Schweitzer Fachinformationen
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Wieder einmal stand er zu früh im Gang. Jedes Mal stand er zu früh im Gang. Kaum hatte der Zugchef via Lautsprecher verkündet, dass man den nächsten Bahnhof »in wenigen Minuten« erreichen werde, stand Stahnke im Gang, die Aktentasche bleibschwer am Schulterriemen und das rollenbewehrte Reiseköfferchen auf den Hacken, und ließ sich durchschütteln, von unerwarteten Kurven abwechselnd gegen Zugfenster und Abteilwand schleudern und von plötzlichen Weichenpassagen fast von den Füßen reißen. Statt bequem im Polstersitz hocken zu bleiben, bis draußen die ersten Ausläufer der Bahnsteige auftauchten, was ja meistens doch etwas länger als nur ein paar Minuten dauerte. Wenn es aber so weit war, blieb eigentlich immer noch genügend Zeit aufzustehen, das Gepäck aufzunehmen und gemessenen Schrittes in Richtung Ausgang zu gehen. Der Zug fuhr schon nicht vorzeitig ab - dafür sorgte die Schlange der anderen, die wieder einmal zu früh im Gang gestanden hatten.
Wieder so eine Weiche. Im letzten Moment konnte er sich mit der linken Hand am Fensterrahmen abstützen, sonst hätte er die vor ihm stehende Frau heftig angerempelt. Das hätte übel ausgehen können, denn die Frau trug ein schlafendes Kind in den Armen und eine ballondicke Strandtasche über der Schulter. Offenbar war sie unterwegs zur Küste, wollte wohl in einen Sielort, vielleicht auch auf eine der Inseln, auf jeden Fall ans Wasser, in die Sonne, in einen gemütlichen Strandkorb. Wie sie sich hier auf den Beinen hielt, ohne sich irgendwo festhalten zu können, war ihm schleierhaft. Offenbar verfügten Mütter über Fähigkeiten, die zu verstehen Männer nicht geschaffen waren.
Sie drehte sich zu ihm um und musterte ihn zunächst misstrauisch, ehe sie ein nachsichtiges Lächeln aufsetzte, als sei er ebenfalls ein Kind, wenn auch ein besonders großes und tapsiges. Peinlich berührt versuchte er ein Antwortlächeln, das die Frau aber nicht mehr erreichte, da sie ihren Blick bereits wieder nach vorne gerichtet hatte.
Endlich kam der Zug zum Stillstand, die Türen wurden aufgestoßen und die Schlange der Passagiere begann sich zu dehnen, wurde zur Raupe, die nun aus eigenen Kräften auf ihren vielen Füßen hin und her schwankte. Kühle Luft drang von Bahnsteig in den stickigen Gang. Ihm war, als sei der Geruch von Rauch und Ruß immer noch wahrzunehmen, obgleich hier doch bestimmt seit Jahrzehnten keine Dampflok mehr gefahren war.
». Anschluss auf Gleis sieben.« Stahnke bekam nur den Schluss der Durchsage mit, als er die beiden Gitterstufen zum Bahnsteig hinabstieg, seinen Rollkoffer hinter sich her zerrend, aber er kannte seinen Reiseplan ohnehin auswendig. Gleis sieben, das war seine Verbindung, 16.50 Uhr ab Oldenburg, über Bad Zwischenahn, Leer und Emden nach Norddeich. Sieben Minuten Zeit für den Bahnsteigwechsel, kein Problem.
Die Menschenmenge wogte die ausgetretenen Stufen hinab in die Katakomben unter den Gleisen. Unmittelbar vor Stahnke gingen zwei Männer, die ihm bereits im Intercity aufgefallen waren, kaum dass der Hannover verlassen hatte. Der eine trug einen dunkelgrauen Mantel, unter dem scharfe Bügelfalten und polierte Lackschuhe von Akkuratesse zeugten; Aktenkoffer und Laptop wiesen ihn als Geschäftsmann aus. Der andere hatte ausgewaschene Jeans und abgeschabte Camel-Boots an. Dass er um die Körpermitte herum so ausgebeult aussah wie das Michelin-Männchen, lag nur zum Teil an seinem gesteppten Plastikanorak; sein aufgedunsenes Gesicht verriet, was seinen Wanst so hatte anschwellen lassen. Statt einer Reisetasche schwenkte der Mann eine Plastiktüte, als wollte er sich mit aller Macht zum Penner abstempeln.
Zwei grundverschiedene Typen also, die sich denn auch auf dem Hannoveraner Bahnsteig keines Blickes gewürdigt hatten. Stahnke erinnerte sich deutlich daran. Kaum aber war der IC losgefahren, hatten beide zielstrebig den Großraumwaggon in der Zugmitte aufgesucht, sich einander gegenüber niedergelassen und ein ebenso intensives wie leise geführtes, von den üblichen Zuggeräuschen vollkommen überdecktes Gespräch begonnen. Wie es der Zufall wollte, fast unter Stahnkes Augen.
Am Fuß der Treppe strebte die Mehrzahl der Reisenden nach rechts, Richtung Gleis sieben. Auch das ungleiche Paar blieb im Hauptstrom, nach wie vor Seite an Seite. Beide sehen aus wie Mitte dreißig, überlegte der Hauptkommissar; der Suffkopp mag in Wirklichkeit vielleicht ein paar Jahre jünger sein, für einen verlorenen Sohn aber reicht es vom Alter her auf keinen Fall. Brüder? Wenn, dann Stiefbrüder, aber auch danach sah es eher nicht aus. Es musste etwas anderes sein, das diese beiden Männer verband.
Aber was ging ihn das eigentlich an? Er hatte Urlaub, feierte genauer gesagt aufgelaufene Überstunden ab. Der Lehrgang in der Polizeiakademie Hannover - »Möglichkeiten der Rasterfahndung im Computerzeitalter«, du lieber Himmel! - hatte ihn mächtig geschlaucht, da kamen ihm ein paar Tage Erholung gerade recht. Und zwar nicht etwa zu Hause in Leer. Freunde würde er besuchen, welche von früher, die von des Schicksals und des beruflichen Fortkommens Mächten weit in den Süden verschlagen worden und jetzt an die Küste zurückgekehrt waren, genauer gesagt nach Norddeich. Sie hatten ihn eingeladen. Das verhieß gute Gespräche, womöglich im Strandkorb mit Blick aufs Meer, lange Spaziergänge und noch längere Abende bei Skat und Bier oder Billard und Wein. Vielleicht auch Billard und Bier oder . Jedenfalls freute er sich auf eine unbeschwerte Zeit. Und er dachte nicht daran, sich auch nur die Hinfahrt selbst zu vermiesen, indem er seinen beruflichen Reflexen nachgab und in allem und jedem etwas Gesetzwidriges witterte.
Anderseits waren die beiden Typen wirklich auffällig. Geradezu verdächtig.
Jetzt schwenkten sie nach rechts, die Treppe hinauf. Na prima, natürlich ging es hier zum Gleis sieben! Also würde er diese Gestalten auch bis Leer nicht loswerden. Vermutlich sogar bis Norddeich. Wenn er sich jetzt nicht endlich zur Ordnung rief.
Er verlangsamte seinen Schritt, entschlossen, die beiden Männer ganz gezielt aus den Augen zu verlieren.
Etwas stupste ihn weich in die Seite. Erschrocken drehte er sich um: die Frau mit dem Kind und der Strandtasche. Das ballondicke, sperrige Ding hatte ihren Überholversuch vereitelt. Die Frau lächelte entschuldigend. Diesmal bekam er eine angemessene Erwiderung hin, was seine Stimmung sofort wieder hob. Und ein Blick nach vorne stellte seine Urlaubslaune endgültig wieder her.
Das ungleiche Paar nämlich war in der Menge verschwunden.
Der Bahnsteig war gepackt voll, und als der Zug einrollte, setzte ein Unheil verheißendes Gedränge und Geschiebe ein. Wohl dem, der eine Platzkarte hat, dachte Stahnke. Er hatte keine. Dafür hatte er Glück, denn als der Zug zum Stehen kam, befand sich eine der Waggontüren direkt vor seiner Nase. Ungeduldig verfolgte er den Tröpfelstrom der Aussteigenden, die augenscheinlich froh waren, endlich aus dem Gang herauszukommen, in dem sie vermutlich unnötig lange gestanden hatten. Dann reckte er seine breiten Schultern, sperrte den Einstieg einen Augenblick lang frei und gab der Frau mit dem Kind einen Wink. Diesmal schenkte sie ihm ein warmes Lächeln voller Dankbarkeit, als sie in seinem Schutz samt ihrer schlummernden Last freihändig die Stufen erklomm.
Drinnen begann der Kampf um die freien Plätze. Der erste Großraumwagen, durch den sich schob, war komplett ausgebucht. Erst im nächsten hatte er Glück: drei freie Plätze an einem Tisch. Zwar saß er nicht gerne so beengt, da aber bereits die ersten Platzsuchenden aus der Gegenrichtung eintrafen, überlegte er nicht lange und klemmte seine knapp zwei Zentner hinter die Tischkante.
Die Frau mit dem Kind nahm ihm gegenüber Platz.
Er musterte sie verstohlen, während sie das Kind vorsichtig auf den Fensterplatz gleiten ließ und in ein Reiseplaid wickelte, das sie aus ihrer Ballontasche gezerrt hatte. Die Frau war klein, blond, schlank und zierlich. Ausgesprochen hübsch fand er sie mit ihren verspielten Ohrringen, die an kleine Mobiles erinnerten, und dem kaum geschminkten Gesicht. Auch das Kind war niedlich, pausbackig und stupsnasig; aus seiner Kapuze quollen braune Locken hervor. Durch das hektische Gewirr ringsum ließ es sich in seinem Schlaf kein bisschen stören. Beneidenswert, fand Stahnke.
Er räusperte sich. »Fahren Sie auch nach Norddeich?« In einem Zug wohl die denkbar unverfänglichste Gesprächseröffnung.
Sie schrak zusammen, als hätte er sie angebrüllt, und zeigte wieder die ängstliche, misstrauische Miene von vorhin. Dann aber entspannte sie sich ein wenig und antwortete: »Nein. Wir steigen schon in Emden aus.«
Er nickte, als habe er keine andere Auskunft erwartet, und bemühte sich um einen möglichst freundlichen und begütigenden Gesichtsausdruck. Offenbar reiste die Frau nicht sehr oft, vielleicht auch einfach nicht oft allein, und war durch die Verantwortung für sich und vor allem ihr Kind verunsichert. Na ja, dachte er, jetzt bin ich ja hier. Vielleicht kann ich sie ein wenig unterstützen.
»Wie alt ist denn der Kleine?«, fragte er. Je normaler, desto weniger beunruhigend die Frage.
»Drei Jahre und vier Monate.« Sie hatte ihre Fassung zurückgewonnen und schien einer harmlosen Unterhaltung nicht gänzlich abgeneigt. »Er hat Probleme mit den Bronchien, wissen Sie, und kann deshalb nachts oft nicht schlafen. Daher bin ich froh über jede Stunde, die er tagsüber schläft.«
Darüber dachten die meisten Eltern anders, erinnerte sich Stahnke; Kinder, die nachts wach lagen und weinten, hinderte man am Tage zumeist am Schlafen, da sie sonst in der folgenden Nacht...
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