Schweitzer Fachinformationen
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Francesco
Die am weitesten verbreitete Krankheit der Welt ist zweifellos die Liebe. Davon war Dr. Taramelli, ein auf Paartherapie spezialisierter Psychotherapeut, zutiefst überzeugt. Unerwiderte Liebe, verräterische Liebe, verweigerte Liebe, vorgetäuschte Liebe, er hätte ein Buch schreiben können, so gut kannte er die Liebe in all ihren Spielarten.
»Aber seien Sie unbesorgt«, versicherte er seinen Patienten gern immer wieder, »die Liebe ist zwar eine sehr verbreitete Krankheit und de facto unvermeidlich, aber sie ist nicht tödlich. Auch wenn sie in manchen Fällen chronisch werden kann und man ein Leben lang mit ihr zu kämpfen hat, gleicht sie in den meisten Fällen eher einem Infekt, einer Art Schnupfen: ja, genau, die Liebe ist ein Schnupfen. Sie geht vorbei. Und das Einzige, was übrig bleibt, sind ein paar gebrauchte Taschentücher.«
Francesco ordnete gerade einige Papiere. Während der Sitzungen machte er sich gern eilige Notizen, die er später in Ruhe und in Schönschrift noch einmal abschrieb, wobei er das Geschriebene meist laut vorlas. Er sagte, das helfe ihm beim Nachdenken und der Suche nach Lösungen für den zu behandelnden Verliebten.
Er war ganz in seine Arbeit vertieft, als Emma die Tür zum Behandlungszimmer aufriss.
»Papa!«
»Äh, wie bitte?«
»Was machst du da? Führst du Selbstgespräche?«
»Nun ja«, sagte Francesco und setzte sich zurecht, »ist das etwa nicht erlaubt?«
»Doch, doch, schon gut . Wenn du meinst«, erwiderte sie und ließ sich auf die Couch fallen.
»Sag mal, was machst du da?«, fragte Francesco pikiert.
»Ich muss mit dir reden.«
»Von mir aus. Aber nicht, wenn du da so herumliegst.«
»Wieso nicht?«, fragte Emma.
»Weil sich da meine Patienten hinlegen.«
»Na ja, ich habe auch Beziehungsprobleme, ich will deine Patientin werden.«
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil du meine Tochter bist.«
»Eine Tochter mit Beziehungsproblemen kann also nicht mit ihrem eigenen Vater reden, weil er ein verdammter Psychotherapeut ist?«
Francesco seufzte, dann strich er sich über den dichten, grau melierten Bart.
»Sie kann schon«, sagte er ruhig, »aber nicht im Behandlungszimmer und schon gar nicht ausgestreckt auf der Couch.«
»Es ist ganz gemütlich«, erwiderte Emma frech.
»Das tut nichts zur Sache«, sagte Francesco. Allmählich verlor er die Geduld. »Lass uns daheim reden, da kannst du's dir auf dem Sessel bequem machen.«
Da sprang Emma auf und verschwand ohne ein weiteres Wort.
»Emma . Emma .«, rief er ihr vergeblich hinterher.
Francesco reckte sich und erhob sich von seinem Schreibtisch. Es war immer das Gleiche mit seiner Jüngsten: Sie hatte einen starken, allzu starken Charakter, fast wie ihre Mutter. Er hatte eine Schwäche für das Mädchen, er konnte ihr kaum etwas abschlagen, aber manchmal kam er nicht umhin, sie in ihre Schranken zu verweisen, andernfalls bekäme sie zu viel Oberwasser. Er seufzte, während pünktlich im gleichen Moment das schon ziemlich gerupfte Vögelchen aus seinem Kasten sprang: Die Kuckucksuhr an der Wand neben der Tür schlug halb drei.
Francesco trat ans Fenster und schaute hinaus. Heute war sie später dran, aber er hatte es nicht eilig. Dann sah er sie um die Ecke biegen.
Erst kam der Hund, ein löffelbiskuitfarbener Cocker Spaniel, der wie ein Irrer an der Leine zog, dann sie, die Frau, die ihn spazieren führte.
Francesco überlegte nicht lange. Rasch griff er nach seiner Jacke und verließ im Laufschritt die Praxis.
Die Frau gefiel ihm. Hochgewachsen, kühl, aristokratisch. Stets gut gekleidet und offenbar an nichts und niemandem interessiert. Sie war immer allein, legte immer denselben Weg zurück: Einkaufen im Supermarkt, Brot beim Bäcker am Campo de' Fiori, ein Abstecher zum Weinladen in der Via del Pellegrino und ab und zu der Luxus eines schnellen Kaffees in der Bar del Fico. Francesco stellte ihr bereits seit über einem Jahr nach. Zuerst waren es nur gelegentliche Begegnungen gewesen, dann hatte er angefangen, eine Art Zwang zu entwickeln und sich die Zeiten und die Orte, an denen er sie sah, zu notieren. So hatte er eine ziemlich genaue Skizze ihrer Gewohnheiten und Wege entworfen und konnte ihr nun ganz zufällig begegnen.
Jeden Tag. Und jedes Mal sagte er sich, dass es der richtige Moment sei, um mit ihr anzubändeln. Er hätte schon unzählige Gelegenheiten gehabt, hatte es aber bisher noch nicht einmal geschafft, ihr guten Tag zu sagen.
Francesco war solo, seit Emma ein gutes Jahr alt war. Seine Ex-Frau Ilaria hatte für ihre Karriere alles stehen und liegen lassen. In einer kleinen Kirche im Herzen von Trastevere hatten sie geheiratet. Sie war gerade mitten in der Facharztausbildung gewesen, und drei Jahre später hatte sie als Kinderärztin angefangen. Dann hatten die Reisen begonnen: Hilfsmissionen in die verschiedensten Gebiete der Erde. Damals, vor siebzehn Jahren, hatte sie Kambodscha gewählt, doch anders als zuvor war sie nicht mehr zurückgekommen.
So hatte er sich nicht allein in der Vaterrolle, sondern plötzlich auch in der des Hausmanns wiedergefunden. Und Beziehungen zu anderen Frauen hatte es seitdem nicht mehr gegeben. Nichts, er war wie gehemmt, obwohl sein Lustempfinden mitnichten zum Erliegen gekommen war. Er war ein im Umgang mit der Liebe erfahrener Therapeut und tagtäglich mit Pärchen in der Krise konfrontiert, er gehörte zu den Besten seines Faches und löste die Probleme von Dutzenden Patienten. Nicht jedoch die eigenen. Die Ratschläge, die er andern gab, funktionierten bei ihm selbst nicht. Es hätte eines anderen Therapeuten bedurft, der ihm bei der Umsetzung seiner eigenen Ratschläge half. Aber er hatte nie einen aufgesucht. So hegte er weiter seine Träume, ohne dass es zu irgendwelchen Kontakten kam.
Nun also die Dame mit dem langen schwarzen Haar. Von Weitem sah sie aus wie Demi Moore zu Zeiten von Striptease, und auch von Nahem hielt sie, was sie versprach.
Er beobachtete sie, während er an der Bar saß und Zeitung las oder pfeifend den Blick schweifen ließ, eine Art Humphrey-Bogart-Karikatur. Sein Körper konnte sich durchaus sehen lassen, was ihm fehlte, war die unverfrorene Art. Er hätte einen Arm um ihre Taille legen, sie an sich ziehen und ihr mit fester, entschlossener Stimme zuraunen sollen: »Hey Puppe, ich bin dein Typ.« Stattdessen blieben ihm jedes Mal, wenn er auch nur versuchte, sie nach der Uhrzeit zu fragen, die Worte im Hals stecken, und er sah aus, als hätte er einen Schluckauf.
Jetzt war sie keine zwanzig Meter weit von ihm entfernt. Er folgte ihr, ohne darauf zu achten, was ringsum geschah.
Lautes Gehupe ließ ihn zusammenzucken. Er war auf die Straße getreten, ohne sich umzusehen. Das Auto fuhr vorbei, der Mann am Steuer beschimpfte ihn. Als Francesco sah, wie die Frau sich aufgrund des Tumults umwandte, verschwand er schnell hinter der nächsten Hausecke. Er atmete tief durch und fasste sich an die Brust. Sein Herz klopfte wie wild.
»Beruhige dich«, sagte er laut zu sich selbst, »sie ist dort. Du gehst jetzt hin, ruhig, entschlossen, und sagst ihr . ja, was sage ich ihr .?« Aus seiner Stimme sprachen wie so oft Verunsicherung und Enttäuschung.
Er trat zurück auf die Straße. Die Frau war verschwunden. Aber Francesco wusste genau, wo sie war. 14.45 Uhr: Zeit für einen Kaffee.
Der Hund war draußen festgebunden, er lag brav zusammengerollt auf dem Pflaster und wartete, ohne von irgendetwas Notiz zu nehmen. Sie sah fantastisch aus in ihrem taubenblauen Kostüm, sie hatte so eine elegante Haltung und so einen durchdringenden Blick. Ein halbes Tütchen Zucker. Brauner Zucker, wie immer.
Francesco beobachtete sie durch die Scheibe. Auch der Barmann schien hingerissen von der Frau. An den Tischen im Freien saß eine Handvoll Gäste.
Die Frau nippte an ihrem Kaffee, Francesco zupfte die Jacke und den Krawattenknoten zurecht und versuchte, sein Spiegelbild zu erhaschen, um zu sehen, ob die Frisur saß. Die Frau drehte den Kopf zum Eingang, und Francesco zog sich mit einem Satz zurück.
»Ob sie mich gesehen hat?«, fragte er sich.
Möglichst ungezwungen entfernte er sich von der Bar, die Hände in den Taschen und einen imaginären Stein vor sich her kickend. Doch schon nach wenigen Metern machte er kehrt, weil er nicht den Augenblick verpassen wollte, wenn sie hinauskam.
Erneut trat er auf den kleinen Platz, aber der Hund war verschwunden. Die Frau war fort.
Francesco schaute sich um und sah sie um eine Straßenecke biegen. Er beschleunigte seine Schritte, überholte eine alte Dame mit Einkaufstaschen, die ihm den Weg versperrte. Er atmete heftig, der Schweiß lief ihm herab.
Er war noch nicht bis zur Kreuzung vorgedrungen, als sie genau dort wieder auftauchte, wo er sie hatte verschwinden sehen.
Francesco stockte der Atem, keine fünf Meter entfernt stand sie ihm gegenüber.
Er wurde langsamer, blieb beinahe stehen, schluckte, schob den Finger zwischen Hals und Hemdkragen, der viel enger als sonst schien, er bekam kaum Luft.
Francesco starrte sie an, aber die Frau schien es nicht zu bemerken. Sie lief an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, bei jedem Schritt entströmte ihr ein Hauch von Vanille, ein intensiver, sinnlicher Duft. So unmittelbar aus der Nähe war sie noch schöner, doch in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass sie in einer vollkommen eigenen Welt lebte. Sie erweckte den Eindruck, nichts von dem, was ringsum geschah,...
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