völlig logisch. Also bloß nicht zu früh mit dem Bewerten anfangen.
»Und das da? Noch mehr Schlüssel?« Er deutete auf die rechte Hand des Overallträgers.
»Ja. Haben wir dort drüben gefunden, im Verlauf der Blutspur. Könnte also dem Opfer gehört haben.«
»Oder dem Täter.« Stahnke stöhnte innerlich auf. Offenbar konnte er es einfach nicht lassen.
»Wohin führt denn die Blutspur?«, schaltete sich Kramer ein.
»Na, zum Auto«, sagte der Bärtige. »Hab ich doch gerade .« Er stutzte, als er Kramers nachsichtigen Blick bemerkte. »Ach so, Sie meinen die andere Richtung. Zum...
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