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Kaum eine Familie spiegelt die Geschichte der deutschen Juden des 19. und 20. Jahrhunderts in allen ihren Facetten, vom Glanz des Aufstiegs ins Bürgertum bis zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden so deutlich wie die der Scholems.
Ihre Geschichte beginnt in Schlesien: Von dort zogen die Scholems Mitte des 19. Jahrhunderts nach Berlin und eröffneten eine Druckerei, die es zu einigem Wohlstand brachten. Arthur und Betty Scholem hatten vier Söhne, die alle einen unterschiedlichen Weg einschlugen: Reinhold, 1891 geboren, wurde im Kaiserreich zum deutsch-nationalen Juden; Erich, Jahrgang 1893, zum nationalliberalen, assimilierten Juden; Werner Scholem, 1985 in Berlin geboren, wurde zu einem prominenten Vertreter eines linken Sozialismus und saß in der Weimarer Republik für die KPD im Reichstag. Gerhard Scholem schließlich, 1897 geboren, bekannte sich früh zum Zionismus, lernte Hebräisch und wanderte 1923 nach Palästina aus, wo er als Gershom Scholem einer der bedeutendsten Forscher jüdischer Mystik wurde.
Montag, 21. Februar 1938. Nach einer fünftägigen Reise, die in Cherbourg begann, läuft die Queen Mary an diesem kalten, klaren Morgen in den Hudson River ein. Unter den Passagieren, die darauf warten, am Pier der 50. Straße West in New York von Bord zu gehen, befindet sich ein schlaksiger Mann. Er trägt Schlips und Anzug; bis auf die stark abstehenden Ohren ist an ihm nichts auffällig. Der Eintrag des »Immigration and Naturalization Service«, der für Ein- und Ausreisen, Zuwanderung und Einbürgerungen zuständigen Behörde, bezeichnet ihn als Bürger Palästinas, hebräischer Rasse und gebürtigen Berliner, der in die USA gekommen sei, um Vorträge zu halten.
Sein Name ist Gershom Scholem.
Es ist sein erster Besuch in diesem Land, das er neugierig, aber auch etwas argwöhnisch betrachtet. In den nächsten Wochen wird er mehrfach vor großem Publikum sprechen, wissenschaftliche Bibliotheken aufsuchen und unter den emigrierten jüdisch-deutschen Intellektuellen alte Bekannte wiedertreffen. Aus seinen Vorträgen wird später ein Buch entstehen, das bei seiner Leserschaft die Wahrnehmung der jüdischen Mystik von Grund auf verändern und die Entstehung eines neuen Forschungsfeldes anregen wird.
Allerdings ist Gershom Scholem in manchen Kreisen schon jetzt berühmt. Er ist schließlich einer der wichtigsten Erforscher der intellektuell-religiösen Traditionen des Judentums und einer der prominentesten Gelehrten des jüdischen Palästinas, später Israels. Jetzt aber, als er die Gangway hinabgeht, freut er sich vor allem darauf, seltene Manuskripte in New York einzusehen und dieses fremdartige Amerika erkunden zu können.
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Freitag, 1. Juli 1938. Während Gershom seine Zeit in New York genießt und sich im Glanz seiner erfolgreichen Vortragsreihe sonnt, läuft ein anderes Schiff, die aus Kanada kommende Aorangi, im Hafen von Sydney ein und entlässt seine Brüder Reinhold und Erich Scholem in ein neues Leben. Für Reinhold, den noch immer deutschen Patrioten, und Erich, den desillusionierten liberalen Demokraten, endet hier ihre Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland, die sie von Berlin aus über Southampton, Montreal und Vancouver hergeführt hat. Nach ihrer sechswöchigen Reise sind sie erschöpft, aber in Sicherheit.
Anders als Gershom in New York, werden diese beiden nicht von Mitgliedern der örtlichen jüdischen Intelligenz willkommen geheißen; es erwartet sie kein großzügiges Honorar, keine Arbeitsstelle, keine Wohnung. Sie haben in Australien weder Freunde noch Verwandte und geben bei der Einwandererbehörde die 1936 gegründete Jewish Welfare Society als Kontaktadresse an. Bis sie Fuß gefasst haben, wollen sie sich in einem Gasthaus einmieten.
Bevor die Nazis ihre Existenzgrundlage zerstörten, waren Reinhold und Erich Scholem Berliner und wohlhabende Druckereibesitzer. Bald werden die deutschen Behörden ihnen auch ihre deutsche Staatsbürgerschaft aberkennen und sie staatenlos machen. In Australien werden sie sich jahrelang abmühen, um neuen Wohlstand aufzubauen und sich zugehörig zu fühlen. Noch aber sind die beiden, die jetzt zum ersten Mal die berühmte Hafenbrücke Sydneys sehen, Einwanderer in einem fremden Land.
Samstag, 17. September 1938. Während Reinhold eine neue Wohnung in Sydney bezieht und Einwanderungsanträge für seine Mutter ausfüllt, treffen neue Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald ein: Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle, als »Asoziale« bezeichnete Obdachlose und Straftäter. Sie unterschreiben Formulare und bestätigen die Übergabe ihrer persönlichen Dinge. Zu denen unter ihnen, auf die es die Nazis mit besonderem Hass abgesehen haben, gehört Werner Scholem, ein ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der KPD. Er hat die Partei als Abgeordneter im Reichstag vertreten und war als Redakteur der Parteizeitung Rote Fahne einer der einflussreichsten kommunistischen Intellektuellen in Deutschland. Er ist der Bruder von Gershom, Reinhold und Erich.
Die Welt der Konzentrationslager kennt er bereits, denn er wurde schon im April 1933, kurz nachdem die Nazis die Macht ergriffen hatten, unter dem Vorwurf der Wehrkraftzersetzung verhaftet. Die letzten fünf Jahre war er im Gestapo-Gefängnis Columbia-Haus in Berlin und dann in den Konzentrationslagern Lichtenburg und Dachau. Überall drangsalierten die Nazis den Kommunisten; diffamierend verbreiteten sie in der Presse seine äußere Erscheinung immer wieder als Beispiel des »jüdischen Typus«. Den kommunistischen Mitgefangenen, die in den Lagern eine strikt stalinistische Linie vertraten, galt er als einer jener Verräter, die 1926 wegen ihrer »Linksabweichung« aus der Partei ausgeschlossen worden waren.
Die Haftbedingungen der Konzentrationslager machten ihn krank. Er wünschte sich sehnsüchtig, mit seiner Familie wiedervereint zu werden. Die Familie ihrerseits, vor allem seine Mutter Betty, wandte sich unermüdlich an Sozialeinrichtungen, an nichtjüdische religiöse Hilfsorganisationen und an prominente politische Persönlichkeiten im Exil, um seine Freilassung zu erreichen. Denn einige seiner Mitgefangenen waren unter der Auflage, das Land zu verlassen, freigekommen. Werner Scholem war diese Möglichkeit offenkundig versperrt.
Bei seiner Ankunft im Konzentrationslager Buchenwald wusste er aber noch nicht, dass dies seine letzte Reise gewesen sein würde.
Mittwoch, 9. November 1938. Während Werner in Buchenwald eingesperrt ist, kommt es überall in Deutschland zu einem später verharmlosend »Kristallnacht« genannten antisemitischen Pogrom. SA-Männer und ihre Helfershelfer zerschlagen die Fensterscheiben Tausender Läden und plündern und verwüsten das Innere. Jüdische Männer werden zu Zehntausenden willkürlich verhaftet und in Gefängnisse oder Konzentrationslager verschleppt. Passanten, Feuerwehr und Polizei schauen zu, wie Hunderte von Synagogen niedergebrannt oder verwüstet werden, so auch das Innere der Synagoge in der Berliner Lindenstraße, die Betty Scholem gelegentlich aufgesucht hatte.
Nun befällt auch die bislang unerschrockene Betty die Angst. Gern wäre sie noch in Deutschland geblieben und hätte weiter für die Freilassung ihres Sohnes Werner gekämpft. Aber seine Frau Emmy, die inzwischen in London in Sicherheit ist, rät Betty dringend zur Flucht. Die ist nun dazu bereit, aber sie muss noch auf ihre Ausreiseerlaubnis und ihren Pass warten. Ihr Sohn Reinhold schickt ihr per Luftpost die Einreisegenehmigung für Australien. Eile ist geboten. Man weiß jetzt, dass jeder Jude und jede Jüdin, die Deutschland verlassen können, dies unverzüglich tun sollten. In ihrer verzweifelten Lage und angesichts immer neuer bürokratischer Schikanen erleidet sie einen Nervenzusammenbruch. Es ist unklar, ob sie eine Reise überhaupt antreten kann.
Vier Brüder, deren ungleiches Schicksal auch die Folge von vor Jahrzehnten gefällten Entscheidungen ist, und ihre Mutter, Mittelpunkt dieser auseinanderfallenden Familie.
Was hat sie an diese Weggabelungen geführt? Man könnte meinen, dass Geschwister, die in derselben Familie unter denselben Bedingungen aufgezogen wurden, gleiche oder wenigstens ähnliche politische Überzeugungen hätten.1 Politische Orientierungen stehen ja oft in enger Beziehung zu kulturellen und sozialen Erfahrungen: wie Menschen leben, welche sozialen Beziehungen sie aufbauen, wie sie die Welt überhaupt sehen, welche Werte ihnen wichtig sind. So gesehen könnte es ungewöhnlich erscheinen, dass Mitglieder ein und derselben Familie mit den Unterschieden ihrer jeweiligen politischen Position die Lebenswirklichkeit des deutsch-jüdischen Bürgertums im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts so beispielhaft veranschaulichen. Auf seine Jugend zurückblickend bemerkte Gershom Scholem: »Man kann vielleicht sagen, daß die ganz verschiedenen Entwicklungen, die wir vier Brüder in diesen folgenden Jahren nahmen, für die Welt des jüdischen Bürgertums typisch waren und zeigten, wie wenig doch eine anscheinend gemeinsame Umwelt für den Weg junger Menschen im Einzelfall bedeutet.«2 Die Historikerin Shulamit Volkov hat vier Orientierungen unterschieden, mit denen Juden im...
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