Schweitzer Fachinformationen
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Alice lebte schon lange in Afrika, so lange, dass sie wie ein Ge schöpf dieses Kontinents ein drohendes Unheil bereits spürte, noch bevor es ausbrach. Pierre sagte immer, dass sie Gefahren wittern könne, und im Laufe der Jahre hatten sie beide gelernt, sich darauf zu verlassen.
Aber heute versagte ihr Instinkt. Der Perlmuttschimmer am Horizont kündigte den Tag an, an dem sich ihr Leben unwiderruflich ändern sollte, und sie schlief ruhig und traumlos. Allerdings hatte es in der Zeit zuvor auch keinerlei sichtbare Hinweise gegeben. Der Himmel über Natal strahlte tiefblau, die Sonne brannte, und die Bougainvilleen in ihrem Garten prangten in leuchtendem Rot. Ein friedlicher Hochsommertag reihte sich an den anderen.
Die leichte Brise, die vom Meer hochstrich und die weißen Gardinen blähte, streichelte ihr sacht über die Haut. Sie strampelte das dünne Laken, das sie als Bettdecke benutzte, im Halbschlaf von sich und driftete noch genussvoll zwischen Träumen und Wachsein hin und her, bis sie schließlich ganz aufwachte. Schlaftrunken streckte und rekelte sie sich und schaltete automatisch das Radio ein.
»Guten Morgen, Südafrika«, schallte die unsäglich muntere Stimme des Ansagers durchs Zimmer. »Und wieder ein wunderschöner Tag in unserem wunderschönen Land!«
Mit schmerzverzogenem Gesicht fasste sich Alice an den Kopf. Vor Sonnenaufgang war sie so viel guter Laune einfach noch nicht gewachsen. Stöhnend drehte sie das Radio leiser, tastete nach rechts und berührte ein leeres Kissen, worauf ihr wieder einfiel, dass Pierre gestern überraschend nach Kapstadt geflogen war. Dort hatte er vor, sich mit dem wichtigsten Investor ihrer neuen Ferienanlage zu treffen, und die Besprechung würde sicherlich, wie das in Südafrika so üblich war, auf einem der schönsten Golfplätze stattfinden und dann in einem angesagten Restaurant fortgesetzt werden.
Abwesend rieb sich Alice mit dem Daumen über die wulstige Narbe auf ihrem Oberarm, die sie von dem Vorfall mit der Schlange vor rund vierzehn Jahren zurückbehalten hatte. Instinktiv tat sie das immer, wenn sie sich aufregte, obwohl es sie eigentlich nicht beruhigte. Dafür waren die Auswirkungen damals zu gravierend gewesen. Resolut verdrängte sie die Erinnerung. Bis zum späten Nachmittag hatte sie eine endlose Liste abzuarbeiten, ehe am Abend die Party für die Investoren steigen würde, und ausgerechnet heute, an diesem besonderen Tag, der so entscheidend war für den Rest ihres gemeinsamen Lebens, hätte sie Pierre hier gebraucht. Jetzt musste sie die letzten organisatorischen Hürden allein nehmen.
»Der hat's gern exklusiv«, hatte Pierre gestern auf ihre Frage hin erklärt, warum dieser Mann nicht einfach zu ihrer Party kommen könne. »Immerhin will er mehrere Bungalows kaufen. Außerdem haben wir Anfragen von Dubai bis Australien, und auch die Schwalben sind wieder scharenweise auf der Suche nach einem Nistplatz.«
Schwalben nannten sie hier die Deutschen, die wie diese Vögel im europäischen Winter nach Afrika flogen und mit ihnen im April wieder nach Hause zurückkehrten.
»Wird es ausreichen?«, hatte sie gefragt.
»Na klar«, hatte Pierre im Brustton der Überzeugung geantwortet. »Wenn ich den Deal mit dem Investor durchziehen kann, sind die Kosten für das Land auf einen Schlag getilgt, und wir sind alle Sorgen los! Es kann nichts schiefgehen, Honey. Es wird wunderbar werden.« Er lachte sein mitreißendes Lachen, das so voller Lebensfreude war und vor Optimismus sprühte.
Aber dieses eine Mal verfehlte es seine Wirkung bei ihr. Mit einem inneren Beben dachte sie daran, dass sie ihr Restaurant verkauft und ihr eigenes Haus, an dem sie mit jeder Faser hing, bis unters Dach mit Hypotheken belastet hatten, um das Grundstück für die Ferienanlage anzuzahlen. Als sie den Betrag hörte, den sie noch zusätzlich aufnehmen mussten, war ihr schlecht geworden. »Die Summe ist der reine Wahnsinn, das Ganze ist viel zu groß für uns!«, protestierte sie.
»Unsinn«, versuchte Pierre ihre Einwände wegzuwischen. »Wenn wir von der Bank nur einen kleinen Betrag haben wollen, denkt ein Banker gleich, wir nagen schon am Hungertuch und sind deswegen nicht kreditwürdig. Wenn du ein Darlehen aufnimmst, muss das schon eine anständige Höhe haben. Dann ist das Interesse an deinem Wohlergehen auch deutlich ausgeprägter. Du kennst doch den alten Schnack: Von der Bank bekommst du nur einen Regenschirm, wenn die Sonne scheint.«
Bis jetzt hatte er recht behalten. Die Bank sagte ihnen die Kredite zu, vorbehaltlich der Zustimmung der drei Clan-Häuptlinge, deren Familien das Land gehörte.
Pierre und sie waren zusammen mit ihrem Anwalt und einem fröhlichen, korpulenten Zulu mit blitzendem Goldzahn, der sie als Verbindungsmann zu den Clans begleitete, ins Herz von Zululand gefahren. Die Verhandlung sollte unter dem Indababaum des Dorfes stattfinden. Nach und nach trafen die Häuptlinge mit ihren Indunas ein und - nach der Anzahl zu urteilen - alle erwachsenen Clan-Mitglieder. Es folgte ein endloses Palaver, es wurden lange, gewundene Reden geschwungen, jeder wollte angehört werden, und Alice, die sich im Hintergrund hielt, bewunderte Pierres Geduld. Sie hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Als es schon so aussah, als wäre der Deal endlich besiegelt, vernahm sie ein zischendes Geräusch wie von einem wütenden Hornissenschwarm. Es schwoll bedrohlich an, bis es ihr in den Ohren vibrierte.
Aufs Höchste beunruhigt, flog ihr Blick über die Menge. Der Protest kam aus der Gruppe junger Hitzköpfe, die schon den ganzen Tag aufsässige Bemerkungen gemacht hatten, aber bisher immer von den Älteren beschwichtigt worden waren. Jetzt wurden die Zwischenrufe lauter und bösartiger, und die Unterhäuptlinge schafften es nicht, die Unruhestifter in den Griff zu bekommen. Schließlich erhob sich der älteste Clan-Häuptling, eine imposante Erscheinung in voller Stammestracht. Stirnband und Brustpanzer waren aus prachtvollem Leopardenfell, und von der Hüfte schwangen buschige Ginsterkatzenschwänze. Er streckte das Kinn vor und starrte mit blutunterlaufenen Augen schweigend auf die Aufrührer.
»Thula!«, donnerte er plötzlich in einer Lautstärke, dass Alice vor Schreck zusammenfuhr.
Der Hornissenschwarm verstummte sofort, und am Ende wurde Pierres Ausdauer belohnt. Nachdem die Beteiligung der Clans an den Einkünften der Ferienanlage bis ins Letzte festgelegt worden war, signalisierten die Chefs ihre Zustimmung.
Pierre wischte sich verstohlen den Schweiß von der Stirn. »Mann, die sind ja härter als eine Horde Anwälte«, flüsterte er ihr zu. »Entweder wir unterschreiben das, oder die Ferienanlage kann nicht gebaut werden. Wir haben keine Wahl. Unsere Anwälte werden die Verträge aufsetzen, und die Rechtsverdreher der Familien prüfen sie. Sobald sie das Okay geben, ist die Kuh vom Eis.«
Nach einigem Hin und Her unterschrieben die Clan-Chefs, die Banken drehten den Geldhahn auf, und die Architekten entwarfen die Pläne. Alles lief so, wie es vorgesehen war, und Alice hatte aufgeatmet. Nun hing alles davon ab, wie viele Leute die Bungalows kaufen würden, und deswegen war diese Party so ungeheuer wichtig. Schließlich sollte ihnen das Einkommen, das sie sich vom Verkauf der Ferienwohnungen und dem Betrieb der Anlage erhofften, im Alter ein komfortables Leben garantieren.
Und dieser Zeitpunkt rückte unerbittlich näher. Pierre würde dieses Jahr seinen sechzigsten Geburtstag feiern, was er geflissentlich ignorierte. Inzwischen war aus dem einst dichten Haarschopf ein sonnengebräunter, glatt rasierter Schädel geworden, die Stirn hatte sich in deutliche Querfalten gelegt, und die dunklen Augen waren von einem Kranz feiner Fältchen umgeben. Jahrelanges Tennis- und Squashspielen hatten ihm einen schlimmen Knorpelschaden im rechten Knie beschert, und wenn er ausnahmsweise zu Hause am Herd stand, meldete sich sein Rücken. Aber sein Grinsen war frech wie bei ihrer ersten Begegnung, das Funkeln in den Augen ungetrübt, und noch immer bestand er darauf, ab und zu auf den wilden Wellen des Indischen Ozeans zu surfen. Mit umgeschnalltem Kniestabilisator.
Alice war fünf Jahre jünger. Ihre Knie waren noch in Ordnung, ihr Haar, das sich in der feuchten Seeluft kräftig lockte, glänzte unverändert und ungefärbt in warmem Goldbraun. Ihr Alter war für sie nur noch eine Zahl, und sie fühlte sich fit und gesund. Meistens jedenfalls. Die kleinen Hinweise wie häufige Rückenschmerzen, die nachlassende Elastizität des Bindegewebes, das ihr deutlich machte, dass auch sie nicht mehr wirklich jung war, konnte sie noch ignorieren. Aber auch sie vermied es, viel über die Zukunft nachzudenken.
Neben ihrem Kopfkissen ertönte ein Pfiff, laut, frech und herausfordernd, so wie Männer einer schönen Frau hinterherpfiffen. Alice lächelte und setzte sich auf. Es war das Erkennungssignal, dass ihr Pierre eine Nachricht aufs Handy geschickt hatte. Bei Sonnenaufgang ging er joggen, egal, wo er war und welches Wetter herrschte, und immer wenn er unterwegs war, schickte er ihr ein paar Worte. Sie öffnete die Nachricht, und selbst nach zweiunddreißig Jahren hüpfte ihr Herz, als sie seine Liebeserklärung und das Versprechen las, dass er allerspätestens um halb vier wieder zu Hause sein werde. Seine Ansprache an die Investoren wollte er auf dem Rückflug noch einmal durchgehen. Ihr momentaner Verdruss über ihn war vergessen. Mit...
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