Schweitzer Fachinformationen
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Die Geschichte ist folgende (und einige dürften sie bereits kennen): Ich heiße Enaiatollah Akbari, aber alle nennen mich Enaiat. Ich kam in Afghanistan zur Welt, im Hazarajat, einer sehr unwegsamen, felsigen Bergregion westlich von Kabul, übersät von Weideflächen und mit dem klarsten Himmel, den man sich nur vorstellen kann. Im Winter Schnee, nachts Sterne - so unendlich viele, dass man sich regelrecht die Taschen damit füllen kann. Der Hazarajat ist die Heimat meines Volksstamms der Hazara, eine Region, die ungefähr halb so groß ist wie Italien, nur dass dort weniger als zehn Millionen Menschen leben.
Schaue ich in Turin, wo ich heute wohne, Richtung Alpen (vor allem gegen Ende des Winters, wenn es noch letzte Schneereste über den gefrorenen Wäldern gibt), spüre ich manchmal eine Art Sehnsucht, die mich im Nacken kitzelt. Dann bin ich auf einmal wieder bei den wärmenden, glimmenden Kohlen in unserem Haus in Nawa, beim Geschrei der Freunde, die sich draußen auf der Straße treffen, um Buzul-bazi zu spielen, eine Art Würfelspiel, bei den Düften der Speisen meiner Mutter und vor allem bei ihrer Stimme, die ruft: »Enaiat, Enaiat Jan, ich brauche deine Hilfe, wir müssen Wasser holen. Enaiat, wo steckst du bloß?
Als ich zehn Jahre alt war, beschloss meine Mutter, dass ihr angesichts meiner schwierigen Lage nichts anderes übrig blieb, als mich nach Quetta in Pakistan zu bringen und dort zurückzulassen, damit ich mich den Scharen von Straßenkindern anschließe. Anfangs habe ich das nicht verstanden, später schon: Für sie war es besser, mich in Gefahr, aber eben auch unterwegs in eine andere Zukunft zu wissen, als mich bei sich zu behalten, im Klammergriff ständiger Angst. Lieber übergab sie mich einem lärmenden Haufen von Halbwaisen, die dank der Großzügigkeit einiger Bazarhändler überlebten, als mich in unserer Heimat einem reichen Geschäftsmann auszuliefern, einem Verbündeten der Taliban, um die angeblichen Schulden meines Vaters zu begleichen.
Ich weiß noch gut, wie alles anfing. So klein ich noch war, merkte ich doch, dass etwas nicht stimmte: Der Gestank der Angst hatte sich in unserem Haus breitgemacht wie der eines auf dem Feuer vergessenen Korma Palau. Eines Morgens hatte dieser Mann, der, wie gesagt, mit den Taliban gemeinsame Sache machte, auf meinen Vater gezeigt, ihn herbeigewinkt und ihm befohlen, mit einem Laster in den Iran zu fahren, um gewisse Waren zu besorgen, die er dann in seinen Läden verkaufen wollte: Decken, Stoffe und dünne Schaumgummimatratzen. Um ihn dazu zu zwingen, sagte er: »Wenn du nicht in den Iran fährst und Waren für uns einkaufst, bringen wir deine Familie um. Wenn du mit zu wenig oder beschädigter Ware zurückkommst, bringen wir deine Familie um. Wenn du dich übers Ohr hauen lässt, bringen wir deine Familie um.« Mit anderen Worten: Sobald etwas schiefgeht, bringen wir deine Familie um. Nicht gerade eine sympathische Art, Geschäfte zu machen, wie ich gar nicht oft genug betonen kann.
Als mein Vater Monate später einen Gebirgspass passierte, wurde er mit seinem Laster von Banditen überfallen. Die Nachricht von seinem Tod erreichte uns abends bei Einbruch der Dunkelheit, und trotz unserer Bemühungen, sie nicht hereinzulassen - nein, das stimmt nicht, das kann einfach nicht sein! -, gelangte sie irgendwann doch ins Haus, um zu bleiben und die Nacht bei uns zu verbringen. Am nächsten Morgen war sie immer noch da. Und nicht nur sie, sondern auch der reiche Geschäftsmann. Kaum hatte er von der Sache erfahren, stand er bei meiner Mutter vor der Tür. Aber nicht um ihr sein Beileid auszusprechen oder ihr zu sagen, dass es ihm leidtue, ob er irgendwie helfen könne. Sondern um ihr mitzuteilen, dass er durch den Tod meines Vaters wirtschaftliche Einbußen erleide und dass es seine Schuld sei, wenn die Ware jetzt fehle, weil mein Vater nicht in der Lage gewesen sei, sie zu beschützen, und jetzt verlange er Schadenersatz.
Sollte sie das Geld nicht zusammenbringen, sei das kein Problem, dann würde er eben mich nehmen.
In Pakistan lebte ich etwas über ein Jahr, dann im Iran (ungefähr zweieinhalb Jahre), anschließend in der Türkei und in Griechenland. Um irgendwann nach Italien zu gelangen. Das war 2004, genauer gesagt im September desselben Jahres. Und weil ich nicht nur keine gültigen Papiere besaß, sondern überhaupt nie welche besessen habe, keinen einzigen Ausweis, ja, weil ich nicht einmal mein genaues Geburtsdatum kannte, beschloss man auf dem italienischen Einwohnermeldeamt, dass ich für den Rest meines Lebens am Ersten dieses Monats, also am ersten September, Geburtstag feiern werde - nur für den Fall, dass mich jemand beglückwünschen will.
Vier Jahre nachdem ich nach Italien gekommen war, wo ich irgendwann einen Ort fand, den ich als mein Zuhause bezeichnen konnte, und wo sich, während ich noch mit meinen inneren Dämonen kämpfte, immer mehr Möglichkeiten ergaben, ging mir auf, dass ich vielleicht endlich damit aufhören sollte, nur ans Überleben zu denken. Stattdessen trat die Frage in den Vordergrund, ob ich vielleicht meine Familie wiederfinden könnte: meine Mutter, meinen Bruder, meine Schwester und gewisse Onkel, die mir nahestanden. Ich wollte wissen, was aus ihnen geworden war. Lange hatte ich sie mehr oder weniger verdrängt, weil das eine gute Methode ist, sich nicht unnötig zu quälen - nicht aus Bosheit natürlich, sondern weil man einen Weg finden muss, mit sich selbst ins Reine zu kommen, bevor man sich um andere kümmern kann.
Als mir dann mithilfe derjenigen, die mich bei sich aufgenommen hatten, klar wurde, dass ich tatsächlich etwas aus meinem Leben machen kann, vielleicht sogar etwas Sinnvolles, kamen bestimmte Gedanken ganz automatisch, ohne dass ich dafür lange in meinem Gedächtnis hätte kramen müssen. Meine Mutter und meine Geschwister - waren sie nach sieben Jahren Krieg noch am Leben? Seit diesem Herbst 2001, als nach den Terroranschlägen des 11. September der Konflikt ausbrach, war das Leben in Afghanistan einfach nur noch die Hölle. Nicht, dass es bis dahin leicht gewesen wäre, schon gar nicht für uns Hazara, aber ab 2001 wurde alles noch einmal deutlich schwieriger: Inzwischen sorgten nicht mehr nur fundamentalistische Gruppierungen für Tausende von Toten, sondern auch die Bombardierungen durch die NATO-Koalition, die die afghanische Regierung gegen die Taliban und gegen al-Qaida unterstützte. Wie war es meinen Angehörigen in der ganzen Zeit ergangen? Waren sie verwundet worden? Waren sie noch zusammen, oder hatten sie sich getrennt? Waren sie geflohen? Und wenn ja, wohin?
Für sie war es ausgeschlossen, Kontakt zu mir aufzunehmen, weil sie a) nicht die leiseste Ahnung hatten, wo ich gelandet war und b) über keinerlei Mittel und Wege verfügten, das herauszufinden. Ich dagegen hatte schon die eine oder andere Möglichkeit, etwas über ihren Verbleib in Erfahrung zu bringen, und so beschloss ich, aktiv zu werden.
Eines Tages rief ich einen meiner afghanischen Freunde in Qom an - einer Stadt im Iran, in der ich auf meiner langen Reise gearbeitet hatte. Sein Vater lebte in Pakistan, in Quetta, und ich fragte ihn, ob sich einer seiner männlichen Verwandten vielleicht aufmachen könne, um in Afghanistan nach meiner Familie zu suchen.
»Wenn dein Vater meine Mutter, meinen Bruder und meine Schwester ausfindig machen könnte, bezahle ich ihm das natürlich und gebe ihm genug Geld, damit er alle nach Quetta holen kann.« Vor lauter Begeisterung wartete ich seine Antwort gar nicht erst ab, sondern sprudelte wild drauflos: wo sie wohnten und so, vorausgesetzt sie waren überhaupt noch in Nawa oder zumindest im Hazarajat.
Mein Freund, ein netter Kerl, mit dem ich nach der Fabrikarbeit oft Fußball gespielt hatte, ließ mich reden (ich war total aufgeregt und bekam kaum noch Luft). Als ich endlich geendet hatte, meinte er, er könne diese Informationsflut gar nicht verarbeiten, geschweige denn weitergeben: »Wie wär's, wenn ich dir die Telefonnummer von meinem Vater gebe, und du rufst ihn in Pakistan an und sprichst selbst mit ihm?«
Gesagt, getan. Ich rief ihn an. Sein Vater - den ich von nun an Onkel Asan nennen werde - war wahnsinnig nett. Zunächst einmal meinte er, wegen des Geldes solle ich mir keine Gedanken machen. Sollte meine Mutter - die genauso wenig wisse, ob ich noch am Leben sei, wie ich das von ihr wisse - tatsächlich noch im Hazarajat sein, betrachte er es als seine Pflicht, sie dort ausfindig zu machen.
Ich sagte, dass ich ihn für die Reise und seine Mühen trotzdem bezahlen werde. Dass er es als seine Pflicht betrachte, sei ja gut und schön, aber Geld sei schließlich auch wichtig. Außerdem sei es eine gefährliche Reise in ein Kriegsgebiet.
Ich wartete geduldig. Es verging einige Zeit, und ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als ich eines Abends einen Anruf bekam. Onkel Asan war dran. Er begrüßte mich und erzählte, dass es alles andere als einfach gewesen sei, meine Angehörigen ausfindig zu machen, weil sie Nawa verlassen hätten und innerhalb des Hazarajat umgezogen seien, aber schließlich sei es ihm doch gelungen. Als er meiner Mutter erzählt habe, dass der Vorschlag, nach Quetta zu gehen, von mir stamme, habe sie es kaum glauben können. Mein Bruder genauso wenig. Sie hätten sich geweigert mitzukommen, und er habe sie nur mit Müh und Not überzeugen können. Dann sagte er: »Warte!« Er wollte jemanden ans Telefon holen. Meine Augen füllten sich mit Tränen, weil ich schon ahnte, wer das sein würde.
»Mama«, sagte ich.
Am anderen Ende war es...
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