Schweitzer Fachinformationen
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Mama stand in ihrem hellblauen Morgenmantel in der Küche und brühte duftenden Kaffee auf. Papa war gerade von einer Langlaufrunde heimgekehrt und zog, wo immer er mit geröteten Wangen und geschmolzenem Schnee auf der Mütze entlangging, eine kleine Dampfwolke hinter sich her. Vor dem Fenster schien die Sonne auf das schneebedeckte Örebro, das Thermometer zeigte minus fünf Grad. Die Szene erinnerte an ein Bild aus einem Buch von Elsa Beskow. Ich selbst saß am Küchentisch und aß meinen Brei, und auf dem Boden spielte Lina mit Esmeralda, unserem Kätzchen.
»Sara«, sagte Papa, »hast du nicht Lust, mit mir eine Runde in der Vena-Loipe zu drehen? Es ist eine Wohltat ? für Körper und Seele!«
Ich sah meinen Vater vor mir, wie er da stand, mit seinem breiten, freundlichen Lächeln, und ich wusste, nichts hätte ihn mehr gefreut, als wenn ich ihn begleitet hätte, nach Norden über den Kasernvägen und dann auf der Vena-Loipe in den Wald hinein. Wir hätten die Sonne im Rücken, die Luft wäre frisch, und wir würden ein Tempo halten, bei dem wir uns beide ordentlich anstrengen müssten, dabei aber trotzdem die fantastische Winterlandschaft mit blauen Schatten über dem leuchtend weißen, harschen Schnee genießen könnten.
»Ja«, sagte ich. »Ich komme mit, Papa.«
Ich erhob mich vom Küchentisch, nahm meine Jacke und zog die roten Fäustlinge mit dem traditionellen Lovvika-Muster an, die Torstens Frau Kerstin mir gestrickt hatte. Doch plötzlich veränderte sich das Bild. Der Himmel vor dem Fenster verdunkelte sich und füllte sich mit dicken lila Gewitterwolken. Der Schnee war fort, stattdessen peitschte Regen gegen die Fenster. Lina und das Kätzchen waren verschwunden, und als Mama sich vom Spülbecken zu mir umdrehte, war keine Spur mehr von ihrem sonst so klaren Blick unter dem lockigen braunen Haar zu sehen. Wo vorher ihre Augen gewesen waren, wies ihr Schädel nicht mehr als ein Paar leere Augenhöhlen auf.
Voller Panik drehte ich mich zu Papa um. Seine Augen sahen aus wie immer, und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch anstatt der Wörter quoll eine hellgraue Aschewolke aus seinem Mund und wirbelte durch den Raum. Und ich sah, dass Papa keine Zähne mehr hatte.
Dann warf sich Micke auf mich, und ich schrie.
Ich stand am Fenster und sah in die Nacht hinaus, trank ein Glas Wasser und versuchte, meinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen. Aus Linas Zimmer drang kein Laut; dieses Mal schien ich sie nicht geweckt zu haben. Unsere kleine Küche ging direkt zum Nytorget hinaus, der ruhig und friedlich dalag. Der Herbst war schon zu spüren, auch wenn die Bäume noch keine Blätter verloren hatten. Eine einsame Frau mit einem Bullterrier bewegte sich unter den Laternen von einem Lichtkegel zum nächsten.
Den ganzen Sommer über hatte ich nichts von BSV gehört.
Nach Johans und Mamas plötzlichem Tod Ende des Frühjahrs war ich mehrere Wochen kaum ansprechbar gewesen. Erst lag ich beinahe eine Woche im Krankenhaus, dann war Sally mit mir nach Örebro gefahren und hatte mich bei Ann-Britt und ihrer Familie untergebracht. Ich war so weit wiederhergestellt, dass ich an Mamas Beerdigung auf dem Nordfriedhof teilnehmen konnte, doch ich erinnere mich an kaum etwas. Ann-Britt kümmerte sich ganz rührend um mich, brachte mich ins Bett, versorgte mich mit Essen und ließ mich ansonsten wie ein Gespenst in ihrem Haus und Garten umherschleichen, während ich wieder und wieder durchging, was passiert war. Zunächst konnte ich nicht weinen, doch mit der Zeit - je mehr ich darüber redete - kamen die Tränen. Ann-Britt wurde nicht müde, mir zuzuhören, genauso wie Sally und Andreas, wenn sie mich besuchten.
Ab Anfang Juli kam ich langsam wieder auf die Beine. Beschämt musste ich mir eingestehen, dass ich meine kleine Schwester, der es auch schlecht ging, völlig vernachlässigt hatte. Es war, als tauchte ich aus einer ganz anderen Welt auf - erst jetzt erkannte ich, wie schwer das alles für Lina sein musste, die erst ihr geliebtes Pferd und danach ohne Vorwarnung unsere Mutter verloren hatte, nur knapp ein Jahr nach dem Tod unseres Vaters. Auch Lina hatte bei Ann-Britt gewohnt, doch ich hatte ihre Existenz kaum wahrgenommen. Die Ereignisse des letzten Jahres hatten mich sehr mitgenommen, und nun forderte der Stress seinen Tribut.
Im Juli funktionierte ich beinahe wieder normal und konnte langsam auch für Lina da sein. Doch zu meiner Verwunderung musste ich feststellen, dass Lina ganz anders auf all das Schreckliche reagiert hatte, das uns widerfahren war. Sie war nicht zusammengebrochen, obwohl sie allen Grund dafür gehabt hätte. Stattdessen hatte sie regelrecht eine Schutzmauer um sich herum aufgebaut, und keiner von uns verstand so richtig, was innerhalb dieser Mauer vor sich ging. Ann-Britt sah mich hilflos an.
»Sie weint nicht«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Ich versuchte, mit Lina zu sprechen, jedoch ohne Erfolg. Sie sah mich mit Härte im Blick an und weigerte sich, über ihre Gefühle zu sprechen.
»Ruh dich lieber aus«, sagte sie stattdessen. »Du brauchst das.«
Also ruhte ich mich aus. Meine Kräfte kehrten langsam zurück, physisch und mental, doch gefühlsmäßig war ich immer noch ganz unten. Mamas Tod war mir unbegreiflich. Nicht, dass es passiert war. Das verstand ich, und ich ahnte auch, wie sie gestorben war, auch wenn ich noch nicht dazu in der Lage gewesen war, mich damit auseinanderzusetzen. Aber dass Mama tatsächlich fort war, dass sie nicht mehr da sein und ich nie wieder mit ihr sprechen würde?
Das war unfassbar.
Bei meinen langen Spaziergängen durch die Stadt - während alle anderen am See im Alnängsbadet in der Sonne brieten und die extreme Sommerhitze Örebro so stark im Griff hatte, dass das Universitätskrankenhaus alle Operationen bis auf Weiteres einstellen musste - wälzte ich all die unbeantworteten Fragen. In dem gut einen Jahr, das seit Papas Tod vergangen war, war so viel passiert, aber ich wusste immer noch nicht, wer hinter mir her war und warum.
Gedanklich ging ich alles, was ich erlebt hatte, wieder und wieder durch, und je mehr ich grübelte, desto surrealer schien das Ganze. Nachts lag ich wach und wälzte mich im Bett herum oder suchte im Garten Abkühlung. Die Waldbrände in der Gegend wirkten wie ein Abbild meines Innersten: eine verwüstete Landschaft, zu nichts mehr zu gebrauchen. Was passiert war, ergab schlicht keinen Sinn.
Falls die menschliche Seele wirklich in der Lage sein sollte, Unangenehmes von sich fernzuhalten, um heilen zu können, dann war es genau das, was meine Seele gerade tat: Sie deckte einen Mantel über alles Schreckliche und suchte nach alternativen Erklärungen für das, was passiert war. Ich fing an zu verstehen, dass wir Krieg, Folter und unmenschlichen Verlusten ausgesetzt sein und trotzdem weiterleben können - unser Überlebensinstinkt ist so stark, dass wir sogar unsere eigenen Erinnerungen manipulieren, um zu überleben.
Bis Ende Juli war ich die Ereignisse so oft durchgegangen, dass ich es beinahe leid war, und ich hatte entschieden:
BSV gab es nicht wirklich.
Das Ganze war womöglich eine Reaktion auf Papas Tod: Die Trauer war übermächtig geworden und hatte dazu geführt, dass ich mir einige Dinge einbildete und andere größer machte, als sie eigentlich waren. Ich hatte psychologische Fachartikel gelesen, in denen die Rede von Screen Memories war: fiktiven Erinnerungen, die die tatsächlichen Ereignisse überdeckten, weil diese nicht auszuhalten waren. Mein Gehirn hatte viele Situationen und Ereignisse erfunden, um das Unbegreifliche begreifbar zu machen: dass mein geliebter Papa bei einem Unfall in unserem Sommerhaus umgekommen war.
Wahrscheinlich war ich psychisch aus dem Gleichgewicht geraten - vielleicht befand ich mich schon an der Grenze zu einer Psychose - und bildete mir daher Dinge ein, die nie passiert waren.
Hatte es Bella überhaupt gegeben, oder war sie nur ein Produkt meiner Fantasie?
All diese unerklärlichen Ereignisse, hatten sie wirklich stattgefunden oder hatte mein Gehirn sie konstruiert?
Forschungen zufolge gab es im Leben jedes Menschen ein Zeitfenster, in dem Schizophrenie ausbrechen kann, irgendwann im Alter zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren. Ich war fünfundzwanzig, und das Muster schien zu stimmen. Die Frage war, ob ich Hilfe brauchte oder ob schon die Erkenntnis über mein mögliches Krankheitsbild ein Zeichen dafür war, dass ich gesund wurde?
Wenn es BSV tatsächlich gegeben hätte, hätten sie sich dann im Sommer nicht zu erkennen geben müssen?
Egal, wie oft ich meine Sachen durchsuchte, ich konnte kein einziges der »Siegel« mit den Buchstaben BSV, dem Schild und drei kleinen Kronen finden, die ich...
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