4. Kapitel - Kneipe I
Ziemlich schweigsam gehe ich mit Sebastian zur Dorfkneipe. Vermutlich gehen mir noch zu viele Dinge durch den Kopf, die ich in den Zeitungen gelesen habe. Sebastian fragt nicht. Das hat er schon früher nicht getan. Er hat da offenbar recht feine Antennen, um zu erkennen, wann er etwas sagen kann oder besser nicht - das habe ich immer schon an ihm geschätzt.
Die Kneipe ist gut besucht, die Hintergrundmusik ganz angenehm. Kenne ich hier eventuell jemanden? Wohl eher nicht.
Das Pils gibt's immer noch in 0,4er-Tulpen - manche Dinge ändern sich eben nicht. Die Barfrau ist etwa dreißig, heißt Bibi und kennt jeden mit Namen. Mich natürlich nicht. Deswegen kommt sie auch ziemlich bald zu uns.
Und wer bist du?
Daniel, ein Freund von Sebastian.
Aha. Schon mal hier gewesen?
Klar, ich bin hier aufgewachsen. Ist aber schon ein paar Tage her.
Sieht so aus. Bleibst du länger?
Ein paar Tage. Muss eventuell noch nach Berlin.
Ah, gut. Kennst du da jemanden?
Meinen Bruder. Oder, nö, eigentlich nicht.
Wenn du eine Adresse brauchst, komm nochmal vorbei.
Jep.
Wir sehen uns.
Na, schon angebandelt?
Quatsch. Das war nur so tralala. - Aber, jetzt sag doch mal: Was ist denn wirklich hier alles so anders? Die Leute sehen ganz normal aus. Auf der Straße oder im Supermarkt ist mir auch nichts Besonderes aufgefallen. Gut, es gab ein paar Produkte, die ich nicht kannte. Das wäre aber vermutlich nicht viel anders, wenn ich in Kenia oder Bolivien wäre. Was war mit diesen Krisen, die du erwähnt hattest?
Was, du hast den mit den zwei Köpfen am Eingang nicht gesehen?
Haha, jetzt veräppel mich aber so richtig.
Geschenkt. Du warst doch bloß am anderen Ende der Welt, aber schon noch auf der Erde, oder?
Ja, schon. Ich war aber ziemlich abgeschottet. Die Arbeit, das ungewohnte Umfeld. Am Anfang war alles neu für mich. Ich habe überhaupt nichts mitgekriegt - und wollte das wohl auch nicht. Es hat mich schon ziemlich gestresst, als ich abgehauen bin. Hier war ja kaum ein Stein auf dem anderen geblieben, dann die Familie . Du weißt doch.
Tja, alles nicht so einfach. - Wo soll ich anfangen? Was hast du als letzte Erinnerungen?
Naja. Da war diese Pandemie, wegen der sich alle in die Hose gemacht haben. Am Ende war's natürlich doch nur eine Riesenaufregung, aber alles lag am Boden und jeder hatte eine Stinkwut auf alles und jeden - und das Vertrauen auf ganz vielen Ebenen der Gesellschaft war beim Teufel. Dann ist die EU in die Binsen gegangen, als die Südländer immer beharrlicher nach Geld geschrien haben. Die Briten haben sich die Hände gerieben, weil sie schon vorher ausgestiegen waren. Die Skandinavier waren schneller weg, als man sich das vorstellen konnte, der Osten und Südosten war ziemlich vor den Kopf geschlagen, was denn nun werden soll und der Rest - das Zentrum - war in heller Panik und versuchte zu retten, was zu retten war. Ach so - in Belgien war ordentlich war los, davon habe ich aber wenig mitbekommen. In diesem Stadium habe ich das Land verlassen und habe dann mindestens drei, vier Monate nichts, aber auch gar nichts mitbekommen. Danach habe ich mich erstmal mit meinem neuen Umfeld beschäftigt und ein neues Leben aufgebaut. Das ist mir dann nicht so schlecht gelungen und ich habe kein Interesse für die "alte Heimat" mehr entwickeln können. Bis der erste Anruf von Meike kam.
Als Rüdiger 50 wurde, nicht wahr?
Ja, nein, nicht ganz. Wir hatten schon vorher Kontakt und irgendwie wollte ich mich da auf nichts einlassen. Dann kam der Anruf wegen Rüdigers Fünfzigsten und da war ich wahrscheinlich immer noch ein bisschen bockig. Sie hat nicht lange gefackelt und mich gefragt, ob ich kommen will. Wir haben lange geredet .
Und es ist nichts daraus geworden, ich weiß.
Du warst dort?
Ja. Es war keine schlechte Party. Ziemlich viele Leute, auch wichtige und bekannte. Aber ich habe dich unterbrochen.
Da gibt's nicht viel zu unterbrechen. Ich war nicht beim 50. Geburtstag meines lieben Bruders, wie du bemerkt hast. Dann habe ich ungefähr ein Jahr lang nichts mehr gehört und dann rief Meike wieder an und erzählte etwas von dieser Ehrung oder Berufung oder so. Ich wollte davon erst auch nichts wissen, aber sie hat sich nochmal gemeldet und fast ein wenig Druck aufgebaut. Beim letzten Telefonat haben wir Details abgemacht. Und jetzt bin ich da.
Jetzt bist du da. Und da du dich ja so in das Tal der Unbedarften und Unbekümmerten begeben hast, soll ich dich sicher ein bisschen aufschlauen, damit du mit den aktuellen Verhältnissen klarkommst, oder?
So etwa hatte ich mir das vorgestellt, ja. Ich zahl auch dein Bier. Das Grinsen kann ich mir nicht verkneifen.
Also gut. Ein Bier wird aber kaum ausreichen. Außerdem empfehle ich, auch ein wenig einzuwerfen. Bibi hat normalerweise ganz gute Baguettes und auch das Chili ist nicht zu verachten.
Na, dann wollen wir uns mal aufmunitionieren.
Nach einem frugalen Kneipen-Mahl geht es los.
Also, fangen wir mit dem Zerbrechen der EU an. Das hattest du ja schon selbst erwähnt und genau so war es auch. Dänen, Schweden, Finnen waren ruckzuck weg. Der Gerichtshof hat überhaupt nicht mehr getagt, so viele Verstöße gab es, die zu ahnden gewesen wären. Aber das hat keinen mehr interessiert. Die Holländer und Luxemburger haben gewaltig geschossen und die Ösis natürlich auch. In Belgien hat sich der Umbruch auch intern fortgesetzt, sodass es das ganze Land zerrissen hat.
Der flämische Aufstand, so hieß das doch, oder?
Ja, genau, der flämische Aufstand. Die Flamen und Wallonen waren sich ja noch nie grün und beim Zerfall der EU hat es dann so richtig gefunkt. Man hat alles in Frage gestellt, ganz schnell waren ziemlich viele Leute bewaffnet und haben ziemlich auf den Putz gehauen. Die Politik war vollkommen kopflos. Alles hat auf Brüssel geschaut - also als EU-Hauptsitz; aber da war nichts mehr. Brüssel als belgische Hauptstadt hat genau so aufgehört zu funktionieren. Dann hatten alle eine Riesenangst vor den Franzosen, also vor allem die Flamen, kannst du dir ja vorstellen. Die deutsche Regierung hat wie immer gezögert, was das Zeug hält und bestenfalls eine diplomatische Note erwogen. Auf die hat dann aber keiner mehr gehört. Und da .
Lass mal noch. Wie war das dann mit Belgien?
Naja, die Holländer sind mit Bürgerwehren reingegangen und haben die Rathäuser übernommen.
Was meinst du mit Bürgerwehr, das ist doch was Lokales?
Ja, schon. Mir fällt aber kein besserer Begriff ein, vermutlich weil das ganz normale Leute waren, die da reingegangen sind. Also Lehrer, Handwerker, Angestellte - Bürger eben. Und die haben dann nicht nur vor ihrer Haustür gekehrt, sondern haben sich um die Region bekümmert, auch die Nachbarregion. Haben zugesehen, dass das öffentliche Leben möglichst normal weitergeht. Wichtig war, dass keine Polizei und auch kein Militär dabei waren. Wenigstens am Anfang nicht, später kamen schon welche dazu, das war dann aber auch egal und wurde vor allem allgemein akzeptiert. Was wollte ich jetzt sagen? Ah ja, also die waren sehr überlegt und haben sich für meine Begriffe vorbildlich benommen. Plötzlich waren im ganzen flämischen Landesteil die Holländer. Die haben peinlich darauf geachtet, dass niemand die Grenzlinie zwischen Flandern und Wallonien übertritt. Gab's die überhaupt, also historisch meine ich?
Weiß ich doch nicht, wahrscheinlich schon.
Na egal. Auf jeden Fall waren die Holländer plötzlich in Belgien, also in Flandern und haben einen auf vereinigte Niederlande gemacht. Tja, und alle Welt hat erwartet, dass auf der anderen Seite die Franzosen auftauchen. Aber da kam keiner.
Wieso?
Wegen diesem dämlichen Türken, der plötzlich gemeint hat, er müsse Zypern eingemeinden. Und natürlich das Erdöl rund um Zypern gleich mit. Das hat den Franzosen überhaupt nicht gefallen und die sind mit ihrer Marine ins östliche Mittelmeer gefahren und haben sich mit den Türken angelegt. Die Griechen natürlich gleich mit. Es gab etliche richtige Seegefechte und die Türken mussten sich zurückziehen. Aber es gab immer wieder Sticheleien und die Franzosen sind mindestens zwei Jahre dortgeblieben. Die europäische Politik hat in dieser Zeit natürlich verrückt gespielt. Alle haben immer nach den Amis geschaut, was die machen oder zumindest, wie sie sich äußern, aber von dort kam überhaupt nichts. Als deren Präsident im Amt gestorben ist, haben die ja selbst Riesenprobleme bekommen und waren lahmgelegt. Blondschopf lässt grüßen. Europa war aus amerikanischer Sicht quasi nicht existent, die waren einfach mit sich selbst beschäftigt - und sind es ja bekanntlich noch.
Wow. Ich habe da in meinem Bergdorf einfach nichts mitbekommen.
Jaja, schon gut. Also verstehst du so langsam? Wie Europa damals aussah? Keine NATO mehr, die EU kaputt, die Briten draußen. Die hatten auch noch gewaltig zu kämpfen, bis sie sich mit der neuen Situation arrangiert hatten, also politisch und wirtschaftlich. Haben es aber hinbekommen, nur dass sie dabei Nordirland verloren haben. Die ganzen Südländer standen vor dem innenpolitischen Zerfall, da keiner mehr Geld hatte. Arbeit gab's auch keine, dafür einige Aufstände. Belgien und Niederlande habe ich schon skizziert. Im Norden haben sie sich heftig abgeschottet, sind aber untereinander ziemlich stark zusammengerückt. Daraus ist später der Nordische Bund entstanden. Polen, Tschechei und Ungarn -...