Schweitzer Fachinformationen
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Es juckte Schäng Deneffe an der Nasenwurzel, aber wann immer er nach der Augenbinde tastete, kicherte Gina an seiner Seite und klopfte ihm zärtlich auf die Finger. »Überraschung, Liebchen«, piepste sie. »Du sollst nicht so neu-po-pei-gierig-po-pierig sein!« Bei jeder Silbe stupste sie ihm mit dem Finger auf die Nasenspitze.
Sie hatten seinen Sechzigsten im »Knipp« gefeiert. Das »Knipp« war immer gut. Da feierten alle, die in Aachen was auf sich hielten. Die Brüder Ramrath hatten ihm, Gina und den anderen acht ein köstliches Menü serviert. Danach hatte Gina darauf bestanden, in diesen riesigen Tanzschuppen beim Tivoli zu fahren. Schäng fühlte sich schon den ganzen Tag über irgendwie komisch. Sechzig wurde man Gott sei Dank nur einmal im Leben. In dem Club war nur junges Gemüse gewesen, da war er sich gleich noch mal doppelt so alt vorgekommen. Gina und die anderen hatten ein bisschen getanzt, und er hatte sich an einem sausüßen Cocktail festgehalten.
Theo und die Jungs waren schon am Morgen bei ihm aufgekreuzt und hatten gratuliert. Sie hatten offenbar zusammengelegt und ihm eine Rolex Oyster Perpetual geschenkt. Das hatte ihn sehr gerührt. Bestimmt hatte Theo das organisiert. Kostete um die vierzehn Mille. Gleichmäßig durch sieben geteilt hätten die das nie hingekriegt. Die Jungs waren fleißig und verlässlich, hatten aber nur Mus im Kopf. Von Theo hatte er ein Gemälde von irgendeinem bekloppten Künstler aus Düsseldorf gekriegt. Konnte man nix drauf erkennen, passte aber farblich zur Sitzgruppe. Und Gina hatte ihn auf heute Nacht vertröstet.
Tagsüber hatte er Anrufe entgegengenommen und Fußball geguckt. Alemannia hatte gegen den BVB gewonnen, das war noch so ein kleines Geschenk gewesen. Anschließend waren ein paar alte Kumpels gekommen und seine Schwester aus Amsterdam mit ihrem Spanier, die aber gegen Abend nach Marbella weitermusste. Dann das Abendessen und hinterher ebendieser scheißlaute Tanzschuppen.
Als Gina irgendwann kurz vor Mitternacht gesagt hatte: »Komm, wir gehen mal raus«, war er ziemlich erleichtert gewesen. »Rausdibaus. Raus-haus-di-baus.« Ihm war das zu eng. Zu laut. Zu grell. Zu . alles. Aber das hätte er natürlich nie zugegeben. Er wollte sich schließlich nicht gleich am ersten Tag mit sechzig nach achtzig anhören.
Gina hatte ihm mit ihrem knallgelben Seidenschal die Augen verbunden. Zuerst hatte er gedacht, sie wolle ihm auf dem Parkplatz ein Geschenk machen, etwas, was mit Ausziehen und so zu tun hatte, und schon befürchtet, dass das ganz schön kalt werden würde. Aber auch dabei hätte er die Zähne zusammengebissen. Er würde selbst mit sechzig weiterhin seinen Mann stehen, auch in einer Novembernacht auf einem Parkplatz.
Jetzt vernahm er plötzlich Theos heisere Stimme zu seiner Linken: »Wir machen einen kleinen Ausflug, Chef.« Auch darauf ließ er sich ein, obwohl er müde war. Viel müder als sonst um diese Zeit. Änderte sich das alles so schlagartig? Ging das so rasch? Er ließ sich nichts anmerken.
Gina versprach ihm: »Das wird dir Spaß machen!«, und tippte ihm wieder auf die Nase. Das musste er ihr langsam mal abgewöhnen.
Bitte nicht in den Puff, dachte er. Darauf hatte er jetzt wirklich keine Lust. Nebenher war er Verwalter einiger Häuser im »Sträßchen«, hatte aber schon lange keine Lust mehr auf die Ausprobiererei. Ihm reichte Gina, die er ausreichend mit Klamotten, Botox und Silikon ausgestattet und schließlich sogar geheiratet hatte. Nur manchmal, wenn sie ein-, zweimal im Jahr zu ihrer Familie nach Dessau fuhr, ließ er sich ein paar Neueinsteigerinnen kommen. Seine wilden Zeiten waren schon lange vorbei.
Er hörte den Rollmechanismus der Seitentür eines Vans, dann halfen sie ihm hinein und fuhren schließlich los. Vom Gefühl her in Richtung Innenstadt, aber da konnte er sich täuschen. Schäng fühlte sich nicht wohl, so völlig erblindet. Sonst sah er noch verdammt gut, brauchte keine Brille, nicht mal zum Lesen. Darauf war er sehr stolz.
Er spürte, wie der Wagen in die Kurve ging, stoppte, anfuhr, hielt, der Blinker gesetzt wurde, alles mehrmals. Hörte Theo und Gina murmeln. Zwei oder drei der Jungs schienen auch im Auto zu sein.
»Alles gut?«, piepste Gina, als sie ihm eine Viertelstunde später beim Aussteigen half. »Guti? Guti-po-puti?«
»Klar, alles okay«, log er. In Wirklichkeit kam er sich vor wie ein pflegebedürftiger Greis. Würde das jetzt so weitergehen? Dauernd diese Gedanken ans Altsein? Schöne Scheiße.
Die Rumänen und Albaner, die mittlerweile die Stadt unter sich aufgeteilt hatten, waren allesamt jünger, und seit er vor zwei Monaten seinen alten Rivalen Arno »die Prent« Bosten kaltgemacht hatte, war er unbestritten der Älteste. Eigentlich war er fit, trainierte jeden Tag eine halbe Stunde auf dem Stepper und zweimal die Woche im eigenen Studio auf der Peterstraße. Aber sechzig war er jetzt trotzdem.
Die war Bosten schon nicht mehr geworden. Nur achtundfünfzig. Dafür hatte Schäng eigenhändig gesorgt. Ein einziger Schuss, und der Prentekopp war hinüber gewesen. Grund dafür war ein Bauprojekt in Stolberg gewesen, bei dem Bosten ihn hatte ausbooten wollen. Aber die linken Touren von der Prent hatte er sich lange genug gefallen lassen. Wer beim Amt mit wie viel und weswegen geschmiert wurde, das bestimmte immer noch er, Schäng Deneffe.
Die Jungs hatten den toten Bosten ins Krematorium draußen in Hüls gefahren und ihm am nächsten Morgen seine Asche gebracht. Irgendwann in den nächsten Wochen würde er vielleicht nach Blankenberge fahren. Im Herbst war es da schön ruhig. Da würde er die Asche in den Ärmelkanal streuen. Die Prent hatte Blankenberge gehasst. Und das Meer erst recht.
Als Schäng Deneffe sich mit dem Fuß vorantastete, spürte er festen Boden und glitschiges Laub unter den Füßen. »Hört mal, Leute«, sagte er, »ihr habt euren Spaß gehabt, und jetzt würde ich verdammt noch mal gern den Schal runter-«
»Warte, warte, warte!«, rief Gina schrill. »Wir sind ja gleich da!«
Er hörte, wie sich eine Metalltür öffnete, dann eine Männerstimme: »Und, war schwer?« Womöglich Pepe.
Eine andere Stimme antwortete: »Hätt ich sogar nur mit dem Fingernagel aufgekriegt.« Das musste Schocki Schröder sein. Der Neue, der Ringer aus Walheim.
Warme Luft strömte Schäng entgegen, als sie offensichtlich ein Gebäude betraten.
»Wir gehen weiter nach vorne«, sagte Theo und fasste ihn am linken Arm. »Aber nicht in die erste Reihe. Dritte oder vierte, da sieht man besser.«
»Ich seh überhaupt nix«, knurrte Schäng.
»Nur noch eine Minute, Chef.« Theos Stimme beruhigte ihn. Das tat sie immer. Sie waren etwa gleich alt. Theo Müntzer war in den Achtzigern die rechte Hand von Schäfers Nas aus Köln gewesen. So lange, bis der in den Bau gewandert war. Dann war er zu ihm gekommen. Schäfers Nas war nur einundsechzig geworden, fiel es Schäng in diesem Moment ein. Scheiße.
Gina half ihm aus dem Mantel und drückte ihn sanft auf einen gepolsterten Sitz. Stuhlbeine stießen aneinander, machten metallene Geräusche.
»Kann ich jetzt endlich?« Er wurde ungeduldig. Schritte entfernten sich.
»Ja«, hauchte Gina, und er spürte ihre Finger am Hinterkopf. »Jetzt kannst-du-po-pannst-du.«
Schäng Deneffe kniff die Augen zu, weil er erwartete, geblendet zu werden, aber das Licht war gedämpft. Er blickte sich um. Ein großer Raum mit roten Wänden, voller Stuhlreihen. Wandlampen, Belüftungsrohre an der Decke, heruntergelassene Rollos vor den Fenstern zur Rechten. Und an der Stirnseite, etwa sechs oder sieben Meter vor ihm, eine rechteckige Öffnung. Eine Bühne, nur ein bisschen größer als sein gigantischer Flatscreen im Wohnzimmer.
Alte Backstein- und Fachwerkhäuser waren zu sehen, auf Sperrholz gemalt. Die Kulisse stellte einen Marktplatz dar. Gestapelte Obstkisten, Körbe mit Kohlköpfen und Äpfeln.
Schäng drehte den Kopf nach rechts und links. Gina strahlte ihn an. Der Brilli auf ihrem Schneidezahn blitzte im Halbdunkel auf. Links von ihm zwinkerte ihm Theo zu. »Mach den Mund zu, Chef.«
»Ist das etwa .?«, hauchte Schäng.
Theo nickte lächelnd.
Gina quiekte: »Das ist das Öcher Schängche ganz privat und ganz intim für meinen Schäng. Für meinen Schäng-po-päng!«
Schäng spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Scheiße, rührselig wurde man also auch noch ab sechzig.
Er saß im Zuschauerraum vom Öcher Schängche, der fast hundertjährigen Traditions-Puppenbühne, deren Hauptfigur sein Namensvetter war. War das schön! »Au Hur, ist dat schön«, sagte er mit belegter Stimme und ließ seinen Blick weiterschweifen.
Er liebte Puppentheater. In Sankt Vith, wo er aufgewachsen war, war in seinen Kindertagen immer wieder eine fahrende Kasperlebühne zu Gast gewesen. Er hatte sein ganzes Taschengeld dafür ausgegeben. Und angefangen zu klauen, um sich weitere Vorstellungen leisten zu können. Sein Vater, ein alter Kaffeeschmuggler, hatte ihn deswegen mehr als einmal windelweich gehauen.
Puppentheater zogen ihn seitdem magisch an. Wenn er auf Reisen war, ließ er keine Gelegenheit aus. In Berlin, Hamburg oder auch in Wien gönnte er sich mehr oder weniger regelmäßig einen Besuch. Im Öcher Schängche aber war er nur in den Siebzigern ein paarmal gewesen, als er seinen ersten Job in Aachen hinter der Theke einer Stripteasebar hatte. Da war das Theater noch im Jugendheim in Burtscheid untergebracht gewesen.
Hier, in den Räumen der Barockfabrik am Löhergraben, war er noch nie gewesen, denn in seiner heutigen Position konnte er sich natürlich nicht in einem Puppentheater sehen lassen. Damit würde...
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