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Venedig in Schwarzweiß
So viel hatte ich von Venedig schon gesehen und gelesen, dass ich zweifelte, ob es die Stadt wirklich gab. Als ich zum ersten Mal nachschaute, erging es mir nicht anders als den Millionen, denen der Atem stockte, sobald sie den Bahnhof Santa Lucia verlassen hatten. Dabei ist der Bahnhof, wie Thomas Mann im »Tod in Venedig« schrieb, nur der Hintereingang, das Tor, durch das die Dienstboten den Palast betreten, während der standesgemäße Einzug vom Meer her mit dem Schiff zu erfolgen hat. Ist man durch den Hintereingang hereingekommen, findet man alles, wie es tausendfach beschrieben und abgebildet wurde, und sieht zugleich, dass es doch anders ist, als zu erwarten war. Venedig ist eine Stadt aus Papier, zahllos sind die Beschreibungen, Hymnen, Lobreden, die gelehrten Studien und emphatischen Bekenntnisse, die ihr über die Jahrhunderte gewidmet wurden. In den Stoßzeiten des Tourismus kommen täglich zwei oder wohl eher zwanzig Millionen Fotografien hinzu, die am Canal Grande, in den Gassen, auf den Plätzen gemacht werden. Wie sollte es da ein wirkliches Venedig geben? Die Stadt muss doch vollauf damit beschäftigt sein, dem Bild zu entsprechen, das längst ein jeder von ihr hat, und den Worten gerecht zu werden, auf die sie schon tausendfach gebracht wurde. Wer sich Venedig nähert, fürchtet zu Recht, dass es hinter Wörtern verschwunden, von den Bildern zugedeckt, in der Wirklichkeit womöglich nicht mehr aufzufinden ist.
Tatsächlich ertappt sich der Besucher dabei, dass er in der Stadt lauter Bilder entdeckt, die sich ihm bereits eingeprägt haben, noch ehe er hier gewesen wäre, und dass er in Wirklichkeit auf der Suche nach dem Abbild unterwegs ist, das er für jene zu halten gelernt hat. Im Vaporetto drängeln sich die Touristen, um all der Gebäude ansichtig zu werden, die sie von Fotoserien, Büchern und Filmen her kennen, und wenn sie eines davon identifizieren, reißen sie die Kameras in die Höhe, um es endlich auf einem selbstgefertigten Bild festzuhalten. Als ich das zum ersten Mal beobachtete, eingezwängt zwischen einem entkräfteten Spanier, dem die Ehefrau mit einem Klaps auf die Schultern bedeutete, dass er die Kamera mechanisch heben und knipsen sollte, und einem Amerikaner, der auf sein lebensfrohes »Oh« des Erkennens sogleich ein Bild des Wiedererkennens schoss, fragte ich mich, was der Grund für dieses merkwürdige Verhalten war. Warum fotografieren sie just das, was sie schon auf unzähligen Bildern gesehen haben, wieso wurde ihre Aufmerksamkeit gerade vom dem geweckt, was ihnen bekannt war?
Es hängt sicher mit der Unwirklichkeit zusammen, die einen in Venedig umfängt, nicht so sehr, weil dies eine unmögliche Stadt ist, gebaut auf Wasser und Papier, Materialien, aus denen Träume, aber nicht Häuser und Kirchen zu errichten sind, sondern weil Venedig jedem immer schon vertraut ist. Bewegt man sich dann in der Stadt, ist man in einer Erinnerung unterwegs, die nicht auf eigenem Erleben gründet, und das senkt den Zweifel in uns, ob wir nicht statt in eine Stadt in ein Album geraten sind, das fremde Erfahrungen als unsere eigenen Gefühle gebannt hält. Indem wir selber fotografieren, was vor uns schon so viele aufgenommen haben, versuchen wir uns auf paradoxe, hilflose Weise der Realität jener Fiktionen zu versichern, die auf uns übergekommen sind.
Wie oft man auch dort gewesen sein mag, Venedig überrascht einen, sobald man gewahr wird, dass es eine Stadt außerhalb des Albums gibt. Diese Erschütterung verspüren keineswegs nur die Bildungsreisenden, es ist keine elitäre Erfahrung, in der der Connaisseur sich seines Wissens und seiner Kultur erfreute. Auf seine Weise ergeht es jedem so, dem Massentouristen, der zum ersten Mal nach Venedig kommt und von den Trampelpfaden kaum abzuweichen wagt, wie dem Liebhaber, der regelmäßig zurückkehrt und sich über Architektur, Geschichte, Kunst, mitunter sogar über die sozialen Verhältnisse kundig gemacht hat.
Die Verachtung des Massentouristen, nirgends ist sie so naheliegend und zugleich so billig wie in Venedig. Um 1500, als Venedig an seine historische Wende kam und nach Jahrhunderten des Aufstiegs zur Serenissima, der beherrschenden See- und Handelsmacht, unaufhaltsam der Niedergang einsetzte, lebten fast 200.000 Menschen dort, wo heute keine 60.000 Einwohner geblieben sind. Natürlich wird diese Stadt, die ihren eigenen Untergang überlebt hat und heute mit der Schönheit des Verfalls, dem morbiden Glanz identifiziert wird, als hätte es vor dem Verfall keinen Aufstieg, vor dem Niedergang nicht Jahrhunderte imperialer Macht gegeben, vom Massentourismus malträtiert. Täglich schleust sich ein Vielfaches der Einwohnerschaft durch die Gassen und über die Brücken, denen darüber selbst das Seufzen vergangen sein mag. Aber von den Einheimischen, die immer weniger werden, abgesehen, ist hier jeder ein Massentourist, der Kunstsinnige, der die Nase über den aus Jesolo her verfrachteten Badeurlauber rümpft, nicht weniger als dieser. Anders, als dass man sich in den Status des Massentouristen fügte, ist Venedig nicht zu haben, es sei denn, man würde die Stadt schließen und als Museum wieder eröffnen, was freilich eine nicht minder unangenehme Spielart des Fremdenverkehrs, den Museumstourismus, favorisieren und im Übrigen nicht viel ändern würde.
Sosehr Venedig unter dem Ansturm der Massen leidet, fällt es hier doch nicht besonders schwer, diesen auszuweichen und sich vor jenem zu schützen. Wie viele Tagesurlauber sich auch einfinden, sind es doch stets gezählte Schritte, die genügen, dass man aus dem Gedränge hinausfindet und unvermittelt in eine unbegreifliche Stille gerät. Es ist eine besondere Stille, die mitten in der Stadt über Inseln der Verlassenheit gebreitet liegt. Natürlich hat das damit zu tun, dass Venedig hörbar die Autos fehlen, aber mehr als der fehlende Verkehrslärm macht dieser Wechsel von Enge und Weite, von Dichte und Leere die venezianische Stille aus. Geleitet von Wegweisern und angetrieben von ihrer Unsicherheit, ziehen die Scharen erschöpft ihre Bahn, ohne innezuhalten und vom vorgezeichneten Weg auszuscheren. Nur zwei Gassen weiter würden sie sich in der Ruhe eines Campos wiederfinden, der wie durch eine besondere Magie dazu bestimmt scheint, von den Touristen niemals entdeckt zu werden.
Vor ein paar Jahren wohnte ich in Venedig eine Zeitlang in einer finsteren, gerade nur einen Meter breiten Callesella, einem Gässchen im Stadtteil San Polo. Die Route, auf der Abertausende täglich von Rialto zum Campo San Polo geführt werden, war nicht fern, doch in mein Gässchen verirrten sich nur jede halbe Stunde ein paar versprengte Touristen. Am Campiello del Sol, auf den drei Fenster der Wohnung schauten, gab es am oberen Ende eine Osteria, in der fast nur Einheimische saßen, Leute, die von den umliegenden Häusern dem Kellner mitunter zuriefen, dass er ihnen den Tisch an der Hauswand decken solle, weil sie jetzt hinunterkämen. Am anderen Ende war in einer aufgelassenen Werkstatt eine Abendschule eingerichtet worden, in der sich die neuen Venezianer aus Afrika, zehn, zwölf Erwachsene, die auf alten Schulbänken Platz genommen hatten, konzentriert bemühten, die Gleichungen zu verstehen, die ein magerer Professor an der Tafel mit dem Zeigestab erklärte. An einem der ersten Tage war ich in den Trampelpfad eingebogen und über den Campo San Polo, den prächtigen Campo dei Frari und den kleinen, mich immer bezaubernden Campo San Tomà zum langgestreckten Campo Santa Margherita gegangen. Dort waren die Venezianer gegenüber den Touristen zu dieser Stunde bereits in der Überzahl, und ein wenig später am frühen Abend wurde das Leben laut und bewegt, aus den umliegenden Häusern strömten die Leute auf ihren Platz, um zusammenzustehen, sich der spielenden Kinder zu erfreuen und zuzuschauen, wie die Zeit verging.
Denke ich heute an diesen Abend, fallen mir seltsamerweise die venezianischen Fotografien Inge Moraths ein, die sie Jahrzehnte früher aufgenommen hat und die ich damals noch gar nicht kannte. Den farbenprächtigen Ort, an dem ich dem wahren Leben dieser Stadt zu begegnen meinte, verbindet mein Gedächtnis ausgerechnet mit einer Serie von Schwarzweiß-Bildern. Diese Aufnahmen fügen sich natürlich, wie alle Abbildungen, in das große, täglich wachsende Album, zu dem Venedig geworden ist, sie besitzen aber auch die künstlerische Kraft, mich an die Wirklichkeit selbst zu erinnern, die man in Venedig stetig zu vergessen droht. An jenem Abend am Campo Santa Margherita waren sie alle da, die auf Moraths Bildern zu sehen sind, die Kinder, die in den fünfziger Jahren Dreirad fuhren und jetzt auf ihre Enkel schauten, die ihre ersten Versuche mit dem Fahrrad oder Inlineskates unternahmen, die schwangeren Frauen, die im Jahrzehnt nach dem Krieg mit karger Eleganz ...
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