Schweitzer Fachinformationen
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Die gefeierte Filmikone Jeanne Patou erfährt aus dem Fernsehen, dass sie für tot gehalten wird. Für Jeanne ist es die Chance, unterzutauchen und so ihrem Ehemann zu entkommen, der gleichzeitig ihre größte Obsession und ihre fatalste Leidenschaft ist. Sie verschwindet in die Anonymität - und in einen Kosmos der untergetauchten Frauen, mit denen sie ein altes Haus in Barcelona bewohnt. Während sie ihre Schicksale kennenlernt, wird ihr auch ihr eigenes immer deutlicher.Viereinhalb Jahre später streift Jeanne über die La Rambla, eine Passantin unter vielen, als sie plötzlich ihrem Mann begegnet. Ihr ist klar: Sie muss sich stellen - ihrem Mann, aber vor allem sich selbst.Die Passantin ist ein empathischer, rasanter und zorniger Roman über eine Selbstfindung, eine Starkwerdung, eine Emanzipation, ein Auftauchen aus festgefahrenen Strukturen, um zum wahren Kern zurückzufinden.
6
2015
Der Dienstag, an dem wir für die Welt gestorben sind und Jeanne mich gefragt hat: Und was machen wir jetzt?
Am liebsten möchte ich ihr sagen, dass sie sich die Nacht abschminken kann. Das erst mal. Wenn sie sich nicht bis heute Abend bei ihrer Familie meldet, dann, weil sie es längst so will. Nicht mehr Dasein. Auch wenn sie nicht weiß, warum.
Erinnerst du dich an Emma May?, antworte ich stattdessen.
Natürlich, sagt Jeanne. Ich war gerade mit Katja schwanger, als gedreht wurde und ich die blöde Kuh gespielt habe. Emma hätte alles für diesen schwindsüchtigen Burschen getan, der ihr vorgaukelte, ohne sie nicht leben zu können. Mein Gott. Das war reine Zuhälterei, verkleidet als Kunstfilm.
Sie hat ja alles für ihn getan, sage ich. Am Ende gab sie ihr Leben für seines. Ihr Leben für etwas, was er verbrochen hatte, nicht sie.
So weit muss es aber jetzt nicht kommen, oder?, fragt Jeanne. Außerdem ging Emma deshalb auf den Henkersplatz, weil sie den Burschen damit demütigen wollte, dass sogar im Angesicht des Todes ihre Liebe zu ihm größer und edler war als seine Feigheit, zu gestehen, dass nicht sie sein Verbrechen begangen hatte. Emma war stolz darauf, am Ende, stärker zu sein als er. Sie wusste, er würde sie nie vergessen.
Eigenartiger Stolz, sage ich.
Das ist Rache, sagt Jeanne. Ihn damit strafen, dass er mit ihrem Tod weiterleben muss.
Ich halte mich nicht damit auf anzumerken, dass es bestimmten Menschen hervorragend gelingt, gegenüber dem Tod anderer absolut gleichgültig zu bleiben und munter vor sich hin zu leben. Frauen wird bereits Hybris vorgeworfen, wenn sie sich gleichauf mit einem Mann empfinden. Ihr Tod jedoch ist in den Augen der meisten drittklassig. Und dann noch einer aus Liebe? Lachhaft.
Ich habe nie bemerkt, dass auch ich so wütend bin.
Und als ich es bemerkt habe, habe ich nicht geahnt, für wie viele Leben die Wut reichen muss.
Jeanne ist in Schweigen versunken. Ihr Tod nimmt sie mit.
Ich lasse mir deshalb Zeit, versuchsweise selbst zu handeln.
Ich weiß nicht mehr genau, wer ich bin, ohne Jeanne und ihren exakt ausgearbeiteten Rollencharakter.
Ich schaue umher. Aber in der direkten Nähe der Bar Central finde ich nicht, nach was ich suche.
Ich sage Jeanne in meinem Kopf, dass wir ihre Jacke hängen lassen werden und den Rollkoffer stehen und die Gabel so an den Teller legen, als würden wir gleich die lauwarm gewordenen Kroketten weiteressen.
Aber die Taschendiebe, sagt Jeanne.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Und nehme mir eine abgelesene Illustrierte vom Tresen, eine ¡Hola!.
Ich gehe langsam vorbei an Dutzenden Köpfen, die auf Fernseher starren, in kollektivem Entsetzen und in kollektiver Erleichterung, selbst noch am Leben zu sein. Wir sind alle allein mit unserer Angst vor dem Tod, und alle gleich darin.
Geduldig gehe ich die Hallengänge ab und zähle die Überwachungskameras. Vier.
An einem Tresen, an dem Salat und dickflüssige bunte Obstsäfte verkauft werden, finde ich, wonach ich suche.
Im Vorbeigehen nehme ich das Portemonnaie aus der rotledernen Handtasche der Frau, die sie mit dem Riemen über die Rückenlehne des Barhockers gehängt hat. Und vergaß, in dem Augenblick, als die Bilder aus den südfranzösischen Alpen kamen. Sie hat meine Größe, meine Augenfarbe, das muss reichen.
Sehr ruhig gehe ich in den nächsten Gang, lege das fremde Portemonnaie in die Mitte der aufgeschlagenen Zeitung, die so als Sichtschutz dient, nehme den Ausweis und den Führerschein, stecke beides in meine hintere Hosentasche, gehe zurück und lasse das Portemonnaie aus der zusammengerollten Zeitschrift zurück in die Tasche der Frau gleiten.
Ich wiederhole das Verfahren an einem anderen Tresen, der Stockfischbällchen verkauft und dazu das kräftige Mahou-Bier, und dasselbe tue ich an einem Stand mit Nähmaterialien, Knöpfen und riesigen Nadeln, und ich tue es noch einmal an einem Stand mit Wildfleisch, eingelegte Rehschenkel und Wildhasenwurst.
Ich bin taub und stumm, und in mir dröhnt es doch. Es ist, als suchte ich einen Weg durch Nebel, und der nächste Streifen Pfad zeigt sich erst, wenn ich ihn gehe.
Drei Frauen und einen Mann bestehle ich auf diese Art, ich nehme ihre Papiere, aber kein Geld. Geld hat Jeanne, die Scheine in verschiedenen Größen sind in ihrem Koffer, ihrer Tasche und im Innenfutter ihres Mantels verteilt.
Ich habe am Ende vier Ausweise und drei Führerscheine von Menschen, deren wesentliche Merkmale mir ähneln: Größe, Augenfarbe, Gesichtsschnitt, Alter. Irgendwas mit vierzig.
Sie werden denken, sie hätten sie verlegt oder irgendwo liegen lassen. Mit ein bisschen Glück. Mehr verlange ich gerade nicht.
Nur flüchtig erreicht mich die Erkenntnis, dass, kaum dass ich Jeanne loswerden könnte, schon wieder anfange, mir eine neue fremde Identität zu suchen, die ich mir überstreifen kann.
Aber gut. Eins nach dem anderen.
An einem Stand kaufe ich ein billiges braunes Tuch, ockerfarben, unfassbar scheußlich, und schlinge es mir statt des hellblauen Tuches um den Kopf. Keine Farben, damit mich die Sniper nicht finden.
Ich denke wieder an Emma May. Eine frühe viktorianische Rolle, sie hat Jeanne das gebracht, was man »Durchbruch« nennt; man steht auf einmal auf Gästelisten, und die Anfragen der Presse häufen sich genauso wie die Google-Abfragen nach »Jeanne Patou nackt«. Jeanne hat für Emmas Rolle ein Jahr Unterricht bei einem alternden Bühnenmagier genommen, dessen Finger kein Alter und keine Skrupel kannten. Er hieß Cleo, halb Mann, halb Frau, ganz Satyr. Ein Illusionszauberer und enthusiastischer Taschendieb.
Emma May stahl, log, prostituierte sich. Unschuldig schuldig, ein Opfer ihrer eigenen Liebe, eine beliebte Rolle für junge Frauen, die man gern halb bekleidet und mit aufgerichteten Brustspitzen auf großen Leinwänden sehen will. Am Ende stirbt immer die Frau in den Dramen, die von Männern geschrieben, von anderen Männern finanziert, von ihren Männerfreunden konzipiert und dirigiert und von Frauen angesehen werden, die glauben, die wahre Liebe erkenne man daran, dass sie wehtut.
Von Cleo hatte Jeanne das Stehlen gelernt, und da ich gerade nichts weiter zu tun hatte, lernte ich es auch. Schließlich waren es immer noch meine Finger, die ich Jeanne zur Verfügung stellte.
»Du musst es in Ruhe tun und innerer Vergnügtheit. Deine Hand ist schnell, doch in dir bist du langsam, du kennst keine Aufgeregtheit. Es ist wie beim Singen: Du denkst einen tiefen Ton, wenn du hoch singst. Wie beim Tanzen: Du atmest ruhig, während deine Beine sich schnell bewegen. Wie beim Stehlen: Du tust es verstohlen, und in dir bist du ganz offen, ganz selbstverständlich, denn es ist deins. Und warte auf einen Moment, an dem die Reizüberflutung hoch ist und dein Kunde in seiner Wahrnehmung völlig woanders.«
Cleo arbeitete mit Jeanne erst an Puppen, deren Kleidung Glöckchen trugen, die bimmelten, wenn sie zu ungeschickt war. Dann übte sie an ihm, und eines Abends vergnügten sie sich bei einer der César-Verleihungen - Cleo in seinem schönsten Kleid als schillernder Transvestit -, allen Männern die Schlüssel, Feuerzeuge, Visitenkarten und Koks aus Hosen- und Innentaschen zu ziehen und einem anderen wieder unterzuschieben. Es ist unglaublich, wie viele Männer Kleingeld und Fussel in Kleinfamilien in ihren Taschen aufziehen.
Was für ein herrliches Chaos wir anrichteten. Wir steckten Kondome in Taschen von Menschen, deren Ehen daraufhin kriselten, wir schmuggelten Kokstütchen in Mäntel, wir tauschten Autoschlüssel reihum und erfreuten uns an dem Streit auf den Parkplätzen und dem Stau der Taxis, die daraufhin gerufen wurden.
Einige Jahre später wurde Cleo erschlagen, auf der Straße.
Von irgendwelchen Bücklingen, die es nicht ertragen konnten, die Ironie, den Witz, die Cleo so zu eigen waren, und die Lust auf Pailletten und Ohrringe.
Cleo starb in der Gosse, allein.
Zurück an unserem Tresen in der Boqueria, beiße ich von den inzwischen kalt gewordenen Schinkenbéchamelkroketten ab, sie sind köstlich, ich stopfe mir Pata Negra nach, spüle alles mit Tempranillo herunter und lege die vier Ausweise vor mir auf die bunten Fliesen.
Und?, fragt Jeanne. Sie legt rasch die linke Hand über die Papiere.
Sie sind alle so groß wie ich, sage ich, zwei einige Jahre jünger, eine älter, der Mann ist mein Jahrgang, alle braune Augen, dunkles Haar, die Gesichtsform ist ähnlich, und das ist das Wichtigste: Wir werden Ausweise brauchen in den nächsten Tagen. Und Wochen. Und danach.
Danach?, fragt Jeanne. Gibt es denn ein Leben nach dem Tod?
Ich weiß es nicht.
Jeanne wünscht sich, ihre Hosen gegen Jeans zu tauschen, ihr raffiniertes Seidenoberteil gegen einfache Baumwolle, ihre halbhohen Stiefeletten gegen flache Turnschuhe. Sich das Make-up aus dem Gesicht zu reiben. Sie fantasiert davon, sich jetzt sofort und gleich Haarfärbemittel zu kaufen.
Stopp, sage ich. Das ist kein Film.
Ihre Panik schwillt. Sie denkt daran, dass sie heute früh vielleicht doch auf Kameras zu sehen gewesen ist, wie sie den Flughafen verlässt. Unschuldig, da noch völlig unschuldig. Dass die Kabinenchefin die Passagiere mit ihrem Handklicker doch durchgezählt hat, fehlt da nicht jemand? - nein, ich bin auf hundertvierundvierzig gekommen - na, gut, wir sind eh schon spät dran -, und dass die ganze Welt erfahren wird, dass Jeanne lügt, dass sie allen zumutet, um sie zu trauern....
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