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Nachdenklich betrachtete Kommissar Hansen die vor wenigen Jahren neu angelegte Fischtreppe, die es Lebewesen jeglicher Art ermöglichte, das gleich daneben liegende mächtige Stauwehr unterhalb der alten Schwentinebrücke zu umgehen. Der gefesselten männlichen Leiche, die heute Morgen in den mäandrierenden Betonschleifen der Fischtreppe aufgefunden wurde, war das allerdings nicht gelungen. Ein massiver Betonklotz an den Füßen hatte verhindert, dass die Leiche von der Schwentine in die Mündung zur Kieler Förde gespült wurde.
Nachdenklich schloss Hansen die Augen. Ein Selbstmord mit einem Betonklotz am Bein war kaum zu vermuten. Aber warum hatten die Mörder die Leiche ausgerechnet auf einer Fischtreppe unterhalb einer frequentierten Brücke entsorgt? Unterhalb des Stauwehrs wäre die Leiche in der breiten Mündung der Schwentine vermutlich niemals entdeckt worden. Das bereitete dem Kieler Kriminalkommissar Missmut.
Schlecht gelaunt schlug er die Augen wieder auf. Die hoch am Himmel stehende Mittagssonne schickte ihre Strahlen über golden aufblitzende Wellen ins Gesicht des Kommissars. Wie jeden Tag würde sie sich weiter auf die Reise nach Westen begeben, um am Abend hinter den historischen Bauten der Landesregierung auf der anderen Seite der Kieler Förde unterzugehen. Auch wenn es eigentlich die Erde war, die sich um die Sonne drehte. Die kleine historische Steinbrücke, von der aus er den gut einsehbaren Tatort musterte, war in den letzten Jahren aufwendig restauriert worden. Sie stand seit mehr als einem Jahrhundert felsenfest auf ihrem angestammten Platz und verband die Kieler Stadtteile Neumühlen und Wellingdorf. Auf der nördlichen Seite der Schwentinemündung war inzwischen eine schicke Uferpromenade angelegt worden, und dahinter dominierten die modernisierten Bauten der ehemaligen Kieler Howaldtswerke, in der jetzt die Kieler Fachhochschule residierte.
Auf der anderen Seite der Schwentinemündung in Wellingdorf, wo früher unzählige Fischkutter mit kräftiger Rauchentwicklung aus mächtigen Schornsteinen an- und ablegten, wurde gerade der Kieler Seefischmarkt von Investoren kräftig aufgepäppelt. Das danebenliegende Zentrum für Meeresforschung Geomar erstrahlte dagegen schon längere Zeit in neuem Glanz, während auf dem kleinen Bootshafen davor die gleiche gewohnte Unordnung wie früher herrschte.
Eine elegante Erscheinung soll die Leiche gewesen sein: Maßanzug, teure Designerschuhe, braun gebrannter Teint und ein tadelloses Gebiss, dem ersten Augenschein der Kollegen von der Spurensicherung nach. Aber warum diese Ablage der Leiche auf der Fischtreppe? Wurde hier ein Signal gesetzt oder gar eine Warnung gesendet? Wer konnte der Absender sein?
In diesem Moment des Nachdenkens holte den Kommissar seine Vergangenheit unerwartet heftig ein, denn vor mehr als 40 Jahren war er zur Ausbildung in die Polizeiwache in Kiel-Dietrichsdorf am Langen Rehm abgeordnet worden. In diesem oberhalb von Wellingdorf und Neumühlen liegenden Kieler Stadtteil war seinerzeit die Stimmung durchgängig rau, weil die florierende Werft mit den vielen umliegenden Spelunken jede Menge Gesindel anlockte. Aber nicht nur aus diesem Grund fuhr ihn sein Vater öfter mit dem Auto zum Dienst. Stets sagte er das Gleiche, wenn sie mit seinem VW-Käfer in Dietrichsdorf die Tiefe Allee hochfuhren.
»Guck mal, Konrad, da habe ich gelernt. Bei der Firma Stelting. Ich musste damals immer zu Fuß über die kleine Steinbrücke laufen und dann diesen Berg hoch bis zur Lehrstelle. Das war auch bei gutem Wetter nicht immer nur lustig.«
Hansen wusste, dass die Straßenbahn damals in einer Wendeschleife in Wellingdorf kurz vor der kleinen Steinbrücke endete und sein Vater den Rest des Weges zu Fuß erledigen musste. Aber gut einen halben Kilometer bergan zum alten Ortskern von Dietrichsdorf, das konnte für seinen Vater kaum ein ernstes Problem gewesen sein. Zumindest im Gegensatz zu manchen Berichten, welche er später von seinen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg preisgegeben hatte.
Kommissar Hansen zwang sich, die Erinnerung hinter sich zu lassen, denn er hatte sich um den Todesfall an der Fischtreppe zu kümmern. Das Klingeln des Handys schreckte ihn auf, es war der Kollege Fingerloos von der Spurensicherung.
»Die Identität des Toten ist geklärt, Konrad. Taucher haben Brieftasche und Smartphone unterhalb des Stauwehrs gefunden. Seinem Ausweis nach handelt es sich um einen Kieler Investor mit Wohnsitz in Düsternbrook: Gernot Wille, Jahrgang 1969.«
Kommissar Hansen zuckte bei der Nennung seines ungeliebten Vornamens immer wieder aufs Neue zusammen. Pferdi Fingerloos und er duzten sich zwar, aber sein Kollege hätte es auch beim Nachnamen belassen können.
»Todesursache, Pferdi?«
»Ertrunken ist der Gernot Wille vermutlich nicht, denn das ist eine Form des Erstickens in einer Flüssigkeit und dauert maximal fünf Minuten. Es wird Wasser eingeatmet, die Atmung sistiert, und es kommt zum Herzstillstand. Wasserleichen unterliegen im Gegensatz zu anderen Leichen vielen Faktoren, die der Identifikation und auch der Todeszeitbestimmung erschwerend entgegenwirken, egal, ob die Leiche ertrunken ist oder postmortal ins Wasser gelangte.«
Das war Hansen nicht neu. »Hat der Polizeiarzt den Todeszeitpunkt feststellen können, Pferdi?«
»Ja, die Leiche hatte noch keine Waschhaut, sondern eine Gänsehaut. Das spricht für einen relativ kurzen Aufenthalt im Wasser, so um die zwei Stunden. Gegen 6 Uhr trudelte die Meldung ein, und keine halbe Stunde später wurde die ärztliche Leichenschau durchgeführt.«
Hansen pfiff durch die Zähne. »Also vermutlich zwischen 4 und 5 Uhr.«
»Richtig. Es wird den armen Kerl allerdings mit ziemlicher Sicherheit woanders erwischt haben, nicht an der Fischtreppe.«
»Wie kommst du denn darauf, Pferdi?«
Der Leiter der Spurensicherung lachte. »Petechien. Einblutungen in den Bindehäuten und deutliche Strangulationsfurchen. Sein Tod ist aller Wahrscheinlichkeit nach durch Erwürgen mit einem Draht oder einer Schnur eingetreten, bevor er im kalten Nass entsorgt wurde. Die Gerichtsmedizin wird nach der Obduktion mehr dazu sagen können.«
Wieder pfiff Kommissar Hansen pfiff leise durch die Zähne. »Aber warum hat man ihm einen Betonklotz ans Bein gebunden?«
»Weil er genau dort gefunden werden und nicht in die Schwentine gespült werden sollte wie die Brieftasche und das Smartphone.«
Das war gut möglich, aber Fingerloos legte noch einmal nach. »Raubmord war es vermutlich nicht, immerhin schlummerten noch 800 Euro in seiner Brieftasche. Wir werden seiner Wohnung an der Kiellinie gleich einmal einen kleinen Besuch abstatten.«
Endlich kam die Spusi einmal von selbst in die Hufe. »Dann viel Erfolg, Pferdi.«
Hansen beendete das Gespräch, denn jetzt galt es, die unmittelbare Nachbarschaft der Fischtreppe abzuklopfen. Seine Schritte führten ihn über das neu gesetzte Großsteinpflaster auf die andere Seite der alten Steinbrücke. Auf diesem holperigen Untergrund wünschte er sich den glatten Blaubasalt von der Tiefen Allee, obwohl Vater mit seinem VW-Käfer dort mehr als einmal bergab bei nasser Fahrbahn heftig ins Schlingern geraten war.
Auf dem Anlegeplatz der Schwentineschifffahrt, die ebenfalls in neuem Glanz erstrahlte, lag an diesem freundlichen Sommertag lediglich eines der flachen, orange-weißen hölzernen Ausflugsboote am Steg. Die anderen Boote warteten, abdeckt mit blauen Stoffplanen, auf einem Seitenarm geduldig auf ihren Einsatz am Wochenende. Der beschauliche Blick auf den begrünten Anlegeplatz wurde von einer prächtigen Bewaldung der Schwentine zu beiden Seiten eingerahmt, wobei der Fluss wenige 100 Meter weiter von der überwuchernden Natur verschluckt wurde. Im Volksmund wurde die Schwentine daher Holstein-Amazonas genannt. Die in den 1970ern gnadenlos über das Panorama gespannte hässliche Schnellstraßenbrücke aus Beton blendete der Kommissar einfach aus.
Sein Vater hatte vermutlich auch so manches in seinem Leben ausblenden müssen: Wehrdienst, Krieg, Gefangenschaft. Vermutlich Schleiferei in der Ausbildung, Schiss an der Front und Sorge um die weitgehend schutzlose Familie in der Heimat, denn Kiel mit den vielen Werften und Rüstungsbetrieben war ein beliebtes Angriffsziel der Alliierten. Die vielen weißen Kreuze der abgeschossenen alliierten Flugzeugbesatzungen auf dem Kieler Nordfriedhof zeugen heute noch davon, wobei die Gedenksteine der gemeinsam gefallenen Kameraden dicht nebeneinander gesetzt wurden. Er hatte aber auch Berichte gelesen, dass mancher Flugzeugkommandeur der alliierten Bomber bisweilen eine Handgranate in der Hand hielt, um sich und seinen Kameraden bei einem Abschuss seitens der deutschen Artillerie Leid oder Gefangenschaft bei den Nazis zu ersparen. Auf der anderen Seite war Hansens Vater vor der Kriegsgefangenschaft lange Jahre in Norwegen stationiert, und vermutlich hatten die deutschen Soldaten als Besatzer dort nicht nur Rentiere gefüttert.
Aber nein, Schnitt. Er musste die Gedanken an die Vergangenheit verdrängen und sich auf den kaltblütig verübten Mord konzentrieren. So schritt Kommissar Hansen auf den kleinen Kiosk auf dem Anlegeplatz der Schwentineschifffahrt zu, der nicht nur dem Kartenverkauf diente, sondern auch Speisen und Getränke feilbot. Die Fensterläden waren zwar heruntergezogen, im Inneren wurde jedoch heftig geräumt. Auf Hansens Klopfen hin knurrte ihn aus dem Inneren des Kiosks eine sonore Stimme an.
»Die nächste Fahrt ist erst um 14 Uhr. Steht vorne auf dem Schild. Ich bin damit beschäftigt,...
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