Schweitzer Fachinformationen
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Wegwerfen heißt, eine Gelegenheit zu vergeuden - häufig die beste. Aber was soll man bloß anfangen mit einem wilden Mix aus Verbindungskabeln, zwei durchgebrannten Glühbirnen, einem Seekartenkompass, einer Trillerpfeife, einer Packung Latexhandschuhe, achtzehn Seifenresten, fünfunddreißig leeren Klopapierrollen, einem Rokokotischchen, von dem ich ein Bein repariert habe, einer wasserdichten Folie, einer Solartaschenlampe, einem geschnitzten Spazierstock, einem Lampenschirm ohne Lampe und einem Brieföffner mit eingravierter Blume?
Doch genau darum geht es: Alles kann früher oder später nützlich sein. Das, was du davor rettest, weggeworfen zu werden, kann eines Tages dich retten.
Manche Menschen gehen bis ans Ende der Welt, um ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen, ich bin nach Mailand gekommen. Vor fünf Jahren, um meine Großmutter um Rat zu fragen. Ich war mutterseelenallein auf der Welt, und sie war die Einzige, die mir helfen konnte, aber in der Nacht vor meiner Ankunft ging sie mit leichten Kopfschmerzen früh zu Bett und stand nicht mehr auf. Sie hinterließ mir nichts außer meiner Traurigkeit, einer Werkzeugtasche und der kleinen Keramikgans, die ich in meiner Tasche trug.
Das Viertel war genauso, wie ich es als Kind in Erinnerung hatte: die kleinen Läden, das Kopfsteinpflaster, die Straßenbahn, die kleine Brücke, die Kirche. Es war perfekt und hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Deshalb überschreite ich nie seine Grenzen. Man weiß nie, was einem draußen so alles passieren kann.
Im Norden trennt uns die Umgehungsstraße vom Zentrum. Sie ist ringförmig angelegt, und auf ihr sind tagaus, tagein die unterschiedlichsten Gestalten unterwegs. Da hasten Leute mit Laptoprucksäcken ins Büro, die zuweilen aussehen, als wären sie lieber woanders oder als stellten sie sich gar die Frage: »Wer zwingt mich eigentlich dazu?« Keine Wahl zu haben, kann auch eine Erleichterung sein, denn sobald man glaubt, man sei der Schöpfer seines eigenen Schicksals, wird alles zum Kampf: Verliert man, hat man persönlich versagt. Menschen wie sie würde ich am liebsten in den Arm nehmen und zu ihnen sagen: Bei dem Thema kenne ich mich aus.
Dann sind da noch die, die sich den ganzen Tag auf der Ringstraße aufhalten und Tüten und Taschen aller Arten mit sich herumschleppen, in denen sich ihr ganzes Leben befindet, weil sie kein Zuhause mehr haben. Menschen, die erst hineingesaugt wurden in die Großstadt, um anschließend von ihr wieder ausgespuckt zu werden. Sie sind einsam und schemenhaft wie Gespenster und haben immer eine Geschichte zu erzählen. Das weiß ich von Angelina, denn sie nimmt sich die Zeit, ihnen zuzuhören, wenn sie im Il Nulla, ihrer Imbissbar, auftauchen. Zumindest eine Möglichkeit, ihnen ihre Existenz wiederzugeben. Ich habe Angelina einmal darauf angesprochen, und sie hat mir recht gegeben.
Manchmal, wenn mir einen ganzen Tag lang kein Mensch in die Augen schaut, frage ich mich, ob ich überhaupt noch auf der Welt bin. Wenn im Wald ein Baum umfällt und niemand das hört, macht er dann ein Geräusch? Ich glaube nicht: Die Welt kann nicht existieren, wenn es niemanden gibt, der sie wahrnimmt. Und auch wir existieren nur, wenn uns jemand ansieht, uns zuhört, erkennt, dass wir da sind. Nicht zuletzt aus diesem Grund schaue ich gern im Nulla vorbei, um Angelina zu helfen. Ich rede vielleicht nicht viel, aber ich höre zu und fühle mich so lebendig.
Auf der vom Verkehr verstopften Ringstraße bewegen sich auch viele Menschen, die weder Fisch noch Fleisch sind, Raupen, die noch nicht wissen, ob sie sich in Schmetterlinge verwandeln werden. Wird auch in ihrem Blick eines Tages die Frage liegen: »Wer zwingt mich eigentlich dazu?« Werden sie ein Wägelchen mit all ihren Habseligkeiten hinter sich herziehen? Oder werden sie die Abende mit Blick auf die Skyline in einer Penthousewohnung im Stadtzentrum verbringen? Werden sie dorthin zurückkehren, woher sie gekommen sind? Werde ich ihnen auf dem Treppenabsatz wiederbegegnen?
Es ist ein ruhiges Viertel, in dem ich wohne. Im Osten und Westen wird es von den zwei Navigli begrenzt, ein Umstand, den man nicht unterschätzen sollte. Das Wasser in den Kanälen erinnert einen daran, dass man jederzeit den Anker lichten und in See stechen kann. Dann bleibe ich stehen und schaue zu, wie es vorbeifließt. Das schenkt mir ein Gefühl von Leichtigkeit, von Freiheit, als könnte ich eines Tages von vorne beginnen, die Vergangenheit wie einen alten Schrank zerlegen und einen neuen daraus zusammenbauen.
Leute, die mich beim Angeln im Kanal antreffen, scheinen diesen Umstand seltsam zu finden. Aber ist es nicht viel abwegiger, eine Tiefkühlsuppe aus dem Supermarkt zu essen, für die acht verschiedene Fische und Krustentiere aus Indien, China, Peru, Griechenland, Argentinien und Indonesien importiert wurden, um dann ganz woanders mit Sulfiten und anderen Zusatzstoffen vermengt und haltbar gemacht zu werden? Vielleicht wäre es die Mühe wert, meinen Standpunkt darzulegen, aber ich traue mich nicht. Ich mag die Menschen. Ich will, dass sie mich mögen. Deswegen halte ich lieber den Mund, wenn sie mich schief ansehen, und lächle, als wollte ich mich dafür entschuldigen, eine so merkwürdige Type zu sein.
Ehrlich gesagt, auf meiner Arche Noah würde ich keinen Supermarkt haben wollen. Warum sollte man dort - zum Beispiel - ein Shampoo kaufen, in dem Paraffin steckt, das wiederum ein Erdölderivat ist, wenn man sich die Haare ebenso gut mit einem Brei aus Kichererbsenmehl und lauwarmem Wasser waschen kann? Und warum eine in Übersee hergestellte Blumenvase erwerben, wenn es eine leere Waschmittelflasche aus Plastik genauso tut? Und damit meine ich eine Plastikflasche, die ich auf der Straße gefunden habe, weil eigentlich auch kein Grund besteht, ein Waschmittel zu kaufen, wenn es schließlich Essig, Kernseife und Natron gibt.
Wir verbringen unsere Zeit damit, Berufe auszuüben, die uns nicht gefallen, um anschließend Dinge zu kaufen, die wir nicht benötigen. Letztlich braucht es nur ein wenig Einfallsreichtum, um gut zu leben. Weniger arbeiten und sich dafür mehr Gedanken machen, sagte mein Vater immer.
Arbeit gibt es genug auf dieser Welt, und ich bin in unserem Wohnblock quasi das Mädchen für alles. Aber die Leute trauen mir oft nichts zu. Handwerkerin gilt nicht als Frauenberuf. Handwerkliche Allrounder sind meistens muskelbepackte Männer in Overalls. Einen Overall trage ich auch, allerdings eine Latzhose aus Jeansstoff, auf deren Beine ich zwei Taschen genäht habe, und wer einmal die Erfahrung gemacht hat, wie viele Dinge ich reparieren, zusammenbauen, auseinandernehmen, reinigen und neu einstellen kann, der beauftragt mich normalerweise immer wieder.
Man bräuchte nicht viel, um gut zu leben. Außer besagtem Einfallsreichtum vielleicht noch ein bisschen gute Laune. Aber gute Laune lässt sich nicht so einfach herstellen, und viel davon ist nicht in Umlauf.
Manche sagen, allein zu leben sei traurig, vor allem wenn man erst siebenundzwanzig Jahre alt ist wie ich. Aber wenigstens ist niemand entsetzt, wenn ich mit Salat zwischen den Zähnen lächle oder zwei unterschiedliche Socken trage. Und allein bin ich letzten Endes auch nicht. In meinem Leben gibt es die Signora Dalia, die als eine Art Concierge für das ganze Haus fungiert; Trofeo, meinen fünfundsechzig Jahre alten Nachbarn, der nie den Mund aufmacht; Angelina, die Besitzerin der Imbissbar Il Nulla, und ihren Sohn Eugenio, der unbedingt Busfahrer werden will. Ganz zu schweigen von den Ladenbesitzern im Viertel und den vielen Leuten, die mir auf meinem täglichen Rundgang über den Weg laufen, mir zulächeln und mich manchmal sogar grüßen. Das sind wahre Wohltaten, Höhepunkte des Tages. In diesen Momenten fühle ich mich eins mit dem Leben, und die Zukunft macht mir etwas weniger Angst.
Denn manchmal wache ich mitten in der Nacht mit wild klopfendem Herzen auf und habe das Gefühl, wieder auf dem Land zu sein. Ich sehe meinen Vater mit seinem zauseligen Bart und dem karierten Hemd in der Tür stehen und höre ihn sagen, dass man sich Albträumen stellen muss, weil sie nun mal zum Leben gehören. Mein Vater stellte sich seit zwanzig Jahren seinen Albträumen. Zu gewissen Zeiten hatte auch ich täglich neue, die mir jedes Mal einen gehörigen Schrecken einjagten, aber das offenbarte ich nur meinem Bruder Andrea. Er hatte in einem Buch, das er auf der Straße gefunden hatte, gelesen, dass Albträume die Folgen von psychischem Stress seien. Wahrscheinlich leide ich unter diesem Stress, sagte er, und das war der Grund, weshalb ich ab einem bestimmen Zeitpunkt nicht mehr mit ihm darüber sprach. Hatte ich einen Albtraum, behielt ich ihn für mich und versuchte, ihn zu vergessen. Die Vorstellung, dass mit mir etwas nicht in Ordnung war, das nicht geheilt werden konnte, verursachte mir Herzrasen.
Albträume habe ich noch immer, manche wiederkehrend, und ich habe noch immer nicht gelernt, damit umzugehen. Der schlimmste zwingt mich, Nacht für Nacht etwas zu erleben, das wirklich passiert ist. Meinetwegen.
Ich wache schweißgebadet auf, und meine Hände zittern so stark, dass ich nicht einmal nach dem Glas Wasser greifen kann, das auf meinem Nachttisch steht. Ich muss mich aufsetzen und tief durchatmen, bis ich mich wieder beruhigt habe und meine Angst verschwindet. Oder zumindest weniger wird. Die Welt kann für jeden beängstigend sein, für manche sogar noch ein bisschen mehr.
Ich bekomme solche Panikattacken auch tagsüber in den unmöglichsten Momenten. Während ich Zucchini schneide, einen Spülkasten repariere oder einen Schatz nach Hause trage, den ich unterwegs gefunden habe. Das Blut schießt mir in Arme und Beine,...
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