Schweitzer Fachinformationen
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Ich stand allein in dem dunklen Tunnel. In der Ferne sah ich einen schwachen Lichtschein und begriff, da vorn irgendwo war der einzige Weg nach draußen. Über mir wölbten sich die mit Graffiti besprühten Wände. Ich wusste, es war unmöglich, aber es fühlte sich an, als rückten sie mit jeder vergehenden Sekunde näher.
Ein Mann kam mir durch den langen Tunnel entgegen. Ich erkannte ihn von Weitem, obwohl er ungewöhnlich jung aussah. In den Händen hielt er ein großes Werkzeug, aber im Halbdunkel konnte ich nicht ausmachen, was genau es war. Er lächelte mich freundlich an, während er sich entschlossenen Schrittes näherte.
Es war Fabian.
Ich wollte schreien, wollte wegrennen, aber stand wie angewurzelt da. Mir fiel auf, dass sein Hals ganz schief war und sein Kopf in einem sonderbaren Winkel zu seinem Körper stand. Dann blieb er stehen, direkt vor mir.
»Das ist mein Genick«, sagte Fabian freundlich, als würde er auf eine unausgesprochene Frage antworten. Dann lächelte er. »Es ist gebrochen.«
Sofort wurde er ernst, riss die Augen auf und holte mit dem Werkzeug, das er in den Händen hielt, aus. In dem Moment sah ich, was es war: eine riesige, glänzende Axt, die er - mit der Klinge in meine Richtung - weit über den Kopf hob. Im selben Moment flossen Unmengen von Blut aus Fabians Wangen, und sein Gesicht mit den aufgerissenen Augen wurde nur noch furchteinflößender.
Dann schrie er und ließ gleichzeitig die Axt auf mich hinuntersausen.
Seine Stimme hallte durch den Tunnel.
Ich setzte mich mit wild schlagendem Herzen im Bett auf. Mein Nachthemd war durchgeschwitzt, mir blieb nichts anderes übrig, als aufzustehen und mir ein frisches anzuziehen.
Wieder.
Ich tastete nach meinem Kissen. Es war nass, aber ich konnte es einfach umdrehen, das Laken hingegen war bloß feucht, darauf konnte ich also weiterschlafen. Gut. Ich hatte nicht die Kraft, noch einmal in dieser Nacht das Bett komplett neu zu beziehen.
Schnell zog ich mir einen trockenen Schlafanzug an, ging hinaus in meine kleine Küche, holte ein Glas aus dem Schrank und drehte den Hahn auf. Ich ließ das Wasser erst ein bisschen laufen, damit es richtig kalt war. Dabei schaute ich über die Dächer Kungsholmens. Sie badeten im Mondlicht, es war Vollmond.
Ich hatte morgen ein wichtiges Bewerbungsgespräch bei McKinsey und brauchte meinen Schlaf. Aber bevor ich ins Bett zurückkehrte, musste ich mich erst einmal beruhigen.
Die schwarzen Blechschindeln glänzten im Mondlicht. Angeblich wurden empfindlichere Menschen bei Vollmond von besonders schrecklichen Albträumen heimgesucht, ich konnte bei mir jedoch kein Muster erkennen: Meine Albträume kamen und gingen ohne erkennbare äußere Abhängigkeiten. Meine Laune litt unter dem ständigen Wechsel zwischen ausgeschlafen und unausgeschlafen, aber das war der einzige wirklich greifbare Effekt.
Ich fragte mich, wie lange diese bösen Träume mich noch heimsuchen würden.
Meist tauchte Fabian darin auf, immer mal wieder auch Bella und in regelmäßigen Abständen - allerdings handelte es sich da selten um Albträume - mein Vater. Seine Besuche erfüllten mich immer mit Freude und Liebe, außer er wurde in den Träumen selbst zum Opfer von Gewalt.
Ich schaute hinunter in den Hof. Es war mitten in der Nacht, und die Vogeldame war draußen und ließ ihre Gänse im Mondschein weiden. Ich war von der Hausverwaltung vorgewarnt worden, einem großen und muskulösen Mann mit einer lauten Lache, noch bevor ich überhaupt in meine neue Wohnung in der Pipersgatan gezogen war.
»Im Haus wohnt eine etwas sonderliche Frau«, hatte er gesagt. »Sie ist besessen von Vögeln, aber machen Sie sich keine Sorgen, sie ist völlig ungefährlich. Wir nennen sie die Vogeldame.«
Ich war ihr gleich an meinem ersten Tag begegnet, als ich dabei war einzuziehen und gerade mit Simåns in seiner Box zum Aufzug ging. Den Aufzug hatte ich im Erdgeschoss gestoppt, er war zur Hälfte mit meinen Taschen und Kisten beladen, weshalb sie keuchend die Treppen aus dem zweiten Stock herunterkam. Erst war mir nicht klar, wer sie war, ich sah einfach nur eine rundliche Frau Mitte sechzig mit einem Mantel, einem schicken Hut auf dem Kopf und rot angemalten Lippen. Auf mich wirkte sie trotz extremer Schminke erst mal normal, selbst wenn sie stark nach Parfum roch.
Wir blieben beide vor dem Aufzug stehen, und ich streckte ihr die Hand entgegen. Da erst sah ich ihre aufgemalten Brauen unter der Hutkrempe, richtige Instagram-Augenbrauen, zwei schwarze Bogen über den Augen.
»Hallo«, sagte ich. »Ich bin Sara und ziehe heute ein, in den dritten Stock. Tut mir leid, dass ich den Aufzug so in Beschlag nehme, aber das ist die letzte Ladung.«
Die Frau ignorierte meine ausgestreckte Hand und hatte den Blick auf Simåns gerichtet. Ihre Augen wurden schmal, sie verzog das Gesicht.
»Aha«, sagte sie. »Eine Katze.«
Dann ging sie. Ich schaute ihr nach und blieb in einer Wolke ihres starken Parfums zurück, das etwas anderes, etwas Beißendes übertünchte. Bloß was? Und erst da begriff ich, dass sie die Vogeldame sein musste. Dann stieg ich mit Simåns in den Aufzug und fuhr in den dritten Stock, in mein neues Zuhause.
Es waren ein paar Wochen vergangen, seit ich überstürzt Stockholm verlassen hatte und zurück nach Örebro gezogen war. Zu groß war meine Panik geworden, nachdem ich den Umschlag mit dem BSV-Siegel geöffnet hatte, den meine Schwester Lina am Abend des Tages auf der Fußmatte gefunden hatte, an dem sowohl Fabian als auch Björn gestorben waren. Ich hatte mich fast nicht mehr aus dem Haus getraut. Die Trauer um Björn und Bella, aber auch alles, was mit Micke und Fabian passiert war, zogen mir den Boden unter den Füßen weg. Mama, Lina und ich feierten Weihnachten zu dritt, und selbst die Besuche von Sally waren mir schon zu viel. In regelmäßigen Abständen meldete sich neues Misstrauen ihr und Andreas gegenüber, und dann ging ich nicht ans Telefon, wenn sie anriefen.
Aber einmal, Ende Dezember, kam Sally einfach auf ihrem Moped vorbei und zwang mich mehr oder weniger, in unser ehemaliges Stammcafé Naturens Hus mitzukommen. Mama und Lina unterstützten sie mit aller Kraft, also fand ich mich plötzlich hinten auf ihrem Moped wieder, wie schon so oft in meinem Leben.
Es war schön, den Wind im Gesicht zu spüren und die mir so bekannte Landschaft vorbeiziehen zu sehen, auch wenn gerade eher Schneematsch statt Sommerwiesen das Bild bestimmte. Plötzlich war es mir seit Langem mal wieder leichter ums Herz. Mein Leben war nicht vorbei, obwohl es nun so lange von Trauer, Schrecken und unbegreiflichen Ereignissen bestimmt worden war. Vielleicht hatten Sally und Andreas ja trotz allem nichts damit zu tun.
»Herrlich, oder?«, schrie Sally über die Schulter und beschleunigte noch etwas.
»Ja«, schrie ich zurück. »Herrlich!«
Wir drehten eine Runde durch die frühe Winterdämmerung, am Wadköpingsquartier und dem Stadsparken vorbei, dann bog Sally in den Oljevägen zum Naturens Hus. Wie viele Nachmittage wir dort während unserer Schulzeit faul rumgehangen hatten, ganz besonders im Frühling und Sommer. Aber auch zu dieser Jahreszeit war es schön. Sally parkte das Moped, und wir schlenderten über die schmale Holzbrücke auf die kleine Insel, auf der das Gebäude stand. Hinter den großen Glasfenstern leuchtete es einladend, und wir konnten sehen, dass ein Feuer im Kamin brannte.
Sally blieb vor der Tür stehen und nahm den Helm ab.
»Latte und Zimtschnecke«, sagte sie dann bestimmt. »Heute ist so ein Tag.«
Wir gingen hinein.
»Oh, hallo, Mädels!«, sagte Camilla von hinter der Theke. »Ihr wart ja lange nicht hier. Wie schön, euch wiederzusehen! Wie geht's euch?«
Camilla war eine der Besitzerinnen des Cafés. Wir blieben kurz bei ihr und brachten uns gegenseitig auf den neuesten Stand, dann bestellten wir Latte und Zimtschnecken. Außer uns gab es kaum Gäste, und wir setzten uns an unseren Lieblingstisch ganz hinten am Fenster. Von dort schauten wir auf den Damm hinaus und beobachteten, wie der Himmel sich immer blauer färbte.
»Okay«, sagte Sally schließlich und biss in ihre Zimtschnecke. »Was ist der Plan?«
»Plan?«, fragte ich zurück. »Ich hab keinen Plan.«
Sally kaute und trank dann ein paar große Schlucke von ihrem Latte.
»Dann ist es aber höchste Zeit, einen zu machen«, sagte sie.
Ich fummelte lustlos an meiner Zimtschnecke. Sally griff nach ihrem langen Löffel und hielt ihn mir unter die Nase.
»Jetzt...
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