Schweitzer Fachinformationen
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Der Ohnmacht eine Kampfansage
»Politik, Europa, Gegenwart, Alltag, das kann einem ja nun keiner erzählen, dass das keine Auswirkungen hat«, ruft die Erzählerin ihrer Freundin Constanze zu. Zusammen sind sie die proletarischen Prinzessinnen - »Prinzessinnen, wie sie nicht in jedem Buche stehen. Aber wartet nur, wir schreiben uns in die Bücher hinein«. Zusammen wollen sie Widerstand leisten. Eine Revolte anzetteln. Die alten Märchen überschreiben. Denn etwas ist aus den Fugen geraten: Plötzlich drängen sich immer mehr Montage in die Woche. Da sind Riesen, die wie aus dem Schauermärchen in die Wirklichkeit schnellen. Da ist der Tod, der, eben noch erschöpft, immer mehr zum Akteur wird. Da ist ein unsichtbares Kind, das dafür plädiert, geboren zu werden. Da ist der schönste Roman der Welt in weißen Jeans. Höchste Zeit also, jedwede Ohnmacht zu überwinden.
Dies ist der Roman einer ungewöhnlichen Woche in Leipzig, in der auf Montag nicht mehr Dienstag folgt, alte Sicherheiten verloren gehen und neue Formen des Sprechens und Handelns erprobt werden - in Übertreibung, Abschweifung, Torheit und Spiel. Es ist ein luzider Kommentar auf unsere Gegenwart, ein Plädoyer für Spaß, klugen Protest und das Ringen um Lebendigkeit.
Wir sind dumm, doof und dämlich.
Wir sind zu nichts zu gebrauchen.
Wir sind komplett out of order.
Wir merken ja gar nichts.
Wir merken alles, aber trauen unseren Sinnen nicht.
Wir verstehen uns selbst nicht, würden aber nicht behaupten, dass es ein Anrecht darauf gibt, sich selbst zu verstehen.
Wir halten nicht viel von uns.
Wir legen darauf auch keinen Wert.
Das kommt erst später, wenn wir bemerken, wie viel Zeit uns mehr oder weniger bekannte Leute, Gruppen, Strukturen darauf verwenden, sich laut- und leistungsstark gut zu finden.
Wir sind jederzeit bereit, diese Liste zu ergänzen.
Ach ja, wir gähnen.
Wir gähnen meinungsstark in die Fenster jener Wohnung hinein, in der wir vor kurzem noch wohnten, aus der wir halbwegs charmant entmietet wurden.
So kann man das eigentlich nicht sagen, sagt Constanze.
Doch, sage ich, so kann man das sagen, auch wenn es falsch ist und nichts daran wirklich charmant war. Sondern alles war unhöflich, luftnehmend, feige und brutal, aber ich will darüber nicht sprechen, weil ich gar nicht weiß, wie ich darüber sprechen soll, ohne zu wiederholen, was schon tausendfach gesagt wurde. Dieses Entmietungsproblem ist bestens bekannt, aber mir fehlen die Worte, um es wie ein noch zu entdeckendes Terrain anzupreisen, dem man sich neugierig und mit aller Entschiedenheit widmen möchte. Wer will sich schon mit altbekannten Problemen abplagen.
Ich will damit auch gar nichts mehr zu tun haben.
Meine Akkuladung beträgt noch fünf Prozent.
Ich muss abwägen.
Eine Frau von vierzig Jahren, sagt Constanze, muss vermutlich alles abwägen.
Ja, sage ich. Aber gerade ist es noch so, als müsste ich wenig beachten, wenngleich ich versuche, auf alles zu achten. Gerade bin ich noch voller Gratisproben und Werbeangebote für mich selbst. Aber gleich bin ich vorbei.
Wir ziehen uns an den Fensterbrettern hoch.
Ich mochte das Wohnen im Erdgeschoss ja nur bedingt, sage ich, ich hatte immer Angst vor Einbrechern.
Haha, gleich lachen wir uns darüber scheckig. Als ob es sich lohnte, Angst vor Einbrechern zu haben. Unsere Angstimpulse haben die falsche Schule durchlaufen, unsere Angstimpulse wurden auf die falsche Fährte gelockt.
Ja, wird Constanze dann sagen, die vollkommen falsche Fährte.
Gleich stehen wir mit unpassenden Ängsten vor schwindenden Brachen, in Malls und auf Demonstrationen und stehen sowieso vor den Nachrichten wie Kühe im Wald.
In unserer ehemaligen Wohnung ist alles überformt. Wir erkennen sie nicht wieder mit ihren Schiebegardinen, Ikea-Gemälden und Potpourri-Schalen. Und alles so ordentlich.
Die Eigentümerin oder Mieterin stürmt in das Zimmer, in das wir gerade von draußen schauen, das nicht mehr unser nahezu tanzsaalgroßes Wohnzimmer ist, sondern eine Collage aus kleinen Regionen: die Dining-Situation, die Relax-Station, das Heimkino-Areal etc. Die Bewohnerin klatscht in die Hände, als wollte sie Tauben vertreiben.
Wir stemmen uns an den Fensterbrettern noch ein wenig höher und fliegen schnatternd davon.
Dann springen wir im Freibad vom Startblock und schwimmen so, als pflügten wir das Wasser um.
Immer ist zugleich zu viel Kraft da und zu wenig.
Ach ja, die Techniken des Maßhaltens und der goldenen Mitte.
Wir balancieren halbherzig oder unbarmherzig oder großschnäuzig oder kleinkariert oder stocksauer oder tollkühn auf einer glänzenden Strippe in übersichtlicher Höhe durch die Mitte.
Das Slackline-Ding kapierst du nie, ruft Constanze, da sind wir in der Boulderhalle, meinen Kindern zuliebe, und ich stehe in diesen viel zu engen, stinkenden, ausgeliehenen Kletterschuhen und schwinge mich bereitwillig von der Slackline und falle kein bisschen und plumpse doch auf die dumpf-weiche Bodenmatte. Wir gehen durch dieses gepolsterte Gelände wie Elemente eines anderen Periodensystems, wir greifen nach den Klettergriffen und entwickeln kurz Ehrgeiz. Ich denke die Muskeln derer, die neben und über mir klettern, an meine Arme, lasse mich fallen und schaue an die dunkle Hallendecke. Ich rutsche in einen kurzen Schlaf.
Die Kinder klettern nach oben, zur Seite und zum Boden zurück und springen über mich, als ich von den Alpen träume.
Wir bauen uns aus unseren Defiziten keinen Berg und steigen für den besseren Überblick auf keine Spitze.
Wir schaufeln uns immer ein Grab.
Wir hören damit irgendwann auf.
Darauf freuen wir uns schon.
Wir sind die proletarischen Prinzessinnen.
Wir schwingen die Reifröcke und klopfen uns den Staub von den Jeans. Wir sagen, wenn jemand eine Monarchie braucht, dann sind das nicht wir, aber Prinzessinnen sind wir trotzdem.
Prinzessinnen, wie sie nicht in jedem Buche stehen. Aber wartet nur, wir schreiben uns in die Bücher hinein.
Unsere Eltern hatten keine Ahnung davon, welchen Weg wir einmal einschlagen würden. Unsere Arbeitereltern wussten nichts vom Königlichen in ihren Genen.
Wir legen alle Geheimnisse frei.
Oh, sagt Constanze, da habe ich ja jetzt schon Angst.
Nun ja, wir legen vielleicht nicht alle Geheimnisse frei. Man weiß das nicht so genau. Manchmal kommt mit einem Geheimnis ein Märchen hervor und gibt sich als Familiengeschichte aus.
Weil wir anstelle einer Familiengeschichte nur eine Ahnung von einer uns unbekannten und weitgehend verschwiegenen oder unerzählten Vergangenheit haben, entdecken wir unsere Geschichte in allen Büchern, die wir kennen. Wir wissen dennoch nie, wie uns geschah, woher wir kommen, wer wir sind.
Meine Güte.
Immer sagt jemand: Meine Güte.
Wir sind vollkommen derangiert, wir sind vollkommen zerstört.
Wirklich?, fragt Constanze.
Na ja, sage ich, das ist jetzt die Prognose. Und das wird der Trugschluss sein.
Wir werden uns über kurz oder lang, also eher über kurz als über lang, sehr zerstört vorkommen. Man merkt das dann oder merkt das nicht.
Kommt ganz drauf an, was wir preisgeben wollen oder können.
Kommt ganz drauf an, was wir verbergen wollen oder können.
Wir haben, sagt Constanze, bisher alles gut verborgen.
Ja, sage ich, wir beherrschen das Verstecken von Dingen, Geschehnissen, Meinungen, Erinnerungen meisterhaft.
Nur uns selbst können wir nicht gut verstecken, weil wir auch in größter Angst in den Verstecken kichern müssen.
Wir sind auch nicht so gut im Finden oder nicht so gut im Suchen.
Ich gebe ein Haus kaufen Leipzig / Haus kaufen Buckow / Haus kaufen Groß Neuendorf / Haus kaufen Los Angeles / Haus kaufen Warschau / Haus kaufen Chemnitz / Haus kaufen Berlin / Haus kaufen Zeitz etc.
Ich spiele immer noch unregelmäßig Lotto und erwarte demnächst einen größeren Gewinn.
Ich habe bisher zwölf Euro gewonnen.
Ich ehre den Pfennig nicht, muss aber des Talers für wert befunden werden.
Ich will unter keinen Umständen die Taube auf dem Dach und locke keinen Spatz in meine Hand.
Aber alle Spatzen sind willkommen.
Mit Tauben ist es halt so eine Sache.
Schon klar, sagt Constanze.
Ja, sage ich. Mit Tauben ist es zum Beispiel so, dass ich in Banjul, von einem Freund gefragt, vielmehr von dem Mann gefragt, den ich damals liebte und gar nicht mitbekam, wie ungleich wir waren, ob ich ihm Geld für seine kleine Taubenfarm geben würde, damit er Futter kaufen könnte, begründungslos verneinte. Ich sagte stattdessen, er könne Kondome nicht zweimal benutzen, und schickte ihm später über Western Union viel Geld, weil er meinte, ein Fahrradverleih sei eine gute Sache, damit werde er es zu einem soliden Einkommen bringen.
Hat es geklappt?
Lebt er noch?
Und wenn nein: Wer kann ihn von mir grüßen?
Wie erreicht man die Toten?
Bleiben wir irdisch, sagt Constanze.
Halten wir die Augen auf Erde und Horizont gerichtet und uns bei den Händen.
Lebst du noch?
Aber ja.
Lebe ich noch?
Lebt Ihr noch?
Geht es Euch gut?
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