Schweitzer Fachinformationen
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»So«, sagte die kleine, rundliche Dame und öffnete die Tür, »und hier wohnen Sie.«
Ich schaute in ein minimalistisch eingerichtetes Schlafzimmer und spürte sofort, wie sich meine mühsam zusammengeraffte gute Laune verabschiedete. Ein schmales Bett auf vier Beinen, darauf ein orangefarbener, gestreifter Überwurf aus dünner Baumwolle. Er erinnerte mich sofort an unseren Überwurf im Sommerhaus, der aus den frühen Siebzigern stammte. Mein Zimmer in dem Studentenwohnheim in Uppsala vom letzten Jahr wirkte mit einem Mal geradezu luxuriös.
Neben dem Bett stand ein Nachttisch, und meine Vermieterin war bereits dort und ruckelte an der Schublade.
»Sie ist etwas schwergängig«, erklärte sie, »aber sie funktioniert. Das Bad liegt draußen im Flur, und Sie teilen es sich mit zwei anderen Bewohnern. Nutzen Sie bitte keinen Föhn dort drin.«
Die Dame - eigentlich passte Mütterchen besser - hatte sich als Siv vorgestellt. Jetzt verschwand sie schon wieder hinaus in den Flur, und ich folgte ihr nach einem letzten Blick in mein zukünftiges Zimmer. Die Deckenlampe hatte einen runden Papierschirm, und auf dessen Boden, direkt unter der Glühbirne, war ein großer schwarzer Fleck - tote Fliegen? Auf dem Linoleumboden vor dem Bett lag ein Flickenteppich, auf dem jetzt die Katzentransportbox und meine rote Reisetasche standen. Am Fenster fanden sich ein abgenutzter Sessel und daneben eine Kommode mit drei Schubladen. Zudem gab es einen schmalen Schrank mit Drehknauf.
Siv hielt die Badezimmertür auf, und ich ging an ihr vorbei hinein. Es gab eine altmodische hellblaue Wanne mit einem sehr dreckigen Duschvorhang, eine Toilette mit gesprungener Plastikbrille, ein Waschbecken mit einer Armatur aus den Siebzigern (blauer Punkt für kalt, roter Punkt für warm). Blutrotes PVC auf dem Boden.
Sie deutete auf eine nicht geerdete Steckdose.
»Wer weiterleben will, lässt die Finger davon, sage ich immer.«
Sie lächelte über sich selbst, und ich folgte ihr wieder hinaus in den Flur.
»Bleibt noch die Kleinigkeit namens Miete«, sagte sie. »Sechstausendfünfhundert Kronen will ich pro Monat, im Voraus und in bar.«
»Hatten wir uns nicht auf sechstausend geeinigt?«, fragte ich.
Siv kräuselte die Lippen.
»Doch, aber Sie bringen ja eine Katze mit. Da ist mit Schäden und Problemen zu rechnen. Fünfhundert will ich extra, für die Katze.«
Ich seufzte und holte einen Umschlag aus den Untiefen meiner Handtasche, außerdem fischte ich noch einen Schein aus meinem schmalen Portemonnaie. Siv riss den Umschlag auf und zählte gierig die Fünfhunderter. Und genau da, im Schein der Neonröhre, wurde mir bewusst, dass ich mitten in der Stockholmer Wohnungsnot angekommen war. Solange ich zurückdenken konnte, hatte ich mich danach gesehnt: endlich mit dem Studium fertig sein; Uni und Kleinstadt hinter mir lassen; in die Hauptstadt ziehen. Jetzt war ich endlich hier. Der Herbst hatte gerade eingesetzt. Mein neuer Job wartete. Aber nichts passte, alles war falsch; nichts war, wie ich es mir erhofft hatte. Und ein Gefühl von Machtlosigkeit wuchs in mir.
Siv schaute mit bösen kleinen Augen von dem Geldbündel auf.
»Stimmt genau«, sagte sie. »Sie haben ein Fach im Kühlschrank, den ich Ihnen gezeigt habe. Essenszubereitung zwischen 17 und 19 Uhr, da müssen Sie sich mit den anderen beiden Bewohnern absprechen. Danach will ich meine Ruhe.«
»Und das WLAN?«, fragte ich. »Deckt die Miete das ab?«
»Bis 21 Uhr«, antwortete Siv. »Danach will ich es allein nutzen.«
»Okay«, sagte ich. »Nur noch eine Frage: Könnte ich das auch überweisen? Dann muss ich nicht extra welches abheben.«
Siv bedachte mich mit einem messerscharfen Blick.
»Wenn Sie ein Problem mit Bargeld haben, müssen Sie sich eine andere Bleibe suchen.«
»Verstehe«, sagte ich.
Sie ließ mich stehen und ging die Treppe runter. Durch das Fenster am anderen Ende des Flurs konnte ich Teile von Vällingby Centrum sehen. An die großen Kreise aus weißen Pflastersteinen konnte ich mich noch aus meiner Kindheit durch die Besuche bei Oma und Opa erinnern. Das sogenannte ABC-Stadt-Programm. Die Steine gab es noch, das Programm nicht mehr. Genauso wenig Oma und Opa.
Eine Erinnerung an meinen Wehrdienst: drei Stunden Schlaf; unebener Boden unter der dünnen Isomatte; ein irrer Sergeant, der laut die bevorstehende Visitation um fünf Uhr ankündigte. Kein Zuckerschlecken. Warum fühlte sich das hier also unendlich viel anstrengender an?
»Es wird dir guttun, nach Stockholm zu kommen«, hatte meine Mutter gesagt. »Anfangs wirst du dich wohl mit der Untermiete zufriedengeben müssen, aber das wird ja nicht ewig so bleiben. Irgendwann wirst du was Eigenes finden.«
Ich kehrte in mein Zimmer zurück und setzte mich auf das Bett mit dem orangefarbenen Überwurf. Erinnerungen lösten einander ab, begleitet vom üblichen Stechen in der Magengegend aus Sehnsucht nach meinem Vater: jener Abend, als er die Zusage bekommen hatte. Ich muss acht gewesen sein und Lina ungefähr zwei. Ich wusste nicht viel über das, was mein Vater so machte, aber hatte begriffen, dass vielleicht ein neuer Job in Aussicht stand. Und dann war es offensichtlich: Mama und Papa strahlten, Papa brachte frische Krabben zum Abendessen mit, und wir saßen bei brennenden Kerzen in der Küche und feierten. Mama und Papa tranken Weißwein statt Bier, und wir durften mit Limo anstoßen, obwohl nicht Wochenende war. Papa würde für die angesehene Behörde für internationale Entwicklungszusammenarbeit, Sida, arbeiten und nach Stockholm pendeln und viel ins Ausland reisen.
»Wirst du dann jetzt die Welt retten, Liebling?«, hatte Mama gefragt und ihm über die Wange gestreichelt.
Die Welt retten, hatte ich gedacht, das wusste ich noch. Sofort hatte ich James Bond, dem gefährliche Bösewichte dicht auf den Fersen waren, mit gezogener Pistole vor mir gesehen.
»Ich werde es auf jeden Fall versuchen«, hatte Papa lächelnd geantwortet.
»Ist es denn sehr gefährlich?«, hatte ich gefragt, woraufhin Mama und Papa in schallendes Gelächter ausbrachen.
Auch Lina hatte gelacht und mit dem Löffel auf den Tisch geschlagen: »Fährlich! Fährlich!«
»Nein, mein Schatz«, hatte Papa geantwortet, »es ist überhaupt nicht gefährlich. Ich versuche, Gutes zu tun, mehr nicht. Wir leisten Entwicklungshilfe, unterstützen die Menschen, die es in anderen Ländern am schwersten haben.«
Das klang toll, auch wenn ich nicht wusste, was das lange Wort bedeuten sollte, das er da gesagt hatte. Aber ich fragte nicht weiter nach, sondern widmete mich stattdessen den Krabben.
Ein lang gezogenes Miauen holte mich zurück ins Jetzt. Simåns wollte raus, also schloss ich die Tür zum Flur und öffnete die Box.
»Simåns«, sagte ich, »jetzt sind wir angekommen. Hier werden wir wohnen, du und ich.«
Simåns strich durch das Zimmer und beschnupperte die fremden Gegenstände. Dann sprang er aufs Bett und betrachtete mich aus seinen klugen, grünen Augen. Plötzlich gähnte er, und ich konnte direkt in den rosa Schlund mit der rauen Zunge und den nadelspitzen, kreideweißen Zähnen sehen.
Wildtier.
»Du bist ein Wildling, Simåns«, sagte ich und kraulte ihn hinterm Ohr.
Simåns streckte sich und zuckte mit dem Schwanz. Dann kringelte er sich auf dem Überwurf zusammen und schlief ein.
Ich schlief schlecht in dem schmalen Bett, Mondlicht fiel durch die Lücken im Vorhang herein. Wie in den gesamten vergangenen sechs Monaten tauchte ich immer wieder aus dem Schlaf auf. Es war schwer, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Für einen Moment dachte ich, dass meine Tür lautlos geöffnet wurde und das Licht im Flur sich teilte, als stünde dort jemand und würde mich betrachten. Aber als ich mich nach wenigen Augenblicken etwas benebelt aufsetzte, war die Tür geschlossen, und das Zimmer lag im gleichen Halbdunkel wie zuvor.
Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker um sieben Uhr. Im selben Moment kam eine SMS von meiner Mutter.
»Wie geht es dir, mein Schatz? Alles in Ordnung?«
»Alles super«, antwortete ich. »Auf den Beinen und unterwegs zur Arbeit.«
Sie schickte mir ein lächelndes Emoji, und ich ging ins Bad, um zu duschen. Die Tür war abgeschlossen, und drinnen rauschte Wasser. Also kehrte ich in mein Zimmer zurück und suchte, um die Wartezeit zu überbrücken,...
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