Schweitzer Fachinformationen
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Ein schmaler Spalt zwischen zwei Hochhäusern, eine Lücke in einer mit Blindfenstern inkrustierten Mauer: Seltsame Öffnung in eine andere Welt - dort, jenseits, laufen Kinder und Hunde herum, diesseits ist nur eine leere Straße mit Staubwolken, die der Wind vor sich hertreibt. Ein längliches Gesicht, mir zugewandt: schmale Lippen, etwas eingefallene Wangen und stille Augen (vermutlich braune) - das Gesicht einer Frau, Milch und Blut, Frage und Qual, Gottheit und Verdorbenheit, Gesang und Stummsein. Ein altes, von wildem Wein umschlungenes Haus in der Tiefe eines Gartens, etwas weiter rechts verdorrte Apfelbäume und links - gelbe, ungeharkte Blätter, sie flattern in der Luft, obwohl die dünnsten Zweiglein der Sträucher nicht einmal zittern .
So bin ich erwacht heute Morgen (an irgendeinem Morgen). Jeder meiner Tage beginnt mit einem schmerzhaft anschaulichen Frontispiz, du kannst es dir nicht selbst ausdenken oder aussuchen. Es wird von einem anderen ausgewählt, es ertönt in der Stille, durchdringt vor dem Erwachen dein Gehirn und verschwindet dann wieder. Aber du kannst es nicht mehr tilgen aus dem Gedächtnis, dieses stumme Präludium färbt den gesamten Tag ein. Du kannst ihm nicht entkommen - höchstens, vielleicht, wenn du die Augen überhaupt nicht öffnen, den Kopf gar nicht vom Kissen anheben würdest. Doch du fügst dich immer: Du öffnest die Augen und erblickst wieder dein Zimmer, die Bücher in den Regalen, die auf den Sessel geworfene Kleidung. Unwillkürlich fragst du dich, wer hat die Tonart gewählt, warum wirst du deinen Tag nur so und nicht anders spielen können? Wer ist dieser geheimnisvolle Demiurg des Unheils? Suchst du dir wenigstens die Melodie selbst aus, oder haben SIE auch deine Gedanken bereits in Ketten gelegt?
Es ist von großer Bedeutung, ob die Bilder eines Morgens nur ein Geflecht von Erinnerungen sind, verblasste Ansichten von Orten, Gesichtern, Ereignissen, die du früher schon einmal gesehen hast, oder ob sie zum ersten Mal in dir auftauchen. Erinnerungen verleihen dem Leben mehr oder weniger gewohnte Farben, wohingegen ein mit nie zuvor dagewesenen Anblicken beginnender Tag gefährlich ist. An solchen Tagen tun sich Abgründe auf und brechen Raubtiere aus Käfigen aus. An solchen Tagen wiegen die leichtesten Dinge mehr als die schwersten und zeigen die Kompasse Richtungen an, für die es keine Namen gibt. Solche Tage kommen stets unerwartet - so auch heute (wenn es heute war) . Das alte Haus in der Tiefe des Gartens, das längliche Frauengesicht, die Lücke in der massiven Mauerwand mit den Blindfenstern . Die vollgestopften Häuser von Karoliniskes[1] und die leere Straße habe ich sofort erkannt, auch den Hof, wo selbst die Kinder allein herumlaufen und allein spielen. Und auch das Gesicht hat mich nicht erstaunt, ihr Gesicht - das längliche, furchtsame Madonnengesicht, und die Augen, die nicht mich angesehen, sondern nur in ihr eigenes Inneres geblickt haben. Beunruhigend war nur das alte Holzhaus mit seinen vom Regen geschwärzten Wänden und das gelbe Laub, zerstreut von dem gelben Wind. Ein Haus wie eine Warnung, wie eine von unsichtbaren Lippen geflüsterte Mahnung. Beunruhigend war auch, dass dieser Traum absolut voll von Vögeln war - sie schlugen mit ihren Flügeln gegen weiße Schneewehen und wirbelten glitzernden frostigen Staub auf, den Staub des Mondlichts.
Wie viele Vögel passen in einen Traum?
Sie waren überall, die Welt war übervoll von dem geräuschlosen Flattern ihrer zarten Flügel und dem Flüstern des lippenlosen Gesichts und dem drückenden gelben Wind. Der Traum schwebte innen und außen, und er verzog sich auch nicht, als ich ins Freie ging, obwohl der Hof zertrampelt und leer war und getrockneter Schmutz den Boden bedeckte wie eine harte Kruste. Es war, als hätte sich dort in der Nacht ein riesiges verdrecktes Tier herumgewälzt. Ein geschuppter, stinkender Drache, der mit seinem Feueratem die Erde und den Asphalt versengt hatte. Nur er konnte die Vögel verschlungen haben: Sie waren völlig verschwunden. Kein einziger Vogel war in den Höfen zwischen den Häusern. Keine schmutzigen Vilniuser Tauben drängelten sich an den Futterstellen vor den Fenstern der schwachsinnigen alten Frauen. Kein einziger zerzauster Spatz flatterte an den Balkons herum. Nirgendwo auch nur ein Vogel. Als hätte sie irgendwer allesamt mit einem großen grauen Radiergummi aus der Welt gelöscht.
Die Leute gingen ihrer Wege, kein Mensch blickte sich so wie ich erstaunt nach allen Seiten um. Sie sahen überhaupt nichts. Ich war der Einzige, der die Vögel vermisste. Vielleicht sollten sie ja gar nicht existieren, vielleicht gab es ja gar keine Vögel auf der Welt und hat es auch niemals welche gegeben? Vielleicht hatte ich ja nur einen kranken Traum gehabt, in dem ich etwas Ungutes gesehen und es als »Vögel« bezeichnet hatte? Und alles, woran ich mich erinnerte und was ich über Vögel wusste, war nichts als eine pathologische Phantasie, eine Vogelparanoia?
Offenbar hatten diese Überlegungen meine Aufmerksamkeit abgestumpft. Sonst hätte ich diese Frau mit dem verrunzelten Gesicht sofort bemerkt, ihren erdrückenden Blick gespürt. Ich glaubte, ich hätte genügend Erfahrung. Doch leider . Ich ging über den Trampelpfad im Rasen, warf einen Blick auf die grüne Ampel und schritt kühn voran.
Gerettet haben mich mein Instinkt und meine schnelle Reaktion. Der Kotflügel einer schwarzen Limousine zerschnitt die Luft und verfehlte um Haaresbreite meinen Körper. Erst da begriff ich, dass meine Füße den Boden nicht berührten, dass ich mit ausgebreiteten Armen in der Luft hing. Wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln.
Mein Körper hat mich gerettet. Ich war unbewusst zurückgesprungen und hatte im Bruchteil einer Sekunde über den Kotflügel des Autos gesiegt. Ich spürte einen starken Stich im Herzen, schaute mich rasch um und erblickte diese Frau. Ihr verrunzeltes Gesicht sah aus wie ein im Hintergrund des zertrampelten Rasens klaffendes Loch. Ihr Blick war stechend und beklemmend. Sie hatte sich selbst verraten: Alle anderen Leute an der Trolleybushaltestelle waren in Bewegung, sie schauten um sich oder sahen auf ihre Uhren. Sie dagegen stand reglos da, starr wie eine Statue, nur ihre Wangen und Lippen verzogen sich - diese Bewegung, ein Saugen gleichsam, war unverwechselbar. Außerdem erfasste ich noch, dass ihr grauer Mantel ausgefranst (stark ausgefranst) war. Ohne Zweifel eine IHRER niedersten Handlangerinnen, eine namenlose Disa. Plötzlich schüttelte sie sich, als würde sie sich aus Ketten befreien, und sprang behände in einen davonfahrenden Trolleybus. Es war unsinnig, ihr zu folgen (das ist immer unsinnig).
Ich hatte sie etwa eine Sekunde lang angesehen - die schwarze Limousine war noch ganz in der Nähe. Sie glitt, als sei nichts geschehen, leise brummend über den Asphalt. Ihre Heckscheibe war mit einem blassgrünen Gardinchen zugehängt. Dabei hatten sie überhaupt keinen Grund, sich zu verbergen. Ich wusste ganz genau, was ich sehen würde, wenn es dieses Gardinchen nicht gäbe: zwei oder drei auf mich gerichtete feiste Gesichter mit vollkommen ausdruckslosen Glupschaugen.
Die Vögel lebten erst wieder auf, als ich die Bibliothek erreichte. An der Anschlagsäule hockten zwei benommene Tauben. Sie schenkten den Passanten kaum Beachtung und rollten nur ab und zu ihre stumpfsinnigen Augen, ohne die Köpfe zu bewegen. Sie konnten weder fliegen noch laufen. Sie kauerten aufgeplustert mit ihren dreizehigen Füßen auf dem grauen Zement, gleichgültig, wie verhext. Die uralte Gebieterin der Vögel hatte sie verlassen.
Oh, uralte Gebieterin der Vögel, Hirtin von Tausenden Schwärmen, gib mir alle, die sich im Dickicht verbergen, wirf dem nach Spuren suchenden, Spuren folgenden Mann ein Fadenknäuel zu und führe ihn durch das Auge des Tages und durch das Licht des Mondes, zeig ihm den Weg, den kein Mensch kennt!
Im Korridor der Bibliothek wartete sie auf mich. Ich sage »auf mich«, weil ich manchmal den Eindruck habe, dass alles auf der Welt für mich geschieht. Für mich fallen die trüben Regen, für mich leuchten abends die gelben Lichter in den Fenstern, über mich kriechen die bleiernen Wolken hinweg. Mir ist, als ginge ich auf einer weichen Membrane, die unter meinen Füßen einsinkt und sich in einen Trichter mit steilen Wänden verwandelt, und ich stehe auf seinem Grund, und alle Ereignisse, Bilder und Wörter stürzen auf mich ein. Sie heften sich an mich, bleiben an mir kleben, und ein jedes bedrängt mich mit seiner besonderen Wichtigkeit. Möglicherweise nur mit vermeintlicher Wichtigkeit. Obwohl, andererseits, alles unendlich wichtig sein kann. Ich habe sie schon oft so vorgefunden, an das Fenster gelehnt. Vermutlich wartet sie nicht auf mich, vielleicht auf ihren eigenen Godot, einen winzigen, graziösen Niemand. Ich kann die Wartenden erkennen. Sie steht immer wartend am Fenster und raucht, die Zigarette mit ihren schlanken, nervösen Fingern zusammenpressend. Vielleicht ist die Sonne ihr Godot, die graublau vor den Fenstern scheint, in der Farbe ihres Zigarettenrauchs. Oder vielleicht bin ja doch ich ihr Godot, der ich auf dem Grund dieses glattwandigen Trichters feststecke, heimgesucht von verschwundenen und wieder...
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