Mehr als ein Vorwort - ein Vorsatz
Auch wenn viele der hier angesprochenen Themen in Form von Mutmassungen und Fragen zur Debatte stehen, besteht nie die Vorstellung, zu diesen jeweils die zutreffenden und verbindlichen Antworten zu kennen. Im Gegenteil: Es ist die Philosophie, die uns wachsam halten soll, der Versuchung der Gewissheit nicht zu erliegen. Die Erkenntnis, von der hier die Rede ist und nach der wir suchen, verpflichtet uns dazu, Gewissheiten nicht als Beweise von Wahrheiten zu verkennen. Denn die Vorstellung und Weltsicht, die wir haben, ist nicht die Vorstellung und die Weltsicht, sie sind bloss eine von vielen, die wir mit andern hervorbringen. Dabei sei Weltsicht auch verstanden als Weitsicht und Vorstellung ganz besonders auch als eigene, subjektive Einschätzung. Unverzichtbar dabei ist eine vertiefte Reflexion und die Bereitschaft, nicht grundsätzlich auf dem zu beharren, was für uns als gewiss erscheint. Für jede Art von philosophischem Denken sind zudem Neugier und Begeisterungsfähigkeit erforderlich, und besonders auch das Bestreben, sich für anderes und andere zu öffnen. Nur so entledigen wir uns der Gefahr der eigenen Verkennung, der Illusion vermeintlicher Sicherheit und der kognitiven Verkümmerung infolge isolationistischen und reduktionistischen Denkens und Handelns.
Bei der Lektüre dieses Buches soll eben dies getan werden:
- Hinterfragen und geduldiges Reflektieren des bis anhin Gedachten und Gelebten, aber auch des hier Geschriebenen und Gemeinten.
- Loslassen tradierter Vorstellungen und Gewissheiten betreffend all der hier zur Sprache kommenden Themen.
- Sich Neuem und Anderem mutig anvertrauen, in gespannter Erwartung und mit der dazu notwendigen (selbst)kritischen Einstellung.
- Immer wissend, dass die hier zur Diskussion stehenden Beiträge nie vollständig und abschliessend sein können, ja, dass auch Wichtiges und Wesentliches fehlen wird.
Jede philosophische Auseinandersetzung mit den sich im Rahmen einer Krankheit oder eines Unfalls stellenden Herausforderungen, aber auch jede Reflexion über grundsätzliche Fragen zur Medizin erfordern die hier aufgeführten Kompetenzen. Nur so kann es gelingen, aus der Summe des Angedachten den Zugang für das Wesentliche und dabei Entscheidende zu schaffen. Und nur so wird es jedem Einzelnen im Rahmen seiner individuellen Auseinandersetzung mit der Krankheit und deren Folgen einen persönlichen Nutzen bringen. Genau deshalb, weil auf eine komplexe Frage oft keine simple und konklusive Antwort folgt, braucht es diese Kompetenzen. Nur so kann es gelingen, zu verstehen, dass auch das Ausbleiben einer solchen Antwort ein brauchbares Ergebnis sein kann und oft wertvolle Schlussfolgerungen zulässt. Wegweisend für den Aufbau dieses Buches war demnach auch die sehr breite Fächerung der Themen. Aus den verschiedensten Perspektiven sollen wesentliche Themenbereiche, komplexe Probleme und kritische Punkte philosophisch betrachtet, ergründet und hinterfragt werden. Dabei entstehen unterschiedlichste Zugänge und Auffassungen, die differenzierte Erkenntnisse zu den jeweiligen Gebieten erst ermöglichen. Aber auch solche Erkenntnisse implizieren immer deren Relativierung, im Wissen, dass Gewissheit stets relativ ist. Jede philosophische Auseinandersetzung, unabhängig vom jeweiligen Themenbereich, verlangt kritisches Hinterfragen von Gewissheiten, vertieftes reflektieren über Bekanntes und Unbekanntes und Offenheit für Anderes und Neues.
Den Vorsatz zu fassen, sich diese Kompetenzen im Laufe der Lektüre möglichst zu verschaffen, das ist das Credo dieses Vorworts.
Mit diesem Buch soll in erster Linie versucht werden, dem Leser, ob gesund oder krank, den Prozess der philosophischen Auseinandersetzung mit existentiellen Themen, die sich aus der Konfrontation mit einer Krankheit ergeben, zu erleichtern. Zudem soll dieses Buch ein Plädoyer dafür sein, auch im Krankheitsfall weiter zu leben, solange die Krankheit dies noch zulässt. Krank sein hat seine körperlichen und mentalen Aspekte - über die ersteren wird üblicherweise sehr viel geschrieben und gesprochen, über die letzteren hingegen deutlich weniger. Demnach geht es in erster Linie um diese mentalen, philosophischen Aspekte des Krankseins und auch darum, aufzuzeigen, dass diese für den Erkrankten mindestens so lebens- und leidensbestimmend sind, wie die körperlich-medizinischen Aspekte. Hier sind nun aber weder simple Antworten auf komplexe Fragen zu erwarten, noch werden einfache Lösungen für Probleme geboten.
Im Weiteren werden die Notwendigkeit und Dringlichkeit aufgezeigt, uns auf den Weg zu machen zu einer Medizin, die den Namen einer Medizin für den Menschen verdient. Dieser Weg kann jedoch nicht von uns Ärzten und Ärztinnen allein vorgezeichnet werden, denn die Richtung dorthin zu bestimmen und rechtzeitig die wesentlichen Wegmarken festzulegen ist eine Aufgabe, die sich uns allen stellt. Das Ziel dieses Buches ist denn auch, ein Krankheits- und Medizinverständnis zu wecken und zu fördern, welches dem Menschen in seinem Menschsein gerecht wird. Es ist weder als Lebenshilfe noch als weiterer medizinischer Ratgeber im üblichen Sinn zu verstehen. Hier sind weder Rezepte für ein gesundes Leben noch Garantien für eine erfolgreiche Krankheitsbewältigung zu erwarten, hingegen aber konstruktive Gedanken über das krank sein selbst, instruktive Hinweise betreffend Umgang mit Krankheit und zudem eine kritische Sicht auf gewisse Entwicklungen, die unsere heutige Medizin zunehmend bestimmen und prägen.
Das Buch ist aufgeteilt in drei Teile. In einem ersten Teil geht es um die Exposition verschiedener Themenbereiche. Ausgehend vom Status quo unserer modernen Medizin werden einige der aktuellen Probleme und der sich aufdrängenden Fragen im Kontext von Gesundheit, Krankheit und Medizin vorgestellt. Sehr rasch wird der Bezug der Medizin zur Philosophie hergestellt - mein Hauptanliegen in diesem Buch! Die Medizin braucht die Philosophie dringend und auch die Patienten und Patientinnen, die Ärzte und Ärztinnen brauchen sie. Im zweiten Teil wird das Krankheitserleben thematisiert. Hier geht es um den Kranken in seiner Krankheit. Erleben ist immer stark subjektiv geprägt und etwas ganz Persönliches - das gilt insbesondere auch für das Erleben von Krankheit und Medizin. In diesem zweiten Teil werden zudem Kenntnisse über verschiedene Modelle der Krankheitsentstehung und über unterschiedliche Weisen der Auseinandersetzung des Erkrankten mit seiner Krankheit vermittelt, und es geht auch um Affektivität und Unsicherheit gegenüber psychischen und körperlichen Leiden. Und letztlich um unsere Vergänglichkeit, ums Sterben und den Tod. Im dritten und letzten Teil wird über das Medizinverständnis gesprochen. Die Medizin ist im Wandel - entfremdet sie sich vom Menschen? Wie ist diese Entwicklung zu interpretieren? Was wollen wir überhaupt, was könnte man verbessern und wie müsste dies geschehen? Hier werden nicht nur Fragen gestellt, sondern konkrete Vorschläge zur Verbesserung unserer modernen Medizin gemacht. Wir sind auf der Suche nach der genuinen Medizin, nach einer Medizin, die eine Medizin für den Menschen ist.
Die insgesamt neunzehn Kapitel dieses Buches werden eingeleitet durch Einführende Bemerkungen. Übersichtsmässig und stichwortartig wird hier über die in diesem Kapitel zu erwartenden Themen informiert. Im zweiten und dritten Teil des Buches sind zudem unter dem Titel Die Stimme der Philosophen je zwei philosophische Texte untergebracht (insgesamt vier), die in direktem Zusammenhang mit der jeweiligen Thematik stehen und mit Absicht sehr nahe am Originaltext vorgestellt werden. Das Ziel ist, die Sprache, Gedanken und Argumente von ausgewählten Philosophen zu Themen der Medizin hier möglichst unverfälscht und authentisch wiederzugeben. Sie sollen die Art und Weise des Denkens und Argumentierens der Philosophen exemplarisch aufzeigen.
Das Medizinverständnis, welches diesem Buch zugrunde liegt - und welches explizit meinem eigenen entspricht - basiert erstens auf der Einsicht, dass weder der ausschliesslich naturwissenschaftliche noch der bloss geisteswissenschaftliche Zugang der Medizin dem kranken Menschen gerecht werden kann. Und zweitens entspricht es meiner Überzeugung, dass der immer grösser werdende Prioritätsanspruch (und Machtanspruch) der Naturwissenschaften gegenüber den Geisteswissenschaften einer dem Menschen angemessenen Definition einer modernen Medizin nicht mehr standhalten kann. Weder der schon beinahe legendäre Satz des berühmten Arztes Bernhard Naunyn (1839-1925) "Die Medizin wird Naturwissenschaft sein oder sie wird nicht sein", noch seine absolute Gegenposition, werden dem Menschen, insbesondere dem Menschen in seiner Krankheit, gerecht.1
Zu diesem Schluss kommt jeder Arzt, der einerseits bei seinen Patienten die oft spektakulären Erfolge unserer naturwissenschaftlichen Medizin aus nächster Nähe miterlebt. Der andererseits aber immer wieder feststellt, wie stark auch nichtbiologische, also anthropologische und kulturelle Faktoren, das Erleben und Bewältigen einer Krankheit mitbestimmen, und der auch immer wieder registriert, wie aber in unserer modernen Medizin diese Aspekte oft viel zu wenig mit einbezogen werden. Eine wirklich erfolgreiche Medizin, eine Medizin, die für den Menschen gedacht ist, wird ihre...