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In unserem Szenario ruft die Nato den Konsultationsmechanismus nach Artikel 4 des Nato-Vertrags aus. In diesem Artikel 4 heißt es: »Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.«[1]
Sie können sich das Ganze wie in einer Nachbarschaft vorstellen. Ein Nachbar hört nachts verdächtige Geräusche aus einem der gegenüberliegenden Gärten. Er weiß aber nicht genau, woher sie kommen. Er macht das Flutlicht an und ruft die Anwohnenden zusammen. Ob da Einbrecher sind, wissen sie noch nicht, aber es kommen alle zusammen, beraten und entscheiden dann, was sie tun wollen. Bei Artikel 4 kann ein Mitgliedstaat die übrigen Nato-Staaten zu Gesprächen einberufen, wenn dieser sich bedroht fühlt oder seine Sicherheit gefährdet sieht. Als Nato-Mitglied ist Deutschland zwar anders betroffen als etwa Litauen mit einer gemeinsamen Grenze zu Belarus, hat sich aber durch den Nato-Vertrag zur Kooperation verpflichtet.
Angesicht der Truppenbewegungen in Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad fühlen sich vor allem Litauen, Estland, Lettland und Finnland in ihrer Sicherheit bedroht. Die drei baltischen Staaten und Finnland haben also in unserem Szenario eine gemeinsame Erklärung gegenüber dem Nato-Generalsekretär abgegeben, dass solche Gespräche stattfinden sollten. Daraufhin lädt der Nato-Generalsekretär kurzfristig zu einer Sitzung des Nordatlantikrats (North Atlantic Council, NAC) ein, dem alle 32 Mitgliedstaaten der Nato angehören. Eine solche Sitzung kann innerhalb weniger Stunden einberufen werden, im Zweifel noch am selben Tag. Dann diskutieren sämtliche Mitglieder im NAC die Lage. Im NAC wird jeder Staat von einem Ständigen Vertreter repräsentiert, der Botschafterrang hat. Der Nordatlantikrat kann ebenso auf höherer Ebene, also auf Ebene der Verteidigungs- und Außenminister oder der Staats- und Regierungschefs, zusammenkommen. Konsultationen bedeuten nicht automatisch, dass es einen gemeinsamen Beschluss oder einen Einsatzbefehl gibt. Es ist auch keine Kriegserklärung.
So haben in der Vergangenheit Polen und die baltischen Staaten Artikel 4 bereits angerufen, Polen zum Beispiel nach der Annexion der Krim 2014 oder die baltischen Staaten nach der russischen Vollinvasion 2022. Die Türkei hat Artikel 4 mehrfach aktiviert, etwa im Zusammenhang mit dem Irakkrieg oder dem Bürgerkrieg in Syrien, als türkische Soldaten durch einen Angriff aus Syrien getötet wurden.[2]
Die Konsultationen können zu politischen Maßnahmen, zu gemeinsamen Erklärungen oder Signalen (etwa zur Abschreckung), zu einer verstärkten Überwachung, Aufklärung oder Truppenverlegungen führen. Auch weitere Schritte, wie zum Beispiel ein Verfahren nach Nato-Artikel 5 (der Nato-Bündnisfall), sind denkbar.
In unserem Fall werden die Konsultationen dazu führen, dass man sich auf die Nato-Operation »Defend East« verständigt hat (siehe nächstes Kapitel). Rund 30000 Soldaten werden nach Polen, Litauen und Rumänien verlegt. Außerdem wird ein Manöver angesetzt, ein Test, um die Belastbarkeit der Infrastruktur zu überprüfen (mehr dazu im nächsten Kapitel).
Gemeinsame Manöver und Operationen außerhalb des Ernstfalls gab es bisher einige. »Air Defender 23« im Juni 2023 war zum Beispiel die größte Luftwaffenübung Europas seit Nato-Bestehen. Organisiert von Deutschland, nahmen 10000 Soldaten aus 25 Nationen und rund 250 Flugzeuge daran teil. Ziel war die schnelle Verlegung und Einsatzbereitschaft im europäischen Luftraum.[3] 2024 fand mit »Steadfast Defender 2024« das größte Nato-Manöver seit dem Kalten Krieg mit rund 90000 Soldaten statt.[4] Als Teil dieses Großmanövers verlegte die Bundeswehr in der Übung »Quadriga« unter anderem eine Panzerdivision nach Litauen.[5] Im Herbst 2024 folgte »Northern Coasts« als multinationales Marine-Manöver unter deutscher Führung in der Ostsee.[6] Auch für den Cyber- und Informationsraum gibt es übrigens solche gemeinsamen Übungen, um die Zusammenarbeit und Verteidigungsfähigkeit der Nato-Staaten zu verbessern.
In unserem Szenario spitzt sich die Lage zu, es gibt aber keinen unmittelbaren Angriff auf Deutschland - und ein solcher steht auch nicht unmittelbar bevor. Als Vorstufe zum Verteidigungsfall sieht die Verfassung den Spannungsfall vor (Artikel 80a Grundgesetz, GG). Dieser fußt auf der Überlegung, dass bestimmte Maßnahmen und Vorbereitungen erforderlich sind, um die Verteidigungsbereitschaft Deutschlands noch vor dem Verteidigungsfall zu erhöhen.
Der Spannungsfall ist Teil der Notstandsverfassung des Grundgesetzes. Denn für besonders außergewöhnliche Lagen gibt es die Notstandsregelungen. Der Sicherheitsschalter im Maschinenraum der Demokratie: Man darf ihn nur im Ernstfall umlegen. Ist der aber gegeben, soll er dabei helfen, Schaden vom Ganzen abzuwenden, wenn nichts anderes mehr hilft. In unserer Verfassung sind vier Zustände des »äußeren Notstands«[7] geregelt, die die Notstandsverfassung bilden: der Verteidigungsfall (Artikel 115a GG), der Spannungsfall, der Zustimmungsfall und der Bündnisfall (jeweils verankert in Artikel 80a GG). Die Ausnahmezustände ermöglichen es dem Staat, in Krisen- oder Katastrophenlagen mit besonderen Befugnissen zu handeln, ohne unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung aufzugeben. Ergänzt werden diese durch die Notstandsgesetze.
Deutschland hat bislang nie vollständig vom verfassungsrechtlich geregelten Notstandsrecht Gebrauch gemacht, insbesondere nicht von den Artikeln 115a ff. GG über den Verteidigungsfall. Auch der Spannungsfall wurde noch nie offiziell festgestellt. Das liegt einerseits an der grundsätzlichen politischen Zurückhaltung im Umgang mit Notstandsmaßnahmen, andererseits daran, dass es seit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 keine Situation gab, die diese Maßnahmen in vollem Umfang notwendig gemacht hätte. Selbst während der Coronapandemie wurde nicht das verfassungsrechtliche Notstandsrecht aktiviert. Stattdessen griff man auf das Infektionsschutzgesetz (IfSG) zurück, das keine Notstandsregelung im Sinne des Grundgesetzes ist, sondern ein einfaches Bundesgesetz. Es ermöglichte weitreichende Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen, Geschäftsschließungen oder Versammlungsverbote.
Trotz der weitreichenden Befugnisse, die der Staat im Notstand erhält, sind zentrale verfassungsrechtliche Prinzipien davon unberührt. Die Menschenwürde (Artikel 1 GG) bleibt zum Beispiel unantastbar und darf unter keinen Umständen verletzt werden. Wie zur Coronazeit sind Gerichte handlungs- und entscheidungsfähig und kontrollieren staatliches Handeln.
Deutschland ruft also den Spannungsfall aus. Mit dessen Feststellung werden die Notstandsgesetze in Deutschland aktiviert. Hierzu zählen zahlreiche bundesrechtliche Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze. Sie liegen vorbereitet in der Schublade für den Fall der Fälle. Deshalb werden sie Schubladengesetze genannt. Solange sie nicht aktiviert wurden, entfalten sie noch keine Wirkung, und keiner kann auf sie zugreifen. Wir merken also nicht, dass sie eigentlich die ganze Zeit fertig in den Schubladen der Regierung liegen.
Die Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze sollen im Wesentlichen der Vorbereitung und Aufrechterhaltung der staatlichen Handlungsfähigkeit und der Versorgung der Bevölkerung im Spannungs- oder Verteidigungsfall dienen. Sie regeln, wie der Staat auf Ressourcen, Infrastruktur und Personal zugreifen kann - sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich. Sie sind wie Werkzeuge in einem normalerweise gut abgeschlossenen Werkzeugkasten. Wird der Werkzeugkasten aufgeschlossen, liegen dort verschiedene Werkzeuge, mit denen der Staat die Versorgung der Bevölkerung und zentrale Bereiche der Wirtschaft sicherstellen kann. Dazu gehören etwa Vorrangregelungen: Betriebe können verpflichtet werden, zuerst für lebenswichtige Bereiche wie Gesundheit, Ernährung oder Energie zu produzieren, bevor sie anderen Aufträgen nachgehen. Ebenso kann der Staat Unternehmen anweisen, bestimmte Vorräte zu halten oder im Notfall bestimmte Leistungen zu erbringen.
Ein weiteres Werkzeug ist die Möglichkeit, den Verkehr zu steuern - etwa durch das Freihalten von Transportwegen für Hilfsgüter oder durch Einschränkungen im Individualverkehr, wenn Straßen für Einsatz- oder Rettungskräfte gebraucht werden (siehe Kapitel IV). Auch der Zugriff auf Lagerbestände, Rohstoffe oder technische Infrastruktur ist möglich, allerdings nur gegen Entschädigung und auf gesetzlicher Grundlage. In besonders schweren Fällen kann der Staat sogar Menschen verpflichten, in systemrelevanten Bereichen mitzuarbeiten, etwa in der Logistik, der medizinischen Versorgung oder der Energieversorgung. Viele der Maßnahmen sind gesetzlich geregelt. Sie dürfen nur unter klar definierten Bedingungen angewendet werden, nicht willkürlich.
Wer einen Blick hineinwerfen sollte, bitte nicht erschrecken. Die Texte wurden vor...
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