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Kapitel 2
Elle Nolan befindet sich auf den kühlen Fliesen ihrer Waschküche. Sie ist aber auch an der Decke, wo sie sich herrlich leicht fühlt, als wäre sie ein Luftballon. Schwebend und hellwach ist sie, furchtlos. Und ruhig. Aus ihrem dunklen Haus kann sie Marinarasoße riechen und Buena Vista Social Club hören. Das ist nicht die Musik, die sie ausgesucht hätte. In der Waschküche entdeckt sie oben auf ihrem an der Wand befestigten Wäschetrockner eine Socke ihres Neffen sowie den verloren geglaubten Stringtanga aus Seide. Und zwei Meter unter sich kann sie ihren Körper sehen. Verdreht, auf der Seite liegend, unter einem grünen Handtuch. Obwohl er ihr leidtut, hat sie es nicht eilig, in ihn zurückzukommen. Erinnerungssplitter kehren zurück: ein Stoß, seine Hände, ihre Schreie.
Das ist also der Tod.
Kurz fragt sie sich, ob ihr Vater und die Großeltern erscheinen werden, mit ausgebreiteten Armen, wie säumige geisterhafte Gastgeber. Und wo ist das wirbelnde Licht oder der lockende Tunnel? Sie wartet. Nichts passiert. Dann sieht sie unangekündigt im Bruchteil einer Sekunde ihr Leben vor sich vorbeirauschen - ihre Triumphe und Niederlagen. Da ist sie als Zehnjährige in einem knallrosa Korbballrock in dem baufälligen Haus in Kew; mit einundzwanzig mit ihrem Vater in der Wohnung in Elwood; mit dreizehn als Stipendiatin am ersten Tag an der Melbourne Girls Grammar. Aus der Schule wird die Monash University, wird Freeman & Milne, wird die VCA Film School. Sundance Film Festival. Die Gesichter vergessener Freunde verschmelzen mit denen ihrer Boyfriends und ihrer Filmbesetzungen. Sie sieht Mira, ihren Bruder Jude, Doris und ihre Mutter. In der großen Hektik erkennt sie etwas Wiederkehrendes. Vor allem ein Abschnitt ihres Lebens wiederholt sich. In einer Schleife. Fast so, als müsste sie daraus etwas lernen, denkt sie.
Sie sieht sich selbst an dem Mittwoch, nachdem sie David Forrester kennengelernt hat. Um 9 Uhr morgens saß sie an ihrem Schreibtisch, fahles Sonnenlicht fiel auf das Skript in ihren Händen. Während ihr letztes Drehbuch auf der Idee basierte, dass »Mut durch glückliche Zufälle belohnt wird«, vermittelt dieses, dass »Liebe selbst die störrischsten Menschen ändert«. Der Fokus auf diese Veränderung passte, denn er bildete den Kern der romantischen Komödie. Was das Ausmaß der Macht der Liebe anging, war sie sich weniger sicher. Konnte sie aus einer kritischen Frau eine tolerante, aus einem durchschnittlichen Mann einen leidenschaftlichen machen - noch dazu auf Dauer? Sie überlegte noch, als das Päckchen eintraf. Darin befanden sich zwei Dinge: eine vertraute Visitenkarte und Katharine Hepburn. Jugendlich und hübsch, mit rosigen Wangen und aristokratischer Haltung schaute sie vom Cover des Buchs Ich - Geschichten meines Lebens. Geschmeichelt blätterte Elle durch die Seiten und dachte an David Forrester und Cary Grant.
Seit sie zwölf war, schwärmte sie für Cary. Befeuert wurde diese Leidenschaft durch Reihen wie Midday Movies, die alten Spielfilme um die Mittagszeit, und vor allem den Film Die Schwester der Braut. Ganz war sie dieser Schwärmerei bis heute nicht entwachsen. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sie sich allerdings ausgeweitet: dank Ein Offizier und Gentleman auf Richard Gere und später dank Liebe, Lust und andere Laster auf George Clooney. Und inzwischen natürlich auch auf Ryan Gosling. Mit vierunddreißig fand sie immer noch, dass diese Leinwandhelden und ihre großartigen Liebesgeschichten ihre eigene Realität übertrafen. Oder zumindest war das so gewesen - bis letzten Freitagabend. Seither musste sie, zu ihrer eigenen Überraschung, oft an David Forrester denken: an seinen Witz, Enthusiasmus und sein Aussehen. Sogar sein Geruch, irgendwie angenehm nach Melone, hatte sich ihr eingeprägt. Innerhalb weniger Tage war er so überlebensgroß wie ihre Leinwandhelden geworden. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn gehen zu lassen.
Sie betrachtete seine Visitenkarte genauer und drehte sie um. In eine Ecke war mit blauer Tinte ein Esszimmerstuhl gezeichnet. Sie verbrachte den Tag lächelnd und damit, ihr Skript mit Anmerkungen zu versehen. Sie schrieb, bis sie keine Sekunde mehr widerstehen konnte, die winzigen schwarzen Ziffern zu wählen.
Um 17 Uhr saß sie im Auto, um ihn in Middle Park zu treffen. Auf der Fahrt durch Seddon ertappte sie sich dabei, ein Café für ihr gemeinsames Frühstück am nächsten Tag auszusuchen: Le Chien oder vielleicht Sourdough Kitchen. Unprätentiös und florierend. Sie waren typisch für ihren Vorort, und sie hoffte, dass sie ihm gefielen. An der nördlichen Schattenseite eines Highways gelegen, zwischen der Cafékultur von Yarraville und den vietnamesischen Märkten von Footscray, stellte Seddon ein gut gehütetes Geheimnis cleverer Eingeweihter dar. Ein Geheimnis, das sie gern mit ihm teilen würde. Da erinnerte sie sich daran, wie er im Sun Theatre, als sie ihm erzählt hatte, wo sie wohne, gesagt hatte: »Entschuldige, wo?« Als sei Seddon eines frühen Morgens erschaffen worden, während das übrige Melbourne gerade den Sonnenaufgang bewunderte. Als liege es nicht sieben, sondern siebenhundert Kilometer vom Central Business District entfernt. Auf der Williamstown Road lachte sie, nochmals bezaubert von seiner Ignoranz als Bewohner von Bayside.
Ernüchtert saß sie zehn Minuten später in einem Stau auf fünf Fahrspuren in der Mitte der West Gate Bridge fest. Sirenen heulten, und aus dem Norden wehte Rauch heran. Sie reckte den Hals und versuchte, über das Sicherheitsgeländer auf die Welt darunter zu schauen. Ihre beste Freundin und Exschwägerin Mira Raison lebte mit ihren beiden kleinen Söhnen in einem kleinen Arbeiterhäuschen in der Hyde Street in Yarraville. Ihr Zuhause lag nur einen Katzensprung von der Brücke entfernt, zwischen dem Terminal von Mobil Oil und einem Wald aus Strommasten. Dass sie die Masten durch den Rauch nicht sehen konnte, ließ Elles Sorge wachsen. Als sie das Radio einschaltete, erfuhr sie, dass es einen Grasbrand gab, den man aber bereits eingedämmt hatte. Als die Anspannung in ihrem Körper nachließ, griff sie nach ihrem Telefon in der Halterung. Mira. Sie zögerte.
Zwischen den dahinschleichenden Autos und in dem dünner werdenden Rauch dachte sie wieder an David. Sie dachte an ihren Sex, die Scherze und das Reden über Filme: eine machtvolle und einzigartige Kombination. Aber dann, als das Stadtbild von Melbourne vor ihr aufragte, dachte sie an seine Anzüge. Und an seine Mandanten und all diese gnadenlos in Rechnung gestellten Stunden. Da flaute ihre Erregung ab. Das war eine Welt, von der sie geglaubt hatte, dass sie sie längst hinter sich gelassen hätte.
Dann fiel ihr ihre Mutter ein. Elegant, aber mürrisch hatte ihre Mutter Jahre damit zugebracht, darauf zu warten, dass ihr Vater, ein heißgeliebter Englischlehrer, jeden Abend nach Hause kam. Elles früheste Erinnerungen waren, dass ihre Mutter mit Töpfen und Schranktüren eine Spur lauter knallte als nötig. Wenn Leo Nolan dann, so gegen sieben, in ihr zugiges Haus in Kew heimkehrte, schien in Isla Nolan ein Licht anzugehen. Schon als Kind war Elle klar geworden, dass Teile ihrer Mutter für sie und ihren jüngeren Bruder Jude versiegelt waren. Als sie heranwuchs und dabei die schwelende Unzufriedenheit ihrer Mutter beobachtete, traf Elle eine Entscheidung: Wenn sie heiratete, würde es anders sein. Sie würde einen Mann heiraten, der die Kinder mit ihr zusammen »großzog«. Einen Mann, der an einem Dienstagnachmittag um drei an ihrer Seite sein konnte. Als sie von jener Brücke aus zu seinem fünfzigstöckigen Büroturm hinaufschaute, fürchtete Elle, dass David Forrester nicht dieser Mann sein würde: ein Gehaltsempfänger.
Elle legte ihr Telefon in die Halterung zurück. Wenn sie mit Mira sprach, würde sie David erwähnen. Aber heute schon von ihm zu erzählen, das kam ihr verfrüht vor. Der Verkehr setzte sich in Bewegung und schwemmte sie mit. Sie war versucht umzukehren, aber da wurde ihr alter Valiant schon vom Verkehrsstrom über die Brücke und in Richtung Fishermans Bend erfasst.
In Middle Park war das seidige Wasser der Bucht mit Rennbooten durchsetzt. Yachten ballten sich in mittlerer Entfernung wie Mini-Schwäne. Mit zehn Minuten Verspätung parkte Elle und ließ sich tiefer in ihren Schalensitz rutschen. Sie konnte das führende Boot gerade noch erkennen und wünschte sich flüchtig, an Bord zu sein. Sechs Meter entfernt saß David im Schneidersitz auf einer Betonmauer und beobachtete die in der Ferne stattfindende Regatta. Sie registrierte seine breiten Schultern, langen Extremitäten, das von der Brise zerzauste Haar. Seine Nähe brachte ihr die Berührung seiner Lippen wieder in Erinnerung und das Streicheln seiner Haut. Seine Präsenz, mit der er ihr Esszimmer, ihre Küche, ihr Bett erfüllt hatte. Reglos saß sie da und lauschte auf ihren Herzschlag.
Am Horizont wurde das Violett am Himmel schmaler. Auf seiner Betonmauer rieb sich David die Stirn und blickte auf seine Uhr: Inzwischen war es 18 Uhr 18. Die Möglichkeit, versetzt zu werden, nahm in seinem Kopf Gestalt an, vermutete sie. Und zweifellos war er ihr zuliebe bei Freeman & Milne früher gegangen. Sie seufzte. Vor vier Jahren, als sie gekündigt hatte, war er ihr bereits aufgefallen. Die Kanzlei war nicht für Schönlinge bekannt, aber ein die Flure durchmessender Mr Rochester war natürlich schon etwas. In den drei Wochen, die er schon da war, bevor sie ging, hatte sie erfahren, dass er eine Nachteule war, Smalltalk scheute und sich mit seiner Frau auseinandergelebt hatte. Kurz danach wurde er, wie sie hörte, geschieden. Hinter ihm im Lift stehend hatte sie registriert, dass seine Anzüge...
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