Schweitzer Fachinformationen
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Kapitel 1
Sophie
Jeder Duft berge ein Geheimnis, habe seine eigene Geschichte. Das war die erste Lektion, die mein Vater mich lehrte.
»Parfümeur zu sein heißt, ein Detektiv zu sein, Sophie«, hatte er gesagt, während er sich mit einer Pipette hoch konzentriert über das Mischgefäß beugte, dabei das ätherische Öl in das Lösungsmittel träufelte, rührte und schnupperte, wieder träufelte, rührte und schnupperte, bis er zufrieden war. Erst dann tauchte er einen schmalen Papierstreifen, eine Mouillette, in die Mischung und gab ihn mir. »Was siehst du?«
Natürlich war seine Frage nicht wörtlich gemeint, sondern zielte darauf ab, was der Duft in mir auslöste. Also nahm ich einen tiefen Atemzug und fühlte mich im Nu an einen anderen Ort versetzt. Der Hauch von Jasmin, der mir in die Nase stieg, erinnerte an unbekümmerte Tage in der Sonne. Holzrauch beschwor das Bild eines kräftigen Eintopfs an einem kühlen Herbstabend herauf. Der Geruch trockener Erde rief mir unseren Familienbesitz in Grasse ins Bewusstsein: ein rustikales, ländliches Haus aus Naturstein, umgeben von Sonnenblumen- und Lavendelfeldern, dessen Fenster meist weit offen standen, um die Räume mit frischer Luft zu füllen und den Staub zu vertreiben, der von dem ausgedörrten Boden aufstieg und den ich beinahe auf meiner Zunge zu schmecken meinte.
Jäh brachen die Erinnerungen an schöne Zeiten ab, als mir ein Stück Papier mit verschmierter Tinte in den Sinn kam: das Telegramm, das die Nachricht vom Tod meines Vaters enthielt.
Papa war nicht für den Krieg geschaffen gewesen. Halb Wissenschaftler, halb Künstler, war er ein Mann mit einem sanften Naturell, der nichts mehr liebte als die duftenden Felder der Provence und die reichhaltigen Essenzen, die er aus ihren Blüten gewann. Als er sich dem Widerstand gegen Hitler-Deutschland anschloss, war ich ein junges Mädchen, das erste Ansätze machte, zur Frau zu reifen, und der Lavendel färbte gerade die Hänge violett und blau. Damals sah ich ihn zum letzten Mal, eine Silhouette vor dem sonnenüberfluteten Horizont. Es war der Tag, an dem Mama die Geschäftsführung unseres Familienbetriebs übernahm, und zugleich der Tag, an dem ich zum ersten Mal begriff, dass das Leben nicht immer nach Wunsch verlief.
Die Nachricht von seinem Tod erreichte uns wenige Monate später, im folgenden Frühjahr, zusammen mit seinen Papieren und persönlichen Dingen, die nach Dreck, Blut und Angst rochen. Dieser Geruch eines Lebens, das so grausam endete, hatte sich wie alle Gerüche in mein Gedächtnis eingebrannt, und genau dort bewahrte ich ihn seitdem auf. Als eine Erinnerung - als eine unbeantwortete Frage, was geworden wäre, hätte er den Krieg überlebt.
Seufzend stöpselte ich einen kleinen Glaskolben zu und steckte ihn zurück in das Gestell auf meinem Schreibtisch. Da bald Ladenschluss war, stand ich auf und dehnte meine Glieder, rollte meinen Kopf von einer Seite auf die andere, um die schmerzhafte Verspannung in meinem Nacken zu lösen, ein regelmäßiges Ergebnis meines Experimentierens mit neuen Duftkombinationen, das mich zu einer gebeugten Haltung zwang. Außerdem oblag mir mittlerweile die Leitung unserer Manufaktur in Grasse, wo drei Parfümeure Duftstoffe für Waschmittel entwickelten, während ich Eau de Toilettes und Parfüms entwarf. Besonders die Komposition von edlen Luxusdüften war meine Spezialität. Unwillkürlich stieß ich einen weiteren Seufzer aus und wünschte mir, in Grasse zu sein.
War ich leider nicht, denn während der Hauptsaison musste ich mich um unsere kleine Boutique an der Hafenpromenade von Cannes kümmern. Als junges Mädchen hatte mein Vater mich bereits darauf vorbereitet und darauf bestanden, dass ich ihn im Sommer dorthin begleitete. Er wollte, dass ich eines Tages das Gesicht der Marke Duval sein würde, und lehrte mich, wie wichtig es war, den direkten Kontakt zu unseren Kunden zu pflegen.
Obwohl er aus bäuerlichen Verhältnissen stammte, hatte er keinerlei Probleme im Umgang mit der reichen und eleganten Klientel, die Jahr für Jahr an die Côte d'Azur kam. Im Gegenteil: Er liebte es regelrecht, mit ihnen zu parlieren und eine gepflegte Unterhaltung zu führen. Ich dagegen fühlte mich in unserer Manufaktur im Hinterland zwischen Hunderten Glasgefäßen bedeutend wohler, desgleichen auf meinen Streifzügen durch die Felder unter dem weiten südfranzösischen Himmel, wo ich nach Inspirationen für neue Düfte suchte.
Doch das gehörte der Vergangenheit an, das Mädchen von damals, das sich frei und ungezwungen bewegte, gab es nicht mehr. Es hatte sich in eine selbstbewusste und zielstrebige Firmenchefin verwandelt, die sich nach außen gut zu präsentieren wusste. Es hatte sein müssen, wenngleich es mir nicht leichtgefallen war, aber ich wurde von der Vorstellung angetrieben, dass ich Papa, der so große Hoffnungen in mich gesetzt hatte, nicht enttäuschen durfte. Das hätte ich nicht ertragen.
Die letzten beiden Wochen hatte ich ununterbrochen in Cannes verbracht, experimentierte tagsüber im Hinterzimmer der Boutique, wenn meine Anwesenheit im Verkaufsraum nicht erforderlich war, und schlief nachts in meinem Appartement in der Altstadt. Bis Ende August würde ich an der Küste bleiben und nur hin und wieder nach Grasse fahren, um dort nach dem Rechten zu sehen. Hauptsächlich aber, um nach meiner Mutter zu sehen. Bei dem Gedanken an sie machten sich wie üblich Beklemmung und Verbitterung in mir breit, und ich hoffte inständig, dass sie dieses Mal anders wäre, dass ich sie glücklich und ausgeglichen vorfände, statt zusammengesunken über einer halb leeren Flasche Cognac sitzend. Darauf allerdings hoffte ich inzwischen seit Jahren vergeblich.
»Natalie, könntest du bitte die Vitrinen kontrollieren?«, rief ich meiner Mitarbeiterin zu, während ich die Tür, die den Verkaufsbereich vom Büro trennte, hinter mir abschloss. »Es ist fast Feierabend.«
Meine Füße schmerzten in den neuen eleganten, leider unbequemen Schuhen, und mein Kopf schmerzte von dem Versuch, einen neuen Duft zu zaubern, ohne dass bislang etwas Gescheites dabei herausgekommen war.
»Wir haben heute guten Umsatz gemacht«, verkündete Natalie erfreut und schob eine dunkle, von feinen Silberfäden durchzogene Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Dem Himmel sei Dank für betuchte Filmstars. Ich kann immer noch nicht glauben, dass Bernard Blier vorhin wirklich hier war! Er hat gleich drei Düfte für seine Begleiterin gekauft, eine richtige Schönheit.«
Ich lächelte über ihre Begeisterung. Natalie Buzay war selbst eine Schönheit, dazu eine kultivierte und warmherzige Frau. All das, was meiner Mutter fehlte. Überdies war sie mit ganzem Herzen und vollem Einsatz bei der Arbeit, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie die Assistentin meines Vaters gewesen war, der ihr mehr oder weniger dauerhaft die kleine Parfümerie anvertraut hatte.
Sie war eine ausgezeichnete Verkäuferin und liebte ihre Tätigkeit, nicht zuletzt weil sie auf diese Weise die eine oder andere Berühmtheit sowie die Reichen und Schönen zu sehen bekam, die sich in Cannes tummelten und bei uns vorbeischauten. Mich dagegen beeindruckten Ruhm und Reichtum nicht. Zwar sah ich mir mit Madame Clouet, meiner Nachbarin in Grasse, gerne alte Hollywoodfilme an, doch meine Helden waren jene Genies, die für Guerlain, Molinard und Fragonard die sensationellsten Düfte kreierten.
»Schade, dass du gerade in der Mittagspause warst«, fuhr Natalie fort, während sie die gläsernen Regalreihen durchsah, Flakons einen Zentimeter nach links oder rechts rückte und unsichtbaren Staub wegwischte. »Du scheinst die Kunden mit den wirklich großen Namen grundsätzlich zu verpassen.«
»Ja, wirklich schade«, murmelte ich und öffnete die Kasse, nahm die Geldscheine heraus und steckte sie in einen Bankbeutel.
Es war eine lange Woche gewesen, und ich freute mich darauf, es mir zu Hause mit einem Glas Wein und einem Buch auf dem Balkon gemütlich zu machen. Verstohlen warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr und runzelte die Stirn: noch eine knappe Viertelstunde bis zum Geschäftsschluss um sechs Uhr.
Wie aufs Stichwort öffnete sich in diesem Moment die Ladentür, und eine stürmische Böe fegte so heftig vom Meer herein, dass sich mein wadenlanger Tellerrock bauschte und meine langen dunklen Locken ins Gesicht geweht wurden. Ich fluchte innerlich, weil der Wind wieder einmal meine Frisur ruinierte.
Eine große, schlanke Frau in einer weißen Bluse und einer rosa Caprihose schloss eilig die Tür hinter sich. Ihr Gesicht war größtenteils verdeckt von einer riesigen Sonnenbrille und einem Kopftuch.
»Ganz schön stürmisch hier! Erinnert mich ein bisschen an Kalifornien«, sagte sie und kam näher.
Sie wirkte sehr elegant und sprach mit einem weichen amerikanischen Akzent. Sicher eine Touristin, dachte ich in meiner Naivität. Ganz anders Natalie, die auf reiche Kundschaft tippte.
»Guten Abend, Madame«, wandte sie sich sofort zuvorkommend der Dame zu und wechselte mühelos in die englische Sprache, was bei uns selbstverständlich war. »Kann ich Ihnen helfen? Wir haben ein wundervolles, ganz neues Parfüm in unserem Sortiment. Es heißt Printemps, Frühling, und ist bei Amerikanern sehr beliebt.«
»Danke, ich möchte mich wenn möglich lediglich kurz umschauen.«
Die Frau, die keine Kundin im eigentlichen Sinn zu sein schien, nahm einen Zerstäuber aus dem Regal, drehte ihn in der Hand und stellte ihn wieder zurück, ohne den Duft zu testen. Mit dem nächsten Flakon verfuhr sie genauso, drehte sich zwischendurch immer wieder sichtlich besorgt zur Tür um.
Seltsam. Ich beobachtete sie von meinem Platz hinter dem...
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