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Gehen wir mal anderthalb Jahrhunderte zurück.
Ein ganz schöner Sprung, und dann noch mal zwei Jahrhunderte. Das ist schon in Ordnung, hier gibt es keinen Zeitplan. Wir kochen ja keine Spaghetti, wir folgen einem Traum, und Träume laufen sprunghaft ab und wie sie wollen, sie tanzen nach ihrer ganz eigenen, unvorhersehbaren Musik.
Im Schnitt verbringen wir sechs Jahre unseres Lebens damit, zu träumen. Als ich das gelesen habe, kam mir das zunächst sehr viel vor - sechs Jahre träumen - und dann sehr wenig. Aber eigentlich habe ich keine Ahnung, weil die Zeit gerade bei Träumen nicht funktioniert. Also springen wir anderthalb Jahrhunderte zurück, das ist nicht schwer, wenn wir den Ballast von Uhren, Terminkalendern und vollen Wochenplanern abwerfen. Weg damit, und auf geht's.
Bis auf eine Jacke vielleicht, die brauchen wir noch, denn wir fahren zu den Kanaren, und da ist es immer windig.
Und doch liegt die Alecton hier jetzt reglos mitten auf dem Ozean. Denn stärker als der Wind ist ein Schrei vom Ausguckposten, der etwas gesichtet hat.
Ein feindliches Schiff, ein halb gesunkenes Wrack? Was sieht er da von der Spitze des Großmastes aus? Das fragt ihn auch Kapitän Bouyer, aber eine Weile ist nur der Wind zu hören, der noch mehr von seiner Kraft einsetzt wie ein Freund, der dir aus der Patsche helfen will. Dann die Antwort vom Ausguck, die einzig mögliche:
»Es ist . es ist riesig.«
Der Kapitän greift zum Fernrohr, zwängt seinen Blick hinein, lässt ihn über den ruhigen Ozean schweifen, hin und her, hin und her, und sieht nichts. Aber er verharrt noch regloser als sein Schiff, als ihm klar wird, dass das, was er am Horizont sucht, selbst der ganze Horizont ist. Unermesslich groß und dunkel taucht es auf und verschwindet, taucht auf und verschwindet.
Dabei hatte Bouyer einen einfachen Plan, er wollte reibungslos und ohne Verspätung in Französisch-Guyana ankommen, bei seinen Vorgesetzten glänzen und eine weitere Stufe der militärischen Karriereleiter hochklettern. Aber da vorn ist dieses Ding, schlimmer noch, es ist nicht vorn, es ist überall, und es ruft ihn. Also kratzt er das letzte bisschen Luft zusammen, das ihm nicht weggeblieben ist, und gibt seinen Befehl: Beidrehen und auf dieses Ding zuhalten.
Und so geht die Alecton, während sie vom geplanten Kurs abweicht, in die Geschichte ein.
Heute, am 17. oder am 30. November 1861. Die einen sagen dies, die anderen das. Aber eigentlich ist es der 30., das habe ich mir gemerkt, weil am 30. November meine Großmutter Giuseppina Geburtstag hatte.
Was jetzt gar nichts damit zu tun hat, aber doch auch sehr viel. Alles hat mit allem zu tun, das habe ich besonders von meiner Großmutter gelernt, in dem Sommer, den ich mit ihr in den Bergen verbrachte.
Ich war zehn Jahre alt, es war der letzte Schultag, ich war rausgeflitzt und wollte schnurstracks ans Meer, das nur einen Steinwurf entfernt war und mich seit einem Monat mit seiner Stimme aus den Wellen rief. Es strich mit ihnen über den Strand und zog sie zurück, vor und wieder zurück, als streichelte es die Haut der Erde und wollte mir sagen: Ich komme und hole dich, ich hole dich ab. Stattdessen holten mich an dem Tag meine Eltern ab, packten mich ins Auto, und los ging es in die Berge zu meiner Großmutter, sie luden mich bei ihr ab, und weg waren sie.
Vielleicht hatten sie mich satt. Vielleicht wollten sie noch mal von vorn anfangen, und ich war im Weg. Vielleicht hatte ich einen Fehler gemacht, als sie mich gefragt hatten, wie ich es denn fände, wenn ich ein Geschwisterchen bekäme, und ich geantwortet hatte, kein Problem, ich bräuchte nur vorher eine eigene Wohnung.
Also habe ich, als sie wegfuhren, geschrien, es wäre okay, wenn dieses Geschwisterchen käme. Ich könnte mich wahrscheinlich daran gewöhnen, es sei nicht nötig, mich in den Bergen auszusetzen. Da erklärte mir meine Mutter, es gebe kein Geschwisterchen, allerdings auch kein Geld, sie müsse den Sommer über in einer Pension putzen gehen und niemand könne auf mich aufpassen. Außer Großmutter Giuseppina, die vor ein paar Monaten hier hoch in die Garfagnana gezogen sei, aus mysteriösen Gründen.
Also Berge, Wälder, Tiere und ein kleiner Lebensmittelladen mit einer Tanzfläche nach hinten raus, soll heißen einem Stück Wiese und einer Jukebox mit nur einem Song, »Ti amo« von Umberto Tozzi.
So verbrachte ich dann meine Nachmittage, ich tanzte allein und sang das Lied auswendig mit, doch es waren Liebesworte, die ich nicht verstand, und zum Abendbrot ging ich mit dem Kopf voller Gedanken nach Hause. Aber an diesem Abend vergaß ich sie alle, denn draußen war es noch hell, während in der Küche die Fensterläden schon geschlossen waren und Dunkelheit herrschte. Nach einer kleinen Weile sah ich, dass meine Großmutter am Herd saß und in eine Ecke starrte.
Und wenn etwas noch merkwürdiger ist als deine Großmutter, die im Dunkeln sitzt, so ist das, wenn sie im Dunkeln zu flüstern anfängt:
»Pommes frites? Eine Pfanne Pommes frites, wie ich sie immer mache?«
Ein bisschen in der Hoffnung, dass sie nicht verrückt geworden war, und ein bisschen, weil Pommes frites mein Lieblingsessen waren, beschloss ich, dass sie mich meinte. »Ja, danke, Großmutter!«
Aber sie schreckte hoch und fuhr mit weit aufgerissenen Augen herum. Ihre Augen waren die schönsten der Welt. Denn tatsächlich war es gelogen, als ich später im Leben einer anderen Person sagte, sie hätte die schönsten Augen der Welt. Meine Großmutter hatte die schönsten Augen, und die waren jetzt im Dunkeln weit aufgerissen.
»Fabio, du bist das! Mammamia, hast du mich erschreckt!«
Sie ging zum Fenster, öffnete die Läden, und die Sonne stürzte mir ins Gesicht wie ein Eimer voll Licht.
»Entschuldige, Großmutter, das wollte ich nicht . geht es dir gut?«
»Ja, ja, bestens.«
»Was machst du denn hier?«
»Nichts, ich habe mich vor dem Abendessen nur ein bisschen ausgeruht.«
»Soso, alles klar. Aber wie wär's mit einem Deal, Großmutter? Ich esse heute Abend wie ein Scheunendrescher, und du sagst mir dafür jetzt die Wahrheit.«
Ich war nämlich ziemlich dünn, ich hatte nie Hunger, und sie und meine Mutter machten sich deswegen immer Sorgen. Um mich aufzupäppeln, taten sie Zucker statt Salz an meine Spaghetti und erzählten mir, das koche man so, und mir schmeckte das sogar. Doch jetzt wollte ich nicht noch eine Lüge, ich wollte die Wahrheit.
»Was denn für eine Wahrheit, Fabietto?«
»Großmutter, ich schwöre, heute Abend schlage ich mir den Bauch voll, bis ich platze. Aber wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, werde ich gar nichts essen. Morgen auch nicht, und übermorgen, und .«
»Schon gut, ich sag's dir ja. Aber du schaufelst heute ordentlich was weg, du hast es versprochen! Also ich . ach, nichts weiter, ich habe bloß ein bisschen mit deinem Großvater geredet, das ist alles. Aber lassen wir das, Zeit fürs Abendessen, wie wär's mit Pommes frites?«
»Ja, gern, Großmutter, aber .«
»Was - aber? Willst du keine Pommes frites?«
»Doch, will ich. Aber Großvater ist doch tot.«
Darauf sagte sie nichts mehr. Denn das wusste sie nur zu gut, sie wusste es seit vielen Jahren und dachte in jeder Sekunde an jedem Tag ihres Lebens daran, dass Großvater tot war. Aber schwere Dinge haben, selbst wenn sie dir wohlbekannt sind, eine andere Wirkung, wenn sie ausgesprochen werden. Sie breiten sich in der Luft aus, dringen über Ohren und Augen in dich ein, scheren sich nicht um das Gehirn, das sich immer einbildet, allwissend zu sein, sickern bis ins Herz, und das war's.
Und so verzog meine Großmutter, als ich zu ihr sagte, dass Großvater tot sei, schmerzvoll das Gesicht und brauchte eine Weile, bis sie ihr Lächeln wiederfand. Es war das schönste der Welt. Denn tatsächlich war es gelogen, als ich später im Leben einer anderen Person sagte, sie habe das schönste Lächeln der Welt. Ihres war das schönste.
»Fabietto, ich weiß selbst, dass dein Großvater tot ist, aber ich sehe ihn. Das passiert nur hier. Er und ich haben früher in diesem Haus gewohnt, weißt du. Wir waren jung, frisch verheiratet, dann wurde deine Mutter geboren, und wir zogen runter ans Meer. Aber was waren wir glücklich hier oben, du meine Güte. Daran musste ich letztes Jahr denken, als wir noch mal hergekommen sind, um es wiederzusehen. Ich ging durch die Zimmer, alles war in Schuss gebracht worden, die Wände geweißt, aber ich lief herum und hatte nur einen Gedanken im Kopf, und als ich in die Küche kam, hörte ich diesen Gedanken tatsächlich mit eigenen Ohren: >Schön, ja, aber früher war es schöner.< Ungelogen, das habe ich wortwörtlich gehört. Und da platzte ich heraus: >Ach, früher, da war doch alles schöner.< Darauf die Stimme: >Nein, Beppina, du bleibst immer schön.< Nur dein Großvater nannte mich Beppina, und diese Stimme war seine.«
»Aber . aber wie . und du?«
»Und ich, nichts, ich bin in Ohnmacht gefallen. Deine Mutter hat mich gefunden, ich lag plötzlich auf dem harten Boden. Ich habe ihr gesagt, dass mir schwindlig geworden sei, aber am Sonntag darauf sind wir noch mal hergekommen, und da ist es wieder passiert, darum bin ich hergezogen. Und weißt du was, mein lieber Fabio? Vielleicht bin ich plemplem, vielleicht bin ich übergeschnappt, aber ich bin glücklich dabei. Ich weiß, dass deine Eltern sagen, ich würde hier allein leben, weil...
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