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JIM IGOR KALLENBERG
Im Gespräch mit Georg Friedrich Haas
Jim Igor Kallenberg (JIK): Sex ist nicht Musik und Musik ist nicht Sex. Musik und Sexualität sind nicht identisch. Sie stehen in einem Verhältnis zueinander. Nach diesem möchte ich Sie fragen.
Georg Friedrich Haas (GFH): Warum fragen Sie das gerade mich? Weil ich mich als Angehöriger einer sexuellen Minderheit geoutet habe? Ich habe keine Ahnung, ob und wie meine Sexualität mit meiner Musik zusammenhängt. Ich weiß nur eines: Ich empfinde beim Komponieren eine tiefe spirituelle asexuelle Liebe - die ich ganz ähnlich empfinde, wenn ich meiner Frau das Gesicht streichle.
JIK: Da es oft anlässlich Ihrer Musik und Person vulgär verhandelt wird, wäre es mir ein Anliegen, das Verhältnis von Sexualität und Harmonik produktiv zu besprechen, anstatt polemisch - auch wenn ich niemandem den Spaß verderben möchte. Es gilt für beide Teile: Nicht nur die Sexualität, sondern auch die Harmonik wird oft polemisch und einseitig behandelt, so als ob etwa Mikrotonalität einfach den Tonvorrat um etliche Töne erweitern würde. So ließen sich Tonverhältnisse unendlich unterteilen und wir hätten dadurch unendlichen Fortschritt. Das ist nicht, worum es in der Musik geht. Das oberflächliche Ausschlachten dieser Fragen geht auf Kosten der sachlichen Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Sexus und Musik. Sexualität ist eine treibende Kraft unseres Handelns, Denkens und Lebens und also auch Komponierens. Musik andererseits hat nicht nur einen persönlichen Wert, sondern ein Werk steht zunächst für sich. Die Sexualität und die Musik sind jeweils selbstständige Ausdrücke menschlicher Aktivität und Formen menschlichen Lebens mit ihrer Eigendynamik. Sie artikulieren ihre jeweilige Emanzipation in je eigenen Formen und sind nicht restlos ineinander übersetzbar. Und doch stehen sie in einem Zusammenhang zueinander. Die Fragen, denen wir uns widmen könnten, wären, wie sich die Sexualität des 19. Jahrhunderts zur heutigen Sexualität bzw. wie sich die Harmonik des 19. Jahrhunderts zur gegenwärtigen Harmonik verhält. Und dann wäre nach dem Zusammenhang bzw. dem Verhältnis beider zueinander zu fragen.
GFH: Selbstverständlich steht es Ihnen frei, das Verhältnis zwischen Harmonik und Sexualität produktiv zu verhandeln, wie immer Sie das tun wollen. Da würde ich aber die Frage stellen: Wovon sprechen wir? Von der Sexualität an sich - oder von dem Bild, das wir uns von ihr machen? Von der Harmonik an sich (Schwebungen, Verschmelzungen, Reibungen etc.) - oder von dem Bild, das wir uns von ihr machen (d. h. Notation und verbale Benennung der Harmonien)?
JIK: Beides hängt zusammen und betrifft beispielsweise Form, Melodie und Harmonik: Es werden über bestimmte Relationen Spannungen, Höhepunkte, wie Sie sagen: Schwebungen, Verschmelzungen, Reibungen provoziert. Eine andere Harmonik würde sich eine andere Gestaltung geben müssen. Und ebenso würde die Sexualität, die sich in dieser Gestaltung wiederfindet und in ihr wirkt, eine andere Sexualität. Erlauben Sie mir die platte Formulierung: Vielleicht eine Musik, die nicht auf Höhepunkte angewiesen ist - wobei Sexualität ohne Spannung und mindestens projizierte Höhepunkte dem Begriff der Sexualität möglicherweise überhaupt widerspricht. Doch wie die Überwindung der Tonalität eine Utopie ist, so mag es die der Sexualität sein.
GFH: Auf die enge Verbindung zwischen sexuellen und musikalischen Höhepunkten in der Kunstmusik des 19. Jahrhunderts hat Susan McClary bereits vor Jahrzehnten hingewiesen. Ich erinnere mich an einen Vortrag von ihr in Darmstadt, wo sie ausführlich über die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Orgasmus sprach und das in die Musik übertrug. Auch Orchestermusiker wissen das und machen ihre derben Witze darüber (hier kann ich auf das Binnen-i verzichten). Ihre Formulierung Doch wie die Überwindung der Tonalität eine Utopie ist, so mag es die der Sexualität sein weise ich entschieden zurück. Die darin enthaltene Gleichsetzung von Überwindung der Tonalität und Überwindung der Sexualität ist falsch. Sexualität ist ein angeborenes Naturphänomen. Tonalität ist das nicht. Die »Überwindung der Sexualität« ist keine Utopie, sondern eine Unmenschlichkeit. Die Tonalität ist nicht »überwunden«. Sie ist verloren gegangen.
Der Verlust der Tonalität ist schmerzhaft.
Schönberg konnte noch daran glauben, dass man auf die Tonalität verzichten kann, und alles andere grundsätzlich beibehalten. Aber leider, es ist wirklich schmerzlich: Leider ist dem nicht so. Alles ist verloren: Die Klassifikation von Akkorden, das Verhältnis zwischen Harmonie und Melodie, die metrische Ordnung, die traditionellen Formprinzipien . Dafür ist ein unendlicher Reichtum an neuen Möglichkeiten in Klang und Zeit gewonnen. Fassungslos stehe ich vor diesem Reichtum und weiß, dass mein Leben zu kurz ist, um mich in dieser neuen verwirrenden Schönheit sicher zu orientieren. Meiner Meinung nach gibt es da eine Parallele zur ars nova des 14. Jahrhunderts: Die Musik tastete sich damals in einen neuen Raum vor, der erst später von Ockeghem und Dufay ausgelotet wurde.
Mir ist heute nur möglich, erste Schritte in dieser neuen Welt zu gehen. Die nächsten Generationen von Komponist*innen werden weitermachen. Was ich als Kompositionsprofessor versuche: zu lehren, in Musik zu denken. Nicht über Musik.
JIK: Ich dachte, als Sie Schönberg ansprachen, an die Oktavfrage: Die Identität der Oktave ist der Grundpfeiler der traditionellen Harmonik. Müsste nicht die mikrotonale Herangehensweise auch damit brechen, insofern als die Oktave einen eigenen Valeur hat.
GFH: Nicht müsste, sondern muss. Das ist einer der grundsätzlichen Lehrinhalte meiner Vorlesung »music beyond 12 tone system« an der Columbia University in New York. Erlauben Sie mir, einige Beispiele zu bringen:
Ein C-Dur-Akkord bleibt auch in der ersten Umkehrung ein C-Dur Akkord, ein wenig anders (Sextakkord), aber im Prinzip dasselbe (Notenbeispiel 1a).
Notenbeispiel 1a
Der Dreiklang ´-a´-vierteltönig erniedrigtes c? klingt beinahe rein - eine vierteltönige Annäherung an die Obertonreihe (4 : 6 : 7). Setzen wir das ´ eine Oktave höher, wird daraus ein abstrakter Klang aus zwei gleich großen Intervallen (jeweils Ganzton+Viertelton), eine mathematisch genaue Halbierung einer reinen Quarte. Eine klangliche Verwandtschaft zwischen diesen beiden Akkorden ist nicht zu erkennen (Notenbeispiel 1b).
Notenbeispiel 1b
Ein Obertonakkord bis zum 11. Teilton klingt homogen, die allmählich immer kleiner werdenden großen Sekunden verschmelzen in diesem Register. Setzen wir den 11. Teilton eine Oktave tiefer, hören wir ein unangenehm dichtes Tonbündel zwischen e´ und g´, der ursprünglich beinahe konsonant empfundene Akkord wird sehr schräg (Notenbeispiel 1c).
Notenbeispiel 1c
Dasselbe Intervall ändert in unterschiedlicher Oktavlage die Bedeutung. Der Unterschied zwischen temperierter kleiner Septime und der Obertonseptime 3 : 7 ist im mittleren Register sehr groß. Zwei Oktaven tiefer ist der Unterschied zwischen diesen beiden Intervallen kaum wahrnehmbar (Notenbeispiel 1d).
Notenbeispiel 1d
In meinem »Office« an der Columbia University stehen drei unterschiedlich gestimmte Pianinos. Dort kann ich diese Beispiele (und noch viel mehr) akustisch vorführen.
In der Vergangenheit war die Oktavposition zwar kaum Inhalt der Musiktheorie, aber in den großen Werken ist die Sorgfalt spürbar, mit der diese Positionen gesetzt wurden. In Beethovens Klaviersonaten z. B. sind die Register strukturell. In Mendelssohns Klangkompositionen sind die Oktavpositionen der Töne (und ihre Instrumentation) musikalisch sinnstiftend. Es gibt ein Fragment eines Hornkonzerts von Wolfgang Amadé Mozart, das von seinem Schüler Franz Xaver Süßmayr vollendet wurde. In Mozarts Instrumentation hat der D-Dur-Akkord die Lage des Obertonakkordes, und in Süßmayrs Instrumentation befinden sich lediglich d, fis und a in verschiedenen Oktavlagen - da wird der Unterschied zwischen einem Meister und einem Nicht-Meister messbar.
JIK: Ich würde das als wesentlichen Aspekt der Emanzipation der Dissonanz fassen, insofern es den Vorrang und das Recht des Besonderen gegen das Allgemeine hat. Die Bindung an und Reduktion des Einzeltones auf die Funktion in der Grundtonart korrespondiert der Reduktion der Partialtriebe als Funktion unter dem Genitalprimat in der Sexualität. Und an dieser Stelle begegnen sich vielleicht sexuelle und tonale Emanzipation, oder zumindest beide in der Musik moderner Gesellschaften als Ausdruck von Freiheit und zugleich als dem Ort, an dem künstlerische Tabus und Sexualtabus analog sind, wo also Sexualität und Musik auf gemeinsame Hindernisse treffen und entsprechend die Emanzipation der Dissonanz und die sexuelle Emanzipation im Verbund agieren, ohne identisch zu sein.
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