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Es wurde schlimmer. Irgendwann hörte sie auf, ihre Beine zu spüren. Die Mischung aus eisigem Wind, Nebelregen und dem Quietschen der Fahrradpedale hatten Sandra zermürbt. Über den Punkt, aufzugeben, war sie längst hinweg. Wegen Malika. Ihr Gehirn schaltete in einen Überlebensmodus und ihr Körper gehorchte wie eine Maschine.
Sie traute sich nicht, nach hinten zu fassen, um Malikas Stirn zu berühren. Ihre Angst war groß, dass sie gleich an Ort und Stelle zusammenbrechen könnte. Malika strahlte spürbar Hitze aus. Die Kleine hatte extrem hohes Fieber.
Dabei hatte heute alles so gut angefangen. Es sollte ihr Tag werden, ihr Geburtstag, der vierte. Wie Malika sich darauf gefreut hatte. Nicht Party, nein, Riesenfeier bei Oma und Opa hatte sie es genannt. Mit vielen Spielen, Girlanden, Luftballons und ihren Freunden.
Sandra hatte nur eine Wohnung in der Stadt. Sie war froh, dass ihre Großeltern so vernarrt in Malika waren. Und eigentlich hatte sie selbst keine Zeit gehabt, den Kindergeburtstag vorzubereiten. Leider gab es keinen Mann an ihrer Seite, der sich für sie oder Malika interessierte. Sie kannte weder Malikas noch ihren eigenen Vater. In all den Jahren war sie auch deswegen eine Fremde, eine Außenstehende in der Familie geblieben. Sie fühlte sich nicht wohl in der Rolle als Alleinerziehende. Es schmeckte bitter, wenn sie daran dachte. Aber Malika sollte davon nichts spüren.
Deshalb also die Feier im Garten. Heute waren sie nur mit dem Fahrrad da, Malika würde später im Bett bei Oma und Opa schlafen, sie selbst mit dem Rad nach Hause fahren. Das Holzhaus war zu klein, um auch dort zu übernachten.
Das Wetter spielte mit und der Geschenketisch war riesig. Jedes neue Päckchen wurde aufgeregt entgegengenommen und im Jubel der anderen geöffnet. Das Kuchenbuffet war gigantisch. Sandra war sich allerdings nicht sicher, ob die Großmutter extra weiche Schokolade für die Glasur verwendet hatte. Die Kinder sahen umso lustiger aus, verschmiert, glücklich.
Am späten Nachmittag wurde Malika auffällig ruhiger. Fast schien es, als würde sie sich zurücklehnen, um den Rummel um die eigene Person zu genießen. Schließlich spielte sie nicht mehr mit, saß nur noch auf der Gartenschaukel. Sie fror, aber ihr Glück hatte ein bleibendes Lächeln über ihr Gesicht gelegt. Sandra war hin und her gerissen, einerseits beunruhigt, andererseits abwartend. An einem Tag wie heute wollte sie ihre Tochter nicht mit Fragen quälen. Sie fühlte sich beobachtet und versuchte, ihre Besorgnis zu verbergen. Sonst kuschelte Malika eher nicht, wenn andere es sehen konnten. Diesmal suchte sie ihre Nähe, gab ihr einen Kuss und hielt ungewöhnlich lange ihre Hand.
Gegen Abend, als es schon dunkel wurde und die Gäste gingen, hatte sie bereits zwei Hosen und vier Pullover an. Ihre Füße steckten in selbstgestrickten Socken.
»Mama, mir ist immer noch so kalt, können wir nach Hause?« Sie war blass. Dunkle Ringe hatten sich unter den Augen gebildet. Als Sandra die Stirn ihrer Tochter berührte, schrak sie zurück. Malika hatte Fieber.
»Schatz, du wolltest doch bei Oma und Opa schlafen, oder?«
»Ja, aber jetzt nach Hause, zu Waldi.« Sie griff beide Hände und sah ihre Mutter mit großen Augen an. Sie wusste genau, was sie tun musste, um ihren Willen zu bekommen.
»Schau mal, Prinzessin, es ist schon spät und dunkel. Lass uns hier schlafen, du darfst auch zu Oma und Opa ins Bett, ja?« Sie hatte diesen Satz ausgesprochen, ohne darüber nachzudenken, was wohl die Großeltern, eigentlich ihre Pflegeeltern, dazu sagen würden. Fragend blickte sie zu ihnen hinüber und sprach weiter. »Bitte, Schatz, der Wind zieht auf, vielleicht gibt es Regen. Wir sind ja heute nur mit dem Fahrrad da.«
Sandra hatte geplant, allein mit dem Rad nach Hause zu fahren und morgen dann zum Feierabend mit dem Auto zurückzukommen.
Doch das Flehen half nicht.
»Zu Waldi, ja?«
Waldi war ihr liebstes Kuscheltier, größer als sie selbst, eine Mischung aus Bär und Förster, dick, weich und kuschlig. Und im Laufe der Zeit schon ziemlich verfilzt.
»Malika .«
»Bitte, bitte, Mama, zu Waldi!«
Sandra sah zuerst auf ihre Uhr und dann zum Himmel. In der Zwischenzeit war die Nacht fast vollständig heraufgezogen. Es bereitete ihr Unbehagen, als sie an die Strecke durch den Stadtwald dachte. Und außerdem hätte sie die ganze Zeit die kranke Malika hinter sich im Kindersitz.
In diesem Moment legte der Großvater seine Hand auf Sandras Schulter. Er gab ihr eine Mütze für die Tochter und eine Taschenlampe. Sein Nicken sollte beide aufmuntern. Malika lächelte müde ihren Opa an, sie wusste die Geste zu schätzen. Er hätte sie wohl gern nach Hause gebracht, früher, als er noch gesund genug war, um Auto zu fahren.
Notgedrungen willigte Sandra ein. »Okay, dann wickelst du dich aber in eine Decke und gibst Ruhe da hinten, ja? Nimm Opas Lampe und pass schön auf unterwegs.« Sie war keinesfalls beruhigt, auch wenn sie ahnte, dass die Kleine gleich einschlafen würde.
Nach einem kurzen Abschied radelten sie los. Malika war tatsächlich schnell eingeschlafen. Ihre Hände krallten sich in die Wolldecke und zuckten ab und zu. Später fing sie an, zu fantasieren. Das Fieber stieg.
Noch schneller hatten sich die Wolken vor den lilaschwarzen Himmel geschoben. Dann die ersten Schauer. Noch bevor sie das Ende des Dorfes erreichten, zog Nebel auf und bildete dicke Schichten. Es wurde immer schwerer, die Straße zu erkennen. Sandra versuchte, stärker in die Pedalen zu treten. Trotzdem bekam sie kalte Hände. Das feuchte T-Shirt klebte unangenehm.
Der funzelig-schwache Lichtkegel des Fahrrades jagte ihr bei jeder Unebenheit Angstschauer über den Rücken. Es gab kein anderes Licht, nicht einmal den Schein des Mondes. Oft konnte sie den Weg nur erahnen. Als sie kurz vor der Kreuzung zum Waldweg hinter sich greifen und nach der Taschenlampe tasten wollte, traf sie eine Windböe. Nur mit Mühe und unter Nutzung der gesamten Straßenbreite gelang es ihr, einen Sturz zu vermeiden.
Ihr Körper zitterte wegen der Überanstrengung, ein Krampf wanderte durch ihre Arme. Sie hatte sich auf Zunge und Lippe gebissen. Das Blut vermischte sich mit dem Regen, tropfte eine mahnende Spur auf Jacke und Hose. Aufgeben und schieben war keine Option, dazu war es noch zu weit. Sie trat stärker, in der Hoffnung, dass sich das Rad stabilisierte. Es funktionierte. Meter für Meter. Sie wusste, dass der Weg später nicht mehr anstieg. Jetzt galt es, tapfer zu sein, sich zusammenzureißen.
Die Schauer verwandelten sich in Dauerregen. Eine erneute Böe schlug ihr Äste ins Gesicht. Sie schrie auf. Im nächsten Moment wurde die getroffene Stelle angenehm warm. Regentropfen und Tränen konnte sie nicht mehr unterscheiden. Der Schmerz war nichts im Gegensatz zu dem in ihren Beinen. Hysterisch lachte sie auf. Erst als das Adrenalin nachließ, bemerkte sie ihre Schwäche.
Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal so geweint? Sie schluchzte, weinte und betete leise zu Gott. Für Malika. Und für sich, damit sie die Kleine nach Hause bringen konnte. Ihr fester Glaube war es, der sie antrieb, weiterzutreten, Umdrehung für Umdrehung.
Sie wusste nicht genau, ob sie bereits die Hälfte der Strecke geschafft hatte, als ein gewaltiger Blitz die Nacht zerriss. Alles um sie herum zeichnete sich in einer Mischung aus Grellrot, Blau und Weiß gegen den Himmel ab, als wäre die Landschaft in einem Feuerfoto eingefroren.
Malika hatte die Helligkeit wohl unbewusst wahrgenommen, sie wimmerte. Dieses Wimmern durchbrach die erschöpfte Schockstarre ihrer Mutter und verhinderte, dass sie stürzten. Warum, Gott, warum? Sandra betete. Es klang wie eine Hymne, immer wieder von Weinen und Schreien durchsetzt. Aber es hörte sie sowieso niemand und irgendwann hatte sie schließlich auch keine Tränen mehr.
Als sie das letzte Zeitgefühl verloren hatte, kamen sie endlich an die Stelle, von der an es nur noch bergab ging. Der Wald trat in den Hintergrund, die Wege wurden schmaler, aber besser. Sandra war erleichtert, wusste, dass sie es schaffen konnte, trotz der dunkelgrauen Nebelschwaden und des Regens. Falls sie durchhielt. Alle Gebete, die sie kannte, waren längst gesprochen. Jetzt sang sie Kinderlieder. Auch wenn sie sich nun getraut hätte, nach hinten zu fassen, um Malikas Stirn zu fühlen, es wäre nicht gegangen. Sie war viel zu schwach, um die Hände vom Lenker zu nehmen. Sie hoffte, dass kein Gegenverkehr kam, denn dann wäre sie gezwungen, auszuweichen.
Als sie über eine Brücke in eine enge Rechtskurve fuhr, bemerkte sie das Licht eines Scheinwerfers. Es kam von hinten, verschwand nicht wie vorhin der Blitz, wurde größer und kam näher.
Verdammt, ausgerechnet hier, an einer der engsten Stellen! Das Donnergrollen verstärkte sich, schwoll an, blieb direkt hinter ihr. Was war das, hatte sie den Verstand verloren? Ein Donner, der ihr folgte? Dann erkannte sie im Scheinwerferlicht das Chromblitzen eines Motorrades, ahnte das Vorderrad, das bereits ein Stück neben ihr war.
Sie drehte den Kopf, wollte dem Fahrer zurufen, dass man hier an der viel zu engen Stelle nicht überholen konnte. Das war der Moment, in dem sie endgültig verlor. Ihre Kraft reichte nicht mehr, das Fahrrad zu halten. Sie erstarrte, sah den Straßengraben, die Bäume und den Zaun. Keine Chance, zu reagieren. Mit brutaler Gewalt fuhr sie gegen einen Betonpfeiler, blieb für einen verzögernden Moment an den Resten eines rostigen Gitterzauns hängen, zerriss sich ihre Jacke und wurde auf den Weg zurückgeschleudert. Mindestens eine Rippe brach. Dumpfe Stiche...
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