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November 1964
Er wachte von seinen eigenen Schreien auf. Zuerst erkannte er seine Stimme gar nicht, die war so hell und grell und klang so verzweifelt. Als ihm klar wurde, dass er wach war, hörte er auf zu schreien, aber der Krach ging weiter. Alles heulte, knarrte und krachte, und der Boden unter ihm bebte und schwankte, als ob ein Riese daran rüttelte. Ein wilder, ein wütender Riese. Konnte er das sein? War es möglich, dass der Große Klaasohm erwacht war, vorzeitig erwacht in dieser tosenden Dunkelheit? Wenn das so war, dann würde sein Zorn keine Grenzen kennen. Niemand durfte den Großen stören, nicht vor der Zeit! Klaas spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Ihm wurde übel.
Da waren Hände an seinem Rücken, an seinem Hals. Zugleich eine Erschütterung, als hätte sich der Riese mit seiner Schulter gegen das Haus geworfen, um es zum Einsturz zu bringen. Klaas stockte der Atem. Dann eine Stimme: »Was ist los? Was schreist du denn so? Reg dich nicht auf, ich bin doch hier.« Die Stimme seines großen Bruders, herablassend, aber beruhigend. Gott sei Dank, dachte Klaas, er war noch in dieser Welt! Steffen war da. Und das da draußen, das war nur ein Sturm. Stürme hatte Opas Haus schon viele erlebt. Und überstanden.
Ein neuer Schlag, härter als alles zuvor, ein Geheule wie von den verdammten Seelen, von denen der Pastor immer erzählte, wenn die Klasse in Reli keine Ruhe geben wollte. Konnte dieser Sturm Gedanken lesen? Dann wollte er sich wohl nichts nachsagen lassen. Er drückte gegen die Fensterscheiben, dass es knirschte und die Rahmen knarrten, und fegte zwischen den Dachpfannen hindurch, dass Staub und kleine Krümel auf die beiden Jungen herabrieselten. Hoffentlich waren keine Käfer und andere kleinen Viecher dabei, dachte Klaas. Die Ritzen zwischen den Pfannen waren mit Heidekraut abgedichtet, da konnte so was passieren. Hatten sie alles schon erlebt, wenn sie im Sommer hier oben schliefen, weil ihr Zimmer für Badegäste gebraucht wurde.
»Steffen?«, fragte Klaas, als der Sturm neuen Atem holen musste. »Steffen, glaubst du, das ist der Große?«
»Der große Sturm?« Sein älterer Bruder lachte ihn aus. »Als ob es nur einen großen Sturm gäbe! Stürme gibt es ständig neu, und wie groß sie werden, das weiß man vorher nie so genau. Ihre Stärke ist unbegrenzt. Glaub ja nicht, dass bei Windstärke zwölf schon Schluss ist!«
»Das weiß ich doch!« Klaas drehte sich zu seinem Bruder um. In der Dunkelheit der Dachkammer konnte er nicht einmal seinen Umriss erkennen, aber er spürte seinen Atem. Steffen, drei Jahre älter als er, aber gar nicht mal so viel größer. Wenn sie miteinander balgten, wie es sich gehörte für richtige Jungs, dann musste der Ältere sich schon richtig anstrengen, um ihn mit den Schultern auf den Boden zu drücken. Manchmal ließ Steffen seinen jüngeren Bruder sogar gewinnen, aus lauter Mitleid und Nettigkeit, wie er behauptete. Klaas glaubte ihm das, er glaubte alles, was Steffen sagte. Der hatte immerhin schon fast die Grundschule hinter sich, da lernten die Großen, was sie fürs Leben brauchten, Lesen und Schreiben und Rechnen. Und Heimatkunde, das wichtigste Fach überhaupt. Natürlich wussten Borkumer Jungs sowieso schon, wie es sich verhielt mit Ebbe und Flut, mit Dünen und Deichen, mit Sandwatt, Schlickwatt und Mischwatt, mit Strandhafer und Queller. Aber es war schön, all das, was man von Eltern und Großeltern, von Onkeln und Tanten und deren Nachbarn und Kollegen längst aufgeschnappt hatte, noch einmal geordnet und sortiert vorgesetzt zu bekommen. Das machte alles richtig offiziell, hatte Steffen erzählt. Offiziell, das hieß amtlich, also mit Stempel, Brief und Siegel. Und wenn Steffen das sagte, dann stimmte das auch. Auch wenn Klaas selbst bisher nicht viel davon gemerkt hatte, aber er war ja noch in der ersten Klasse.
»Ich habe gar nicht den Sturm gemeint«, widersprach Klaas, wie so oft mit Verspätung. Die anderen lachten, wenn er das tat, und behaupteten, er wäre wohl etwas langsam im Denken. »Wenn du mit dem Heu kommst, ist die Ziege schon tot!« Dabei stimmte das nicht, er war gar nicht langsam, im Gegenteil; in seinem Kopf waren immer so viele Gedanken zugleich, dass es einfach dauerte, daraus einen Satz zu formen. »Den Großen hab' ich gemeint, verstehst du? Den Großen Klaasohm! Der immer beim Großen Kaap schläft, bis zum 5. Dezember. Bis seine Zeit gekommen ist.« Klaas schluckte. »Was meinst du, kann es sein, dass der Große vor der Zeit erwacht ist?«
»Vor der Zeit erwacht? Der Große Klaasohm?« Steffen schnappte hörbar nach Luft. »Das wäre schlimm! Dann geht die Welt unter!«
Klaas konnte seinen Bruder im Dunkeln nicht sehen, aber er konnte den Klang seiner Stimme deuten. Steffen machte nur Spaß, veralberte ihn, Gott sei Dank. Er wusste eben Dinge, die sein kleiner Bruder, der bis letzten Sommer noch in den Kindergarten Borkumer Bande gegangen war, nicht wissen konnte. Dafür durfte er schon mal veräppelt werden, das war völlig in Ordnung. Klaas musste selbst herausfinden, wann der Ältere etwas ernst meinte und wann nicht. Das gehörte zum Größerwerden dazu. »Stimmt ja gar nicht!«, krähte er gegen die nächste donnernde Sturmböe an.
Steffen lachte. »Der Große Klaasohm hat einen guten Schlaf«, sagte er. »Der ist nicht einmal bei der großen Hollandflut aufgewacht, vor ein paar Jahren, als drüben in Zeeland fast 2.000 Menschen ertrunken sind und in England und Belgien auch noch welche. Damals hat es noch viel doller gestürmt als heute! Aber das weißt du natürlich nicht, da warst du noch gar nicht geboren.«
Klaas versuchte, den Ton zu überhören, der nichts anderes war als Geringschätzung, aber das gelang ihm nicht. Immer diese drei Jahre! Was konnte er denn dafür, dass er der Jüngere war? So sehr er sich auch mühte, diesen Rückstand aufzuholen, die Kluft war einfach unüberbrückbar. »Irgendwann bin ich auch groß!«, platzte er heraus. »Dann bin ich auch ein Klaasohm! Erst der Kleine, dann der Mittlere und am Ende der Große! Einer der beiden Großen Klaasohms bin ich dann!«
Steffen lachte. »Da träum du nur von!«, höhnte er. »Aber das entscheidest du nicht selbst, das weißt du hoffentlich! Das bestimmen die Leute vom Borkumer Jungsverein. Die lassen nicht jeden Klaasohm werden! Du musst dich richtig einsetzen dafür, sonst wird es nichts. Und wenn du kein Borkumer bist und nicht hier lebst, hast du sowieso keine Chance.«
»Aber ich bin doch Borkumer! Und ich lebe hier!«, rief Klaas.
»Ja, jetzt! Kunststück, du Baby«, erwiderte Steffen. »Aber was ist, wenn du mal 14 Jahre bist? So alt musst du mindestens sein für den Kleinen Klaasohm. Was willst du dann hier auf Borkum machen? Kellnern in Opa sein klein Häuschen? Im Hotel Betten beziehen? Oder Pensionskühe hüten und melken? Andere Arbeitsstellen gibt es kaum. Als Erwachsener musst du irgendwann dein Geld verdienen!«
Erwachsen? Geld verdienen? Für den kleinen Klaas mit seinen sechseinhalb Jahren war das noch so weit weg, meilenweit außerhalb seiner Vorstellungswelt. Aber er hatte schon mitbekommen, dass die Eltern und Großeltern einen anderen Lebensrhythmus hatten als er und die anderen Kinder. Dieser Rhythmus wurde nicht von Ebbe und Flut bestimmt, sondern vom Geld. Das musste man sich holen, wenn es da war, nämlich im Sommer. Es kam mit den Badegästen vom Festland, die so viel reicher waren als die Insulaner. Wenn die Badegäste auf Borkum waren, in großen Scharen, viel zahlreicher als alle Robben oder Möwen zusammen, dann hielt das Leben den Atem an, dann zählte nichts anderes als das Wohlergehen der Besucher. Und das Geld, das sie für dieses Wohlergehen zu zahlen bereit waren. Dann hatten die Erwachsenen alle Hände voll zu tun. Kinder störten in dieser Zeit nur, die mussten sich verkrümeln und durften nicht im Weg sein. Sie mussten sogar ihre Zimmer hergeben, denn die wurden an die Badegäste vermietet. Die Kinder schliefen auf dem Boden, unter dem Dach, ganz egal, wie heiß es dort war. Im Keller wäre es im Sommer angenehmer gewesen, klar, aber die Keller wurden zur Kühlung der Lebensmittel gebraucht, das hatte Vorrang. Kinder kamen mit der Hitze schon klar, die hielten etwas aus.
»Fischer könnte ich werden«, sagte Klaas, wieder einmal mit Verspätung. »So wie Onkel Hermannus! Mit eigenem Kutter. Schollen fangen und Granat!« In seiner Fantasie stampfte ein leuchtend roter Fischkutter durch die aufgewühlte Nordsee, dass die Gischt nur so spritzte. Prallvolle Netze hingen an den Kurrbäumen, und am Steuerruder stand ein lachender Mann mit blonder Schifferkrause und einer kleinen Shagpfeife im Mundwinkel. Das war er selbst, Klaas, der große Klaas. Zum ersten Mal sah er sich so. Das fühlte sich seltsam an, wie ein wohliges Erschrecken.
»Fischerei hat auf Borkum keine Zukunft, sagt Papa.« Steffen wischte die Idee seines kleinen Bruders beiseite. »Die Kutter gehen alle rüber zum Festland, in die Sielhäfen, wegen Verarbeitung und Vermarktung, sagt er. Bringt doch nichts, den Fang abends in Borkum anzulanden, nur damit ihn die Fähre am nächsten Tag kistenweise nach Emden transportiert! Viel zu teuer, und richtig frisch ist die Ware dann auch nicht mehr. Nee, sogar wenn du wirklich Fischer werden wolltest, müsstest du runter von der Insel, da geht kein Weg dran vorbei.«
Runter von der Insel? Von seiner Insel? Klaas schüttelte stumm den Kopf. Das kam überhaupt nicht infrage! Jedenfalls nicht für ständig. Er war...
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