Schweitzer Fachinformationen
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Eine unverzichtbare Stimme zur Lage der Demokratie in Ost und West
Der 9. November 1989. In Berlin fällt die Mauer. Es ist einer der glücklichsten Momente der deutschen Geschichte. Ines Geipel ist bereits im Sommer in den Westen geflüchtet und erlebt den Zeitriss, die Hoffnungen und Aufbrüche als Studentin in Darmstadt. 35 Jahre danach erinnert sie sich: Wie fühlte er sich an, dieser historische Moment des Glücks? Wie erzählen wir uns Ost und West und die Wiedervereinigung? Woher kommt all der Zorn, woher die Verleugnung, wenn es um den aktuellen Zustand des Landes geht? Mit großer Klarheit und Offenheit geht Ines Geipel in ihrem Buch "Fabelland" noch einmal zurück. Zurück in die politische Umbruchslandschaft nach 1989, in die eigene Familie, zurück in all die verstellten, besetzten Räume der Erinnerung, zurück zu den Verharmlosungen und Legenden, die die Gegenwart so vergiften.
Ein fesselndes, nein, ein befreiendes Buch, das auf die Frage zuläuft: Können die Deutschen ihr Glück auch verspielen?
"Ein in Stil und Sprache ganz außergewöhnliches Buch, das tiefer in die Mentalitätsgeschichte dringt und so auch für die Lage der Bundesrepublik instruktiver ist als der übliche Ost-Klamauk."
Sofort, unverzüglich. Am Anfang war das Glück. Ruhig, selbstverständlich, auf seltsame Art bei sich. Etwas, von dem ich den Eindruck hatte, es war selbst ganz froh, endlich da zu sein. Das kleine Wort endlich. Still, andächtig, das nicht recht zu den späteren Euphorie-Bildern des Tages passen wollte. Es war wirklich der Anfang, denke ich. Die Abendschicht, die Gäste in der Darmstädter Weinstube, die gusseisernen Pfannen, die Schweinelenden in dicker Senfsoße, auf einmal die Hektik. Aber wieso Anfang? Am Ende meiner Ost-Zeit war das Glück. Ein Glück an und für sich. Die Lücke im Schicksal. Losgelöst von allem. Etwas Auftreibendes, das da war, um gleich wieder loszukommen. Immerhin war nicht recht klar, was in zwei Stunden sein würde. Die Rede ist vom 9. November 1989. Das ist nun 35 Jahre her. 35 Jahre.
Geht es um diesen Tag, habe ich den Film »Berlin - Die Sinfonie der Großstadt« von 1927 vor Augen. Minute 7.53: Es ist morgens um fünf Uhr. Die Stadt schläft noch. Auf einer leeren Straße rollt ein Weiß. Ein Stück Stoff, eine ausgewaschene Zeitung, eine Tüte, vielleicht eine Windel. Ich habe den Film ein paarmal gesehen, aber nie rausfinden können, worum es sich dabei handelte. Die Stadt ist völlig menschenleer, alles still, kein Wind. Der weiße Flecken trudelt den Asphalt entlang, wer weiß, von wem oder wodurch bewegt. Er bläht sich auf, überschlägt sich, bleibt liegen, nimmt erneut Fahrt auf. Was war das?
Der 9. November 1989. Über den sich was sagen lässt? War es Zufall, Intuition, ein historischer Seufzer, Müdigkeit, Schmerzmüdigkeit, der große Gegenalgorithmus? Hatte sich an dem Tag die Geschichte der Revolution ergeben, oder war es eher andersrum? Wollte sich die Revolution verbinden, einfach dazugehören, zu dem, was vorher gewesen war, sich bereits ereignet hatte, in einem Gestern, früher, vor sehr langer Zeit? Wollte sie sich schon mal anwesend machen, auf keinen Fall zu spät sein in dem, was demnächst, bald, in Kürze geschehen würde? Die weiße Geschichtstüte, die sechs Jahre vor Hitler an einem kalten, noch dunklen Morgen durch die Reichshauptstadt trudelte. Das Bild rollt in meinem Kopf. Ein harmloser, weißer Flecken. Nichtssagend, als Geschichte unerklärt, sich langsam nach vorn schiebend.
Der 9. November 1989. Dann der Ort: Internationales Pressezentrum der DDR. Dann die Zeit: 18.53 Uhr. Dann die Stimme, die wie aus dem Nichts sagte: »Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.« Dann das: »Ab sofort, unverzüglich.« Von der weißen Geschichtstüte im Berlin-Film bis zum Ort der Pressekonferenz dürften es nicht viele Schritte gewesen sein.
Der 9. November 1989. Das Wochenende stand bevor. Ich war erst Ende August nach meiner Flucht aus dem Osten in Darmstadt gelandet. Die Abendschicht in der Weinstube des Hotels Weinmichel, die um 17 Uhr begann. Sie würde lang werden. Das Reservierungsbuch war voll. Ich rauchte oben vor der Eingangstür noch eine Zigarette. Die Stämme der Platanen im Herrngarten gegenüber leuchteten mir zu. Der Herbst war erstaunlich mild. Ich lief die Treppe des Weinkellers hinunter, wischte die Tische ab, schnitt die Baguettes, verteilte sie in Brotkörbe, quatschte zwei, drei Minuten mit Ingo, dem Koch, zog auf der Toilette den Lidstrich nach, trank ein kleines Bier, zupfte die Mickerblumen aus den Tischsträußen. Um 19 Uhr lief ich die Treppe hoch, um die Weinstube zu öffnen. Es war alles vorbereitet. In Berlin fiel die Mauer.
Zeitschwebe. Dieser Donnerstag. Je weiter er der Vergangenheit angehört, umso stärker ragt er ins Jetzt. Im Grunde ist er mit jedem Jahr nähergekommen, als habe er vor, sich noch einmal zu ereignen. Will er sich an sich selbst erinnern, nicht übergangen werden? Wieso haben die Geschichte, die Welt, die Alliierten oder wer auch immer den Deutschen so viel Glück ermöglicht? Noch dazu an diesem deutschen 9. November? Sie hätten auch nein sagen, abwinken, mit dem Kopf schütteln können. Es war doch klar, dass es sich um ein großes, ja unwahrscheinliches Glück handeln würde. Eins, das es wohl nur an diesem Tag, genauer nur zu dieser Stunde geben konnte. Keinen Tag davor und auch nicht viel später.
Die flimmernden Platanenstämme im Herrngarten, ihre auf dem Boden liegenden Schalenhäute. Wie eingerollter Papyrus. Die Wärme des Novembers, die 35 Jahre. Als würde ich in einem Zeitfass hocken. Die Sache mit dem Nullpunkt. Es gibt ihn ja nie. Aber es gibt echte Anfänge. Und Darmstadt war einer. Das Gefühl, dass alles im Neuen neu war, unbeschrieben, unbesetzt. Zum ersten Mal Paris sehen, den ersten Champagner trinken, zum ersten Mal ins Theater nach Frankfurt fahren, den ersten Band René Girard in den Händen halten. Ich weiß nicht, warum ich in letzter Zeit öfter Sehnsucht nach Darmstadt habe, nach diesen vielen ersten Malen, dieser Aufgeregtheit, der Zeitschwebe. Nach dieser seltsamen Nullstadt, ihren sturzgeraden Straßen, ihrem glimmenden Nachkriegsbeton, ihren lichten, großen Himmeln. Nach meinem Anfangstaumel, meiner Naivität, meinem Staunen. Ich laufe nachts in Gedanken durch die quadratische Stadt. Die Zeit schien so gerade wie meine Wege - von der Studienzulassung in die Weinstube, von der Kunsthalle zum Phänomenologen Hermann Schmitz, der im Uni-Schloss seine Vorträge hielt. Was er sagte, war so neu für mich wie mein Anfang: dass Gefühle einem nie allein gehören. Dass sie etwas Räumliches haben. Dass es trotz allem so etwas wie einen Leib gebe. Die Sätze des hageren Mannes vorn am Pult wippten durch den Raum, während mein Kopf wie die weiße Geschichtstüte in die Kindheit zurücktrudelte, zu einem ihrer Kernbilder - der im Krieg zerbombten Dresdner Frauenkirche. Ihre verkohlten Sandsteinblöcke dösten wie ein großes Reptil mitten in der Stadt. Auf den ausgerissenen Fenstersimsen wuchs Gras. Als Kind dachte ich an Wimpern. Heute denke ich an die Wimpern der Geschichte.
Wie sehr beides zusammengehört: Dresden und Darmstadt. Es sind Spiegelszenen. Ost und West. Die Ruine und der Beton, das Zerschlissene und das Stillose, das Eingerutschte und das Versiegelte. Die hessische Stadt diente am Ende des Krieges der No. 5 Bomber Group der Royal Air Force als Probestadt für Dresden und wurde in einer Nacht de facto ausgelöscht. Frankfurt, Langen, Köln, Mannheim. Als ich dort ankam, wusste ich das nicht: wie zerstört diese Städte am Ende des Krieges waren. Die Bombenlöcher und der Nachkriegsbeton. Ich sah ihn, wenn ich durch Darmstadt lief. Und ich sah ihn nicht. Ich hatte kein Bild für das, was er verdeckte. Die Brandnächte, den großen Schatten.
Dieser eine Novemberdonnerstag und die Wochen danach. Die ersten Schritte im Neuen, die Hochstimmung, die Erwartung, das unsagbar Leichte. Ich kam gar nicht mehr runter. Das erste Kneipengeld und die Flüge nach Berlin, um die Freunde in der Stadt nun ohne Mauer wiederzutreffen. Die Berliner Unruhe und die Angst vor der Umkehr. Die Sorge, dass der Hammer noch einmal fallen, sich die Zeit zurückdrehen könnte. Dieses Novemberflattern, das vielleicht erst am 3. Oktober 1990 endete. Die Nachrichten, die sich überschlugen: Welcher Politiker wurde abgesetzt, wer war aufgeflogen, wer in Nacht und Nebel Richtung Starnberger See verschwunden? Die Szenen, von denen die Freunde berichteten: die Hektik an den Grenzübergängen, der Andrang an den Wechselstuben, die vielen Kinderwagen, an denen Bügeleisen und Bohrmaschinen baumelten. Als ob ganze Haushalte pausenlos von Ost nach West türmten. Unter dem wüsten Gerenne die Hoffnung, aus der mit jedem Schritt eine größere Unsicherheit wurde. Berlin als etwas Getriebenes. Das Rissige, Wunde, Aufgebrochene war seine Haut.
Darmstadt schien von all dem unbehelligt. Dort liefen die Dinge weiter wie bisher, dort waren die Tage auch ohne Revolution vollzählig, dort gab es den Beuys-Block im Landesmuseum, direkt gegenüber der Weinstube. Sein Fett bröselte, der Filz wirkte strapaziert, wie von den Verhältnissen überfordert. Dennoch zog es mich dahin. Als könne man bei Beuys noch mal durch die Antike laufen. Sie war fern, aber eindeutig. Sie staubte, aber sie strahlte Ruhe, irgendwie Gediegenheit aus. Dazu ihre feinen, hie und da unterbrochenen Linien, die es trotz allem schafften, die Spur zu halten. Auf einem der Schilder das Wort Essenz.
Der Dezember 1989, als ich endlich das Geld für meine ersten Westklamotten zusammenhatte. Der erste Mantel, das erste Paar Schuhe, der erste Pullover. Im Foyerspiegel des Weinmichel-Hotels sah ich aus wie eine, die endlich durchstarten würde, die richtig was vorhatte. Ich stand am Gate Nummer 18 des Frankfurter Flughafens, wie ich später an allerlei Gates stehen würde, und hatte nur einen Gedanken: Das hier war für dich nicht vorgesehen. Sydney, Cagliari, Yverdon. Das solltest du nicht sehen, dazu solltest du nicht gehören, das sollte nicht dein Leben sein. Ich hatte null Ahnung davon, was kommen würde. Ich hatte nichts. Vielleicht war das das Schönste.
Weggesacktes. Mein Interregnumsgefühl: etwas zwischen davor und danach, zwischen vorn und hinten, alt und neu, bange und euphorisch. Wenn ich von heute aus auf die Darmstadt-Zeit blicke, erscheint sie mir eigenartig separiert, wie ein Scherenschnitt in der Zeit, etwas Unanfechtbares, Herausgehobenes, eine seltsam...
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