Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der Tatort
Die Wohltätigkeitsparty, die wie jedes Jahr von diesen Übereifrigen aus der Kindermedizin veranstaltet wird, macht mir wieder einmal klar, dass ich als Assistenzärztin der Rechtsmedizin in der Hierarchie ganz unten stehe - ohne jede Aussicht auf Verbesserung. Während alle anderen Mediziner überzeugt sind, dass sie nach ganz oben gehören.
Berauscht von einer Dauerberieselung durch Emergency Room, haben sie eine völlig verzerrte Wahrnehmung ihres Berufsalltags. Und keiner macht sich die Mühe, irgendeinem Loser aus der Kindermedizin zu erklären, dass er mit George Clooney aber auch so gar nichts gemeinsam hat. Und ich nichts mit CSI - Den Tätern auf der Spur. Denn an meinem Schreckensinstitut, wo Demütigung wie ein Hochleistungssport betrieben wird, sind wir Assistenzärzte wirklich das Allerletzte. Und dass einer von uns die großen Fälle übernehmen dürfte, ist vollkommen ausgeschlossen.
Von den Kollegen verlacht - allesamt potenzielle Anwärter auf eine Rolle in Dr. House - und vom Kreis jener ausgeschlossen, die glauben, sie wären Figuren in einem Roman von Patricia Cornwell, bleibt mir deshalb nichts anderes übrig, als mich im Institut für Rechtsmedizin als lästiges Anhängsel zu fühlen.
Diese Party, mit der Forschungsgelder für Nervenkrankheiten in der Kindermedizin gesammelt werden, ist für mich vielleicht deshalb immer eine der übelsten Veranstaltungen des ganzen Jahres.
Die Versuchung, mich krankzumelden, ist wirklich groß. Ein plötzlicher Migräneanfall, Asthma, eine Salmonellenerkrankung, gegen die nicht mal Imodium hilft. Doch wie jeder weiß, zerreißt man sich auf Partys gerne über Abwesende das Maul, und auf so was habe ich keine Lust. Daher ist es sinnlos, noch länger zu zögern: Hier braucht es viel guten Willen - und Hochprozentiges -, um den Abend zu überstehen.
Na los, Alice. Mehr als drei Stunden wird das Ganze nicht dauern. Und was sind schon drei Stunden. Immer noch besser als eine von Wallys Lektionen übers Ersticken.
Vor dem Eingang ist mir immer noch nach flüchten, aber ich widerstehe. In dem großen Saal ertönt die Samtstimme von Dusty Springfield mit The look of love. In dem engen Durcheinander sehe ich meine Institutskollegen, die wichtigtuerisch herumschreien wie Schüler auf dem Pausenhof.
Jeder berufliche Mikrokosmos hat, wie ein Bienenstock, seine Königin. Wir sind stolz, Ambra Negri della Valle in unserer Mitte zu haben, um die meine Kollegen gerade herumscharwenzeln. Alle außer Lara Nardelli, die als Einzige vermutlich noch weniger Lust auf diese Party hat als ich. Wir beide haben die Eingangsprüfung zusammen bestanden und sind im gleichen Jahr. Doch statt eines Konkurrenzkampfes, in dem ich ganz klar unterliegen würde, pflegen wir ein solidarisches Verhältnis. Sie ist vermutlich die Einzige, der ich am Institut vertraue. Lara lächelt mich freundlich an und kommt mir mit einem Teller Törtchen entgegen. Sie hat rötliche, schlecht getönte Haare, die zu einem schiefen Dutt hochgesteckt sind. Ihre gelangweilte Miene beruhigt mich. Zusammen beobachten wir, wie Ambra sich in einem ihrer Monologe ergeht, anscheinend außerstande, den Unterschied zwischen anregend und nervtötend wahrzuneh men. Und doch scheint der Ecce-Homo unseres Instituts sich zu amüsieren: Claudio Conforti. Jahrgang 1975, im Zeichen des Löwen geboren, Junggeselle. So schön wie James Franco in der Werbung für Gucci by Gucci. Ein Mistkerl - sicher der größte Mistkerl, den ich kenne, und wahrscheinlich der größte Mistkerl im ganzen Universum. Brillant, bejubeltes Institutsgenie und der beste Schüler vom Boss. Sein Lebenslauf ist legendär, und er ist das Musterbeispiel für einen jungen, aufstrebenden Absolventen, der, nachdem er genug geschleimt hat, aus dem formlosen Sumpf des Doktorandendaseins zum wissenschaftlichen Mitarbeiter aufgestiegen ist.
Seine Augen - ein tiefes, mit goldenen Sprenkeln durchsetztes Moosgrün - sind in steter Unruhe. Wenn er müde ist oder erschöpft, schielt er ein wenig mit dem linken Auge, doch tut das seinem hervorragenden Aussehen keinen Abbruch. Seine Züge sind bereits von Exzessen gezeichnet, und vielleicht umgibt ihn deshalb jene Aura von Zügellosigkeit, die ihn für mich so anziehend macht. Wenn nötig, ist er entschlusskräftig, doch von seiner Veranlagung her ist er eigentlich mehr der abwägende und kontemplative Typ. Er wird von allen angehimmelt, weil er zielstrebig arbeitet und sich gut präsentieren kann. Und ich verehre ihn besonders, weil er mir in diesem Haifischbecken von Institut stets zur Seite steht - fast ein Wunder bei der unendlichen Gleichgültigkeit und Anarchie, die hier ansonsten herrschen.
Das Institut für Rechtsmedizin ist ein Ort, an dem man sich vor allem mit Sezieren und nur am Rande mit Forschung beschäftigt. Zugang zu diesem Reich erhält, wer das Medizinstudium abgeschlossen hat. Um für die Facharztausbildung zugelassen zu werden, zählen die Noten und ein zweistufiger schriftlicher Test. Wenn man den besteht, gelangt man endlich in diese schwierige, unheilvolle Welt. Nicht, was dort geschieht, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren, sondern die Menschen, die dort arbeiten. Die Hierarchie ist schnell erklärt: An der Spitze steht der Mann, den alle, mich eingeschlossen, nur den »Boss« nennen. Auch wenn ich ihn manchmal innerlich anders nenne, und zwar beim einzigen Namen, der seiner beruflichen Stellung angemessen ist: »Il Supremo« oder »der Allerhöchste«. Der Boss ist auf dem Gebiet der Rechtsmedizin mittlerweile eine Legende. Mit anderen Worten: Er ist die Rechtsmedizin, und wenn ein Fall verwickelt ist, kann man sicher sein, dass er das letzte Wort hat.
Die Ebene unter ihm besetzen folgende Gestalten: Wally, deren Persönlichkeit sich in einem einzigen Satz zusammenfassen lässt: »Deine Gedanken sind frei, aber natürlich entscheide ich.«
Dann Professor Giorgio Anceschi: Er ist ein Mann mit vielen Gaben, aber ohne genügend Durchsetzungsvermögen in diesem Andendschungel von Institut, in dem hinter jeder Ecke bis an die Zähne bewaffnete Guerilleros lauern. Und so wird er, wie das oft der Fall ist, von der Spitze leider wenig geschätzt, obwohl er korrekt und zuvorkommend ist. Mit seinem Übergewicht erinnert Anceschi ein bisschen an den Weihnachtsmann: Er ist tolerant, gutmütig und besitzt eine seltene intellektuelle Großzügigkeit. Er verfolgt keine Karrierepläne mehr und betrachtet seine Arbeit am Institut eher als Hobby - etwas, das man tut, wenn man gerade Zeit dazu hat. Doch wenn er mal anwesend ist, wirkt er von allen Dozenten am zugänglichsten: Denn über Fehler oder sonstige Schwierigkeiten von uns sieht er einfach verständnisvoll hinweg.
Seit Kurzem hat sich Claudio zu dieser Gruppe gesellt. Das war auch bitter nötig. Er macht unsere Tage prickelnder, denn er ist ein großer Sprücheklopfer, und ihm gefällt es, den Spielführer zu mimen - eine Rolle, die ihm übrigens wie auf den Leib geschneidert scheint. Bei allen Anspielungen und Zweideutigkeiten gegenüber uns Assistenzärztinnen (wir alle verharren ihm gegenüber in einem Zustand von großer Ergebenheit) hat Claudio immer dem Grundsatz gehorcht: Anschauen ja, anfassen nein. Wahrscheinlich, weil er es für unangemessen hält, sich mit dem gemeinen Volk abzugeben. Denn ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der ein Jahr an der John Hopkins University verbracht hat und der begehrteste Junggeselle der gesamten medizinischen Fakultät ist, würde niemals eine von uns verführen. Schon allein deshalb nicht, weil es ihm nicht ge fallen würde, wenn das dem Boss oder Wally zu Ohren käme. Und so macht er einen mitunter kräftig an, ohne jemals konkret zu werden. Heute Abend bin ich dran: Er nähert sich mit einem Glas Martini Bombay Sapphire und der Sicherheit eines Raubtiers auf Beutezug in der zentralafrikanischen Savanne.
»Ciao, Allevi«, setzt er an und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Der Duft, von dem ich eingehüllt werde, ist, seit ich ihn kenne, immer der gleiche: eine Mischung aus Declaration, Pfefferminzbonbons, sauber gewaschener Haut und Haargel. »Möchtest du einen?«, fragt er mich und reicht mir seinen Drink.
»Zu stark«, antworte ich und schüttle den Kopf. Für ihn ist er das offensichtlich nicht, denn er schüttet ihn in sich hinein, als wäre es Wasser.
»Gefällt's dir?«, fragt er und schaut sich teilnahmslos um.
»Ja, doch. Und dir?«
Er schaut mich entgeistert an. »Also wirklich. Das wird jedes Jahr schlimmer. Eigentlich müsste man diese Partys boykottieren, aber das ist politisch nicht korrekt«, sagt er und lässt sich dabei auf ein Sofa fallen. »Komm, setz dich, hier ist Platz für zwei.«
Während ich mich vorsichtig nähere (durch meine Stöckelschuhe bin ich zwar zehn Zentimeter gewachsen, kann mich aber kaum auf den Beinen halten), raffe ich mein Kleid. Und ich wäre fast auf ihn draufgefallen, hätte er nicht instinktiv mein Handgelenk gepackt. »Vorsicht, Allevi. Mir so vor aller Augen zu Füßen zu fallen, gehört sich nicht.«
»Mach dir keine Hoffnungen, selbst wenn du der letzte Mann auf Erden wärst«, antworte ich säuerlich. Aber das ist natürlich gelogen, denn ehrlich gesagt, müsste gar nicht so viel passieren, um ihm zu erliegen.
»Klar, und das soll ich dir glauben«, erwidert er mit offenem Sarkasmus und verzieht das Gesicht zu einer komischen Grimasse. »Vielleicht sollten wir in den nächsten Tagen unserer Laune mal nachgeben,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.