Schweitzer Fachinformationen
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Auf der Quaibrücke stand ich, wie so oft, zwischen Bellevue und Bürkliplatz im Stau, wo gerade eine Großbaustelle war. Nur mühsam ging es im Stop-and-go weiter, und ich beobachtete währenddessen ein paar japanische Touristen, die die herrliche Aussicht über den blauen Zürichsee bis hin zu den Bergen fotografierten. Eigentlich war der Berufsverkehr um diese Zeit schon vorbei, aber zusätzlich zur Spurreduktion wegen der Baustelle hatte ein Aargauer sich in der Spur vertan und stand nun schräg zwischen den zwei Spuren, so dass es auf beiden Spuren nicht mehr vorwärtsging, was mit einem lauten Hupkonzert quittiert wurde. Der Autofahrer hinter ihm fuchtelte wütend in seinem Auto herum, und ich glaube, er war kurz davor auszusteigen. Zum Glück erbarmte sich bald einer des Aargauers und ließ ihn bei der nächsten Grünphase der Ampel vorfahren, so dass der Verkehr wieder in den Fluss kam. Ich genoss die Fahrt den See entlang. Durch die offenen Fenster kam frische Morgenluft ins Auto, und im Radio lief gerade ein Lied von Jack Johnson, einem meiner Lieblingsmusiker. Ich drehte die Musik lauter und sang herzhaft mit, zumindest bei den Stellen, an denen ich den Text kannte. Auf der Seestraße herrschte nur noch wenig Verkehr. Am Mythenquai hatten sich mehrere Mütter mit Kinderwagen versammelt, die offenbar das schöne Wetter zu einem Spaziergang nutzten. Gelegentlich blitzte der See zwischen den herrschaftlichen Villen auf.
In Kilchberg angekommen, bog ich am Bendlikon rechts ab und fuhr zu einem in leichter Hanglage gelegenen Anwesen in der Böndlerstraße, wo ich unseren Dienstwagen auf einem der mit >Vita Aeterna< angeschriebenen Parkplätze abstellte. Das edle alte Haus aus dem 19. Jahrhundert war von wohlhabenden Gründern des Vita-Aeterna-Vereins gekauft worden, um Freitodbegleitungen in einem »exklusiven Setting« zu ermöglichen, wie es in ihrem Flyer hieß. Die Aussicht auf den See und die Berge war auch in der Tat fantastisch, wobei ich bezweifelte, ob sich die »Kunden« von »Vita Aeterna«, die ja zum Sterben hierherkamen, etwas daraus machten.
Ich läutete an der mit schmiedeeisernen Gittern verzierten Eichenholztür, woraufhin sich Schritte von innen näherten und eine ältere Dame in einem eleganten Kleid öffnete. »RZZ?«, fragte sie.
»Ja, Klee, RZZ«, antwortete ich ihr freundlich und zeigte ihr meinen RZZ-Ausweis.
Sie nickte und bedeutete mir mit einer altmodischen Geste hereinzukommen. »Ich führe Sie gleich in den Salon 1. Die anderen Herrschaften sind auch eben eingetroffen«, sagte sie steif und ging voran.
In Salon 1, einem mit Stuck an den Wänden verzierten Zimmer mit herrlicher Seesicht, lag die Leiche einer sehr gepflegt aussehenden Frau in einem Bett an der Wand. Es roch nach altem Holz, Waschmittel und ganz dezent nach Rosen. Auf der anderen Seite des Zimmers standen bereits einige geschäftig wirkende Personen an einem antiken Holztisch und beugten ihre Köpfe über mehrere Stapel Papiere.
Eine hochgewachsene braunhaarige Frau, die sich unfreundlich als Staatsanwältin Bühler vorgestellt hatte, musterte mich prüfend. »Ich muss gleich zu einer Gerichtsverhandlung. Können Sie sich bitte beeilen?«, sagte sie in einem Ton, der mehr wie ein Befehl denn wie eine Frage geklungen hatte.
Ich schaute sie verunsichert an, doch noch bevor ich etwas entgegnen konnte, wuselte die elegant gekleidete Frau, die mir die Tür geöffnet hatte, wieder in den Raum und reichte mir einen dicken Stapel Papiere, auf dem in großen Buchstaben die Personalien der verstorbenen Frau standen. Irritiert von Frau Bühlers Verhalten, blätterte ich mich durch die Unterlagen und stöhnte innerlich auf. Die Dokumente, auf denen sich die ärztliche Vorgeschichte der Verstorbenen befand, waren auf Französisch. Ich konnte leider kein Wort dieser Sprache. Bemüht, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, blätterte ich weiter und entdeckte am Schluss einen Bericht einer Schweizer Ärztin, die die Verstorbene vor ihrem Selbstmord bei »Vita Aeterna« noch einmal untersucht hatte.
Erleichtert überflog ich den Bericht. Staatsanwältin Bühler trommelte unterdessen ungeduldig mit ihren Fingern auf der Tischplatte herum. Ich versuchte, irritiert davon, mich auf den Bericht zu konzentrieren. Bei der Verstorbenen handelte es sich um eine 56 Jahre alt gewordene Frau aus Frankreich. Als Suizidgrund war eine Augenerkrankung mit zunehmender Sehverschlechterung und nun einer fast vollständigen Erblindung angegeben.
»Da hat mal wieder jemand die schöne Seesicht gar nicht mehr genießen können«, gab gerade einer der Polizisten zum Besten und lachte wiehernd auf.
Ein eisiger Blick der Staatsanwältin brachte ihn jedoch sofort zum Schweigen. Ich wandte mich wieder den Unterlagen zu und versuchte, die zunehmende Ungeduld Frau Bühlers zu ignorieren.
Die Verstorbene hatte außerdem noch verschiedene andere altersassoziierte Erkrankungen gehabt, die ich rasch durchging. Die Unterlagen erschienen vollständig, die Erblindung war ausreichend dokumentiert und die Urteilsfähigkeit mehrfach ärztlich bestätigt. Bei den auf Französisch geschriebenen medizinischen Unterlagen überflog ich lediglich die Diagnoseliste, auf der ebenfalls das Wort »rétine« ersichtlich war. Zum Glück waren sich die medizinischen Diagnosen in fast allen Sprachen ähnlich. Also wirklich ein Routinefall, dachte ich und begann mit der Leichenschau.
Frau Mathieu war eine zierliche, gepflegte alte Dame gewesen. Sie trug einen hellblauen Kostümrock, eine beigefarbene Bluse und Perlenschmuck, den ich abnahm und in ein eigens dafür vorbereitetes Plastiksäckchen legte. Die Leichenstarre war noch nicht eingetreten, und ich achtete darauf, die Kleider sorgfältig zusammenzulegen, nachdem ich den Leichnam vollständig entkleidet hatte.
Staatsanwältin Bühler saß auf einem Stuhl und gähnte vernehmlich hinter vorgehaltener Hand. Die beiden Polizisten standen in einer Ecke und unterhielten sich leise.
Die Totenflecken befanden sich der Rückenlage entsprechend und waren vollständig wegdrückbar, was in Anbetracht der kurzen Zeitspanne zwischen Todeseintritt und meiner Untersuchung auch nicht überraschte. Ich notierte mir Umgebungs- und Rektaltemperatur und widmete mich danach dem Kopf. Das Bett war niedrig, und ich musste mich tief bücken, um mir den Leichnam genau anschauen zu können.
Mit Hilfe zweier Pinzetten klappte ich die Augenlider um, um mir die Augenbindehäute anzuschauen, und stutzte. Überall waren kleine rote punktförmige Blutungen zu erkennen. Vielleicht lagebedingt, dachte ich. Bei Kopfseitenlage konnte es schon mal vorkommen, dass die Augenbindehäute auf der einen Seite stärker gestaut waren als auf der anderen. Aber hier schien dem nicht so zu sein, denn auf der anderen Seite hatte sie ebenfalls Stauungsblutungen. Wenn man genau hinsah, konnte man sie sogar in der Gesichtshaut erkennen. Schnell untersuchte ich den Rest des Gesichts, das keine Verletzungen aufwies. Nur in der Unterlippenschleimhaut sah ich eine kleine Läsion am Lippenbändchen. Ich richtete mich einen Moment auf und schaute stirnrunzelnd auf den Leichnam. Mit meiner Taschenlampe leuchtete ich die Halshaut ab, konnte aber keine Würgemale oder Ähnliches entdecken. Wieder richtete ich mich auf und verstaute die Taschenlampe nachdenklich in meiner Tasche. Meine Gedanken rasten, denn Stauungsblutungen wiesen verdächtig auf ein gewaltsames Ersticken hin. In Kombination mit der Mundschleimhautläsion war es vorstellbar, dass man Frau Mathieu ein Kissen auf den Kopf gedrückt hatte. Vielleicht hatte sie einen Teil des Gifts wieder erbrochen oder nicht alles geschluckt und war dann zwar bewusstlos gewesen, aber nicht gestorben, überlegte ich. Nachdenklich kauerte ich mich vor das Gesicht von Frau Mathieu. Sie sah eigentlich ganz friedlich aus. Kam das überhaupt vor, dass jemand nicht starb, wenn er einen Teil des Gifts wieder erbrach? Oder war die Dosis so hoch, dass man auch schon bei einer kleineren Menge ums Leben kam?
Frau Bühler, die ungeduldig auf ihre Uhr sah, hatte mein Zögern bemerkt. Sie trat näher.
»Stimmt etwas nicht, Frau Klee?«, fragte sie.
Ich zögerte. Eigentlich müsste ich zuerst meinen Oberarzt anrufen, um mit ihm die Befunde und das weitere Vorgehen zu besprechen.
Frau Bühler sah von oben prüfend auf den Leichnam und wandte sich dann wieder mir zu. »Frau Klee?«, fragte sie scharf.
Ich biss mir auf die Lippen, zog mein Telefon hervor, hob es hoch und lächelte entschuldigend. »Ich muss kurz meinen Oberarzt anrufen«, sagte ich unsicher.
Frau Bühler lachte humorlos auf, warf die Hände in die Luft und bedachte mich mit einem eisigen Blick. »Sagen Sie mal, was denken Sie eigentlich, wer Sie sind? Zuerst lassen Sie uns alle ewig auf Ihr Erscheinen warten. Dann lesen Sie sich in aller Ruhe die Unterlagen hier durch«, sie deutete erbost auf den Tisch, »und dann müssen Sie plötzlich mitten in der Untersuchung Ihren Oberarzt anrufen. Dabei haben Sie doch erst den Kopf angeschaut. Sind Sie denn nicht mal in der Lage, allein eine Leichenschau durchzuführen? Ich glaube, ich bin im falschen Film.« Sie blickte entnervt nach oben, stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte ihren Kopf. »Wegen Ihnen muss ich die Gerichtsverhandlung verschieben, nur weil Sie nicht vorwärtsmachen. Wissen Sie, was das kostet?« Sie trat näher zu mir, zeigte mit dem Zeigefinger auf mich und fauchte: »Ich möchte hier und jetzt von Ihnen wissen, warum«, ihre Augen starrten mich wütend an, »warum Sie nun Ihren Oberarzt anrufen müssen. Das hier ist doch absolute Routine. Schließlich sind wir hier bei >Vita Aeterna< und nicht bei einem...
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