Nicole lächelte. "Darf ich fragen, weshalb Sie gestern nicht in der Kanzlei waren?"
"Ich war in Dortmund, bei meinen Eltern. Die Fahrt dorthin war nicht geplant. Mein Vater ist dreiundachtzig, meine Mutter ist zehn Jahre jünger. Mein Vater ist im Pflegeheim untergebracht und hat die letzten Tage Nahrung verweigert, wollte sich nicht waschen lassen und hat sich generell sonderbar verhalten. Meine Mutter war schon immer überfordert gewesen mit ihm, jetzt ist sie es umso mehr. Ich musste hin. Aber selbst der Aufenthalt in Dortmund war besser als so mancher Tag zu Hause."
Christians bitteres Lächeln ließ Nicoles Brust erzittern. "Ich habe recht junge Eltern. Ich muss mir um sie noch keinen Kopf machen."
Sie verbrachten die nächsten zweieinhalb Stunden mit Gesprächen. Nicole dröhnte ein wenig der Kopf, als Christian sie fragte: "Darf ich Sie nach Hause fahren? Es ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann, nachdem ich Sie psychisch derart beansprucht habe."
"Das müssen Sie nicht."
"Ich würde aber gerne. Ihnen entstehen dabei keine Nachteile", versuchte Christian, sich durchzusetzen.
Nicole willigte ein. Im Auto verwandelte sich das Dröhnen zwischen ihren Ohren in pure Kopfschmerzen und ihr wurde übel; Nicole war wieder, als wollte der gesamte Duft im Auto in ihre Nase kriechen. Mit Christians Erlaubnis ließ sie das Fenster auf ihrer Seite herunter und nickte wenig später ein.
"Wir sind da", verkündete Christian irgendwann.
Christians Worte ließen Nicole kurz zusammenzucken. "Tut mir leid. Die Fahrt ging an mir irgendwie vorbei", sagte sie verlegen und schwach und schnallte sich ab. Sie stiegen aus dem Auto und Christian begleitete sie zur Eingangstür in die Breite Straße sieben.
Ein zartes Miauen ertönte von irgendwoher und kurz darauf erschien der zutrauliche weiße Kater. Einige Male strich er um Nicoles und auch Christians Beine, bis er von Nicole hochgehoben wurde. Der Kater kam ihr viel schwerer vor als gestern, dennoch ließ sie ihm hinreichend Streicheinheiten zukommen und vergrub die Nase in sein schönes Fell.
"Bianca mag keine Tiere", bedauerte Christian. "Vor allem mag sie keine Katzen."
Nicole ließ hörbar die Luft zwischen ihren Lippen entweichen. "Mag keine Katzen, dass es so etwas gibt."
Der Kater sprang aus Nicoles Armen, starrte eine Weile durch die Gegend, als sähe er Geister, und verschwand dann wieder im Buschwerk.
"Danke, dass Sie mir so viel anvertraut haben." Es bedeutete Nicole sehr viel, aber sie wollte es ihn nicht wissen lassen. "Ich hoffe, Ihnen ist jetzt etwas leichter ums Herz. Und vielen Dank fürs Fahren."
"Etwas leichter auf jeden Fall, ja. Danke fürs Zuhören. Ist alles in Ordnung? Sie schwanken ein wenig." Er streckte seine Arme nach ihr aus, aber sie hob beschwichtigend die Hand und lehnte mit ihrer Schläfe gegen die kalte Glastür.
"Ich denke, das ist mein Kreislauf. Das wird gleich wieder." Nicole wollte ihm nicht sagen, dass sie seinetwegen schlecht geschlafen hatte, dass er die letzten Tage ihre Gedanken voll und ganz in Anspruch genommen und das heutige Gespräch sein Übriges getan hatte.
Drinnen sprang das Licht an der Decke an. Nicoles Nachbar aus dem dritten Stock stand, etwas verwirrt, an der Tür, und Christian schob Nicole ein Stückchen zur Seite, damit der Nachbar die Tür aufmachen konnte.
"Es ist alles in Ordnung", versicherte Nicole dem beleibten Herrn, der sie im Vorbeigehen schief anguckte.
"Wenn Sie sich sicher sind, dass Sie es alleine nach oben schaffen, werde ich gehen."
"Ich schaffe es schon alleine. Werden Sie nach Hause fahren?"
"Nein. Ich fahre zurück in die Kanzlei. Bei der nächstbesten Gelegenheit werde ich mit Bianca reden." Er sah das Gebäude hinauf, als suchte er nach einem ganz bestimmten Fenster.
"Wollen Sie. mit hoch kommen?" Ihre Worte überraschten Christian mindestens genauso wie sie selbst. War sie des Wahnsinns? Sie konnte jetzt doch nicht alles aussprechen, was ihr durch den Sinn ging!
"Gerne", antwortete Christian, noch bevor sie ihre Einladung zurücknehmen konnte.
Im Aufzug kramte Nicole nach ihrem Schlüssel. Sie konnte es nicht fassen - Christian kam in ihre Wohnung mit hoch. Bianca würde am Rad drehen wie Fortuna, wenn sie Wind davon bekäme, und da Nicole nun von Biancas eifersüchtigem Charakter wusste, hatte es einen bitteren Beigeschmack, Christian so nahe zu sein. Ein Glück, dass sie sich am Samstag dagegen entschieden hatte, Christian nach Hause zu fahren.
"Ich denke, ich mache mir einen Tee. Wollen Sie auch einen trinken?"
Christian entledigte sich seiner Schuhe und folgte Nicole in die Küche. "Ja, ich denke, ich trinke eine Tasse mit. Haben Sie das öfter?"
"Was meinen Sie?"
"Die Sache mit dem Kreislauf."
"Nein, nein, das letzte Mal ist etwas her." Christian war in ihrer Küche. Christian war in ihrer Küche! Als wäre ihr diese Tatsache jetzt erst bewusst geworden, wurde sie nervös. "Setzen Sie sich. Welchen Tee mögen Sie? Ich habe so einige. Grünen Tee und schwarzen Tee, Rotbuschtee und dann so etwas wie Blaubeermuffin, Bratapfel, türkischer Apfel, Magen-Darm-Tee und."
"Grüner Tee", wurde sie von Christian unterbrochen, wofür sie ihm tatsächlich dankbar war.
Wenige Augenblicke später standen zwei Tassen dampfenden grünen Tees auf dem Tisch. Nicole und Christian sprachen nicht miteinander. Sie warteten darauf, dass der Tee abkühlte; Christian besah sich die gemütliche Küche vom Stuhl aus.
Nicole räusperte sich verlegen und Christian begann wie auf Kommando zu reden: "Ich habe es bis jetzt nicht thematisiert und ich war mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich das heute noch tun soll. Sie sagten vorgestern, dass Sie mich nicht nur auf freundschaftlicher Basis mögen. War das ernst gemeint?"
"Oh Gott", flüsterte Nicole und bedeckte schamerfüllt das Gesicht mit den Händen. Wie konnte dieser Typ das nur so unbekümmert sagen? "Sie haben sich daran erinnert." Christian schmunzelte, wie sie zwischen ihren Fingern feststellen musste. Zentimeter für Zentimeter glitten Nicoles Finger von ihrem Gesicht. "Ja, Christian. Ich habe es ernst gemeint", sagte sie mit heftigem Herzklopfen.
"Ich mag Sie aber nicht nur auf diese Art, haben Sie gesagt. Das Gleiche... Das Gleiche gilt auch für mich." Er schaute sie an und in seinen Augen leuchteten Flämmchen wie hinter trübem Glas.
Die Welt hörte auf sich zu drehen, nur um gleich darauf in einer halsbrecherischen Geschwindigkeit wieder um die eigene Achse zu rotieren und Christians letzte Worte überall zu verbreiten. Nicole versank in seinen nebelfarbenen Augen und suchte, die irrlichtergleichen Flämmchen zu erhaschen, die ihr immer wieder entkamen. In der Ferne hörte sie einen fremden Herzschlag und als der Nebel seiner Augen sie freigab, waren ihre Nasenspitzen nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt, ihre beider Lippen geöffnet. Nicoles ganzer Körper stand unter Strom.
"Es tut mir leid", sagte Christian leise. Sein Atem streifte ihren Mund und ein angenehmer Schauer jagte ihren Rücken hinunter. "Ich würde gerne, aber ich kann es nicht. Noch nicht."
"Das verstehe ich", erwiderte Nicole ebenso leise. Auch wenn seine Beziehung unglücklich war, auch wenn die Liebe seinerseits längst verblasst war und er mit Bianca Schluss machen wollte, so waren sie noch immer zusammen und Christian konnte sich nicht auf sie einlassen. Er war ein anständiger Mann und sie bewunderte seine Entscheidung.
Sie beeilten sich nicht mit dem Teetrinken. Entweder sahen sie aus dem Fenster, das auf ein weites, dunkler werdendes Feld ging, oder sahen den jeweils anderen stumm an. Sobald sie aber den Tee ausgetrunken hatten, verkündete Christian, er werde gehen. Im Flur zog er sich seine Schuhe an, während Nicole am Türrahmen lehnte.
"Die Metapher mit dem Gefangensein halte ich für allzu treffend. Ich würde mich gerne befreien, genau wie Sie es getan haben", sagte er zu ihr, sich zu seiner vollen Größe aufrichtend. "Auch wenn es ein wenig dauern wird. Gemeinsame Wohnung, Sie verstehen. Ich weiß auch nicht, wie ihre erste Reaktion ausfallen wird, wenn ich Bianca verständlich mache, dass ich mich wirklich trennen möchte."
Nicole begleitete Christian zum Aufzug. "Ich wünsche Ihnen viel mentale Kraft und Konsequenz, Christian", sagte sie zu ihm, als die Aufzugstüren vor ihnen aufglitten.
Christian stieg nicht in den Aufzug. Es war, als wartete er darauf, dass Nicole sich als Erste entfernte. Doch Nicole wollte scheinbar, dass er zuerst ging. Die Aufzugstüren schlossen sich geräuschvoll, das Licht auf dem Etagenflur erlosch, hüllte sie in Dunkelheit.
Er umarmte sie. Zaghaft, fast schüchtern und Nicole konnte nicht anders, als diese Umarmung zu erwidern und Christians Duft einzuatmen. Glück, Erregung und schlechtes Gewissen mischten sich mit ihrem Blut und durchflossen sie von Kopf bis Fuß. Das Licht sprang mit einem Plop wieder an.
"Du solltest gehen", sagte Nicole heiser, löste sich widerwillig von ihm und rief an seiner Stelle den Aufzug.
§26
Am Freitag empfing Christian Nicole mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht recht zu deuten wusste. Da war einerseits Freude, darüber, dass er sie wiedersah, und andererseits schien er arg betreten zu sein.
"Tut mir leid, Nicole. Ich habe mit Bianca nicht sprechen können", teilte er ihr in der Küche mit. "Es geht bei ihr in der Familie gerade auf und ab. Nicht so schlimm wie bei mir am Anfang der...