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Der schönste Sommer meines Lebens war der 10. Dezember 1982. Das mag merkwürdig klingen, aber meine Eltern waren noch merkwürdiger. Merkwürdig und genial darin, den Widrigkeiten des Lebens ein Schnippchen zu schlagen und das Beste aus jeder Situation zu machen.
Wie im Juni jenes Jahres 1982, als ich acht Jahre alt war und es mir vor Aufregung in der Brust kribbelte, weil die Schule zu Ende ging und der Sommer anfing, und wenn es auf der Welt jemanden gibt, der das nicht für den schönsten Moment des Jahres hält, dann kenne ich ihn nicht und will ihn auch gar nicht kennenlernen.
Doch dann bin ich an ebenjenem ersten Ferientag von einem Baum gefallen und gute Nacht.
Ich klaute gerade den Amseln die Kirschen, die sie wiederum dem Besitzer des Feldes klauten, auf dem der Baum stand. Nur dass der Besitzer plötzlich zurückkam, die Amseln stiebend von den Zweigen aufflogen und ich ihnen hinterher. Dann fiel mir ein, dass ich keine Flügel habe, dafür aber hatte ich kurz darauf ein gebrochenes Bein.
Tschüss, Kirschen, tschüss, Sommer.
Der riesige, schwere Gips zog mich tief hinunter in den Morast der Langeweile, während meine Cousine Alessandra und die anderen Kinder ans Meer rannten und nicht einmal Zeit hatten, auf meinem harten weißen Bein zu unterschreiben. Die einzigen Unterschriften waren vom Postboten, dem Besitzer des Kirschbaums und von Papa und Mama. Die unter ihren Namen noch dazugeschrieben hatten: Sei nicht traurig, Fabio, du wirst den Sommer nicht verpassen, der Sommer wartet auf dich.
Und an den öden, heißen Nachmittagen habe ich diese Worte wieder und wieder gelesen und sie zwar nicht verstanden, aber sie klangen gut. Dann kam der 10. Dezember, und da wurde mir alles klar.
Nicht sofort, im ersten Moment bin ich von der Schule gekommen, habe die Tür aufgemacht, und mir schwallten tausend Grad Hitze entgegen. Vielleicht waren es auch nur dreißig, aber jedenfalls verdammt heiß, wenn du mit Wollpulli und Mantel von draußen kommst, wo es eiskalt ist.
»Was ist denn hier los?«, habe ich meine Eltern gefragt. »Was ist das für eine Hitze?«
»Tja, so ist es halt im Sommer«, haben sie mir in Badeanzug und Badehose geantwortet. Dann haben sie mich geschnappt und mich ausgezogen, und schon war auch ich in Badehose.
Die Heizungen auf volle Pulle und ein Elektroofen, der brühheiße Luft ausspuckte, im Wohnzimmer, wo auf dem Boden statt des Teppichs zwei Strandtücher lagen, und daneben stand die Kühlbox, die Papa immer mit zum Angeln nahm, voll mit Eis und einer halben Wassermelone, wer weiß, wo sie die im Dezember aufgetrieben hatten.
Die haben wir gegessen, und dann ab ins Bad, die Badewanne war schon voll, und wir sind zu dritt rein, haben gelacht und uns gegenseitig nass gespritzt. Nach einer Weile habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass wir den Bauch voller Wassermelone haben und man eigentlich mindestens drei Stunden warten sollte, bevor man ins Wasser geht. Aber sie haben gelacht und mir erklärt, das sei vollkommener Quatsch, das bekämen die Kinder von ihren Eltern zu hören und glaubten dran, und wenn sie größer würden, erzählten sie es dann wieder ihren Kindern und den Kindern ihrer Kinder, und so habe diese Legende von den drei Stunden die Jahrtausende durchquert und bis zum heutigen Tag überlebt. Bis zum 10. Dezember 1982. An dem sie allerdings für immer starb.
Und noch so ein Quatsch war der Kalender: Denn ihm zufolge war schon fast Weihnachten, dabei waren wir gerade erst Baden gewesen, und jetzt lagen wir auf den Handtüchern im Wohnzimmer, um uns zu sonnen und im Kreuzworträtselheft zu blättern.
Dann hat es geklingelt. Ich bin aufgestanden und zum Fenster gerannt, und am Gartentor stand Onkel Ettore mit nacktem Oberkörper und einem Korb unter dem Arm. Er zitterte vor Kälte, denn da draußen war es keineswegs so sommerlich wie bei uns, also habe ich aufgemacht, und er ist schnell rein, hat gehustet, geflucht und dann angefangen zu rufen: »Kokosnuss! Leckere Kokosnuss!«
In seinem Korb hatte er Kokosnussstückchen, schon gewaschen und fertig, er hat uns welche gegeben, und zusammen mit ihm haben wir auch die gegessen, während er mir einen schmutzigen Witz erzählt hat, und obwohl ich ihn nicht wirklich verstanden habe, musste ich ziemlich viel lachen.
Aber nach der Kokosnuss und dem Witz ist mein Lächeln mit der sinkenden Sonne draußen vor den Fenstern langsam untergegangen, denn sie erinnerte mich daran, dass ich bis zum nächsten Tag noch eine Menge Hausaufgaben machen musste.
»Ach was«, hat Mama da gesagt, »im Sommer sind doch Ferien und keine Schule.«
»Ja, Mama, aber morgen ist Schule.«
Und sie: »Nein, Fabio, morgen ist keine Schule - wenn du nicht hingehst.«
Ich habe sie angeschaut, ich habe Papa angeschaut, und sie haben mich auf eine Art und Weise angeschaut, dass es unmöglich war, einander nicht in die Arme zu fallen. Also haben wir uns ganz feste gedrückt, so feste, dass alles ringsum angehalten hat. Auch die Welt. Auch die Zeit.
Und als die Schule dann auch für mich wieder losgegangen ist, ließ uns die Lehrerin doch tatsächlich einen Aufsatz zum Thema Erzähle von deinem schönsten Sommer schreiben, und ich habe geschrieben, dass meiner im Dezember gekommen ist, und sie hat zu mir gesagt, das wäre nicht möglich.
Aber das war nicht ihre Schuld. Sie war ja nicht dabei, als meine Eltern die Grenze verschoben haben. Denn das ist es, was das Mögliche vom Unmöglichen trennt: eine irgendwann zufällig gezogene Grenze wie die zwischen zwei Staaten, die wer weiß was zu sein scheint, aber wenn du dort ankommst, ist es bloß ein weißer Strich auf dem Boden mit ein paar Grenzschutzsoldaten hier und ein paar da, in verschiedenen Uniformen.
Und doch hat es Jahrhunderte voller Kriege und Berge von Toten gebraucht, um diese Grenzen auf der unermesslichen, freien Erde zu ziehen, dann schauen wir hoch und sehen, dass wir schon auf die eine oder die andere Seite verbannt sind, Gefangene von Schranken, die wir uns selbst gesetzt haben.
Wie als die Lehrerin uns in der ersten Klasse an Weihnachten für zu Hause aufgegeben hatte, den Weihnachtsmann zu malen, nur dass ich, als ich fast fertig war, den von meiner Cousine Alessandra angeschaut habe, die zwar noch im Kindergarten war, mir aber hatte Gesellschaft leisten wollen. Ihrer war wunderschön. Er sah aus, als wäre sie zum Nordpol gereist und hätte ihn fotografiert, und auf dem Foto war der Weihnachtsmann wirklich gut getroffen. Wenn ich ihn also schon nicht so realistisch wiedergeben konnte, dachte ich, viel hilft viel: Ich malte ihm einen riesigen Bart, der sich mit seinen langen, überall unter seiner Mütze hervorschauenden Haaren vermischte, während ich auf seinen roten Mantel ein Kilo Tempera kippte, um ihn farbenfroher zu machen. Doch ich bin farbenblind und habe statt Rot Braun genommen. Und die Augen wollte ich riesengroß machen, aber je mehr ich daran arbeitete, desto boshafter wurden sie wie auch das tausendzahnige Lächeln auf dem riesigen Mund. Kurz, am Ende war mein Weihnachtsmann kein Weihnachtsmann mehr:
»Das ist ein Wolfsmensch«, hat Alessandra etwas verängstigt gesagt.
Und noch verängstigter war ich selbst. Ich hatte ihn in meinem Zimmer aufgehängt, und nachts konnte ich vor Angst nicht schlafen. Angst vor einem schrecklichen Monster, das ich mir selbst gemalt hatte.
So sind Grenzen. Erfundene Begrenzungen, die uns einengen und den Horizont vor und hinter uns abschnüren.
Aber ebenso, wie man das Bild vom Weihnachtsmann abnehmen und in eine Schublade werfen kann, lassen sich zum Glück auch die Grenzen verschieben.
Alle, nicht nur die zwischen zwei Ländern, sondern auch die tyrannischeren, konkreteren, wie Mauern, die früher oder später einstürzen, wie Flüsse, die bei Hochwasser ihren Lauf ändern. Der Mississippi beispielsweise ist riesig, der Mississippi ist elfmal so groß wie Italien. Elf flüssige Italiens, die in dieselbe Richtung fließen und mit ihrem über die Jahrtausende in die Erde gegrabenen Verlauf die Grenzen ziemlich vieler der Vereinigten Staaten bestimmen.
Und doch kann der Mississippi bei heftigem Hochwasser manchmal seine Route ändern. Vielleicht verliert er an einer Stelle, wo er einen weiten Bogen gemacht hat, eines Tages die Geduld und beschließt, geradeaus zu fließen, und ein Stück Land, das vorher auf der einen Seite war, befindet sich plötzlich auf der anderen. Kurz, man geht mit dem Fluss zur Rechten ins Bett, und wenn man am nächsten Morgen aufsteht, ist er links. Was vielleicht nichts Weltbewegendes zu sein scheint, aber wenn es in den richtigen Jahren an der richtigen Grenze passierte und du schwarz warst, bist du als Sklave in Missouri eingeschlafen und in Illinois wieder aufgewacht, an deinem ersten Tag als freier Mensch.
Genau so, ich schwörs. Das passiert bei Flüssen, Mauern und auch bei Bergen. Und sogar bei den starrsten und gefürchtetsten Grenzen von allen: denen, die wir in uns drin ziehen. Zwischen schön und hässlich, früh und spät, richtig und falsch. Und ebendiese furchtbare Grenze zwischen möglich und unmöglich, zwischen dem, was wir gerne tun würden, und dem, was man tun darf. Und da halten wir an, lahmgelegt von einem Strich.
Aber hin und wieder kommt plötzlich ein Gefühlshochwasser, und eine außergewöhnliche, unwiderstehliche Flut hebt uns hoch und schleudert uns nach drüben, auf die andere Seite, wo unsere Träume weiden. Dabei spült sie Regeln, Gewohnheiten, Pläne und Vorhersagen weg, all die von kurzen und vorsichtigen, immer gleichen Schritten in den Fels gegrabenen...
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