Schweitzer Fachinformationen
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Es gibt Dinge, die braucht man nicht, und deswegen kommt man ohne sie nicht aus. Der Brieföffner war immer schon im Haus, und meine Frau und ich wissen beide nicht, wann wir ihn erstanden oder von wem wir ihn erhielten. Er war und ist einfach da, und obwohl man ihn zum Öffnen der Briefe nicht benötigt, käme keiner von uns auf die Idee, ihn nicht zu verwenden, wenn es Werbesendungen, Rechnungen, Amtspost oder Nachrichten von irgendwem zu öffnen gilt. Er liegt auf der massiven Kommode im Wohnzimmer mit allerlei anderem Zeug auf einem schwarz verfärbten, abgestoßenen Silbertablett, wie man es früher in besseren Gasthäusern zum Auflegen der Zuspeisen verwendet hat.
Der Brieföffner ist aus einem stumpfen, an den beiden Schneiden im Laufe der Jahrzehnte abgerundeten Stahl, die Klinge hat eine Länge von vierzehn Zentimetern, ehe sie in einem acht Zentimeter langen und zwei Zentimeter breiten Griff aus Messing verschwindet. Griff und Klinge, bronzefarben und silbern, haben etwas Filigranes, ein Brieföffner ist kein Schlachtermesser. Den Griff zieren am oberen und unteren Rand Ornamente nach Art des Jugendstils, und in der Mitte findet sich auf beiden Seiten ein schwarzes, mit bronzenen Schriftzügen beschriebenes Einlegeplättchen. Auf der einen Seite steht: »Eternit-Schiefer - Patent Hatschek«, auf der anderen »Beste Bedachung - Reparaturlos-Sturmsicher-Vornehm«. Es handelte sich also um das Geschenk oder die Werbegabe einer Firma Hatschek, die Dächer aus Eternit-Schiefer herstellte, und dies zu einer Zeit, da dieser Baustoff noch mit dem Attribut vornehm verbunden wurde.
Lange Zeit habe ich den Brieföffner verwendet, ohne auf die Schriftzüge am Griff zu achten oder mich zu fragen, was diese mit dem Werkzeug zu tun haben. Dann hat es mich doch zu interessieren begonnen, und was ich herausfand, war dies: Der Name Eternit selbst ging auf den Gründervater der Dynastie zurück, einen findigen, welterfahrenen Mann namens Ludwig Hatschek, der 1856 im mährischen Tesetice geboren wurde, mit seinen Eltern nach Oberösterreich übersiedelte, der Arbeit in der elterlichen Bierbrauerei bald entrann, die englischen Industrieregionen bereiste und sich beständig mit allerlei Experimenten technischer und chemischer Art beschäftigte. Er war es, der ein marodes Fabrikgebäude bei Vöcklabruck erstand und in deren Werkshallen nach ungeduldigen Versuchen einen neuen Stoff erfand, der das Bauwesen in aller Welt modernisierte, über ein paar Generationen prägte und freilich auch enorm schädliche Wirkungen zeitigte, denn dass Asbest, einer der Bestandteile des von Hatschek erfundenen Baustoffs, giftig war, wusste man lange nicht.
Der Mährer Hatschek wurde binnen wenigen Jahren zu einem der erfolgreichsten Großindustriellen der Donaumonarchie. 1901 hatte er auf das aus Fasern, Zement, Wasser, Zellstoff und Luft in einem bestimmten Mischungsverhältnis hergestellte Eternit das Patent angemeldet. Sein Baustoff war feuerfest, wasserundurchlässig und leichter als jeder andere, der bis dahin beim Bau verwendet wurde. Auf den Namen Eternit kam er in Anlehnung an aeternitas, das lateinische Wort für Ewigkeit, und ist selbst das Eternit kein Stoff für die Ewigkeit, so doch einer, der lange haltbar bleibt, und hielt sich auch das Familienunternehmen Hatschek nicht ewig, so doch über drei Generationen. Erst im 21. Jahrhundert hat eine global agierende Schweizer Firma die Eternit-Werke in Vöcklabruck aufgekauft und ihrem Konzern eingegliedert.
Auf den wenigen Bildern, die es von Ludwig Hatschek gibt, sieht man einen kräftigen Mann mit dunklem Haar und einem in mächtige Kräusel auslaufenden Schnurrbart, der offenbar nach dem Vorbild des Thronfolgers Franz Ferdinand gebürstet wurde. Hatschek hat methodisch ein Imperium aufgebaut, Zementfabriken erstanden, Lizenzen in alle Welt verkauft und in Linz aus einer riesigen Sandgrube einen Park gemacht, den er der Stadt schenkte und in dem er auch sein eigenes Wohnhaus, die Hatschek-Villa, errichten ließ. Die Faser, die dem Eternit seine einzigartige Qualität verlieh, war aus dem Mineralstoff Asbest gewonnen; der Erfinder des Eternits ist selbst in seinen besten Jahren von einer quälenden Krankheit ergriffen worden, die vermutlich vom Asbest verursacht war. Er war keine sechzig, als er am 15. Juli 1914 starb, zwei Wochen nach dem Thronfolger, zwei Wochen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Sein Sohn Hans hat das weltweit tätige Unternehmen weitergeführt und das Fabrikleben in der Zwischenkriegszeit mit sozialem Paternalismus zu organisieren gewusst. Legendär wurden seine Arbeitersiedlungen in Vöcklabruck, in denen die Belegschaft in Wohnungen und Häusern untergebracht war, die nach den Gegebenheiten der Zeit großzügig waren, sie aber auf Gedeih und Verderb an die Firma banden, zumal jene, die ihre Stellung verloren, auch ohne Wohnung dastanden. In kleinerem Maßstab hat Hatschek in Vöcklabruck konzipiert, was in der Heimat seiner Vorfahren die Brüder Bat'a in Zlín verwirklichten, die Bildung einer eigenen Arbeiterschaft, die zugleich privilegiert und abhängig war und am Ort des Arbeitens in einer für sie entwickelten Siedlungsform lebte.
Über Zlín hatte ich bereits einige Studien gelesen und manch Wundersames gehört, bis ich mich vor einiger Zeit auf den Weg nach Tschechien machte, um diese erste Stadt der Welt, die vollständig nach den architektonischen Prinzipien des Funktionalismus errichtet worden war, mit eigenen Augen zu sehen. Als ich im Septemberregen die Weißen Karpaten erreichte und nahe der slowakischen Grenze die Silhouette von Zlín erblickte, stockte mir der Atem. Zwei so geniale wie rücksichtslose Kapitalisten hatten hier eine historische Ansiedlung von den besten Architekten ihrer Zeit mit einer Musterstadt überbauen lassen und diese immer wieder modernisiert, bis die Utopie einer Industriestadt Realität geworden war, in der alles urbane Leben seinem vorbestimmten Zweck diente: dass Schuhe in so großer Zahl zu einem so günstigen Preis hergestellt werden wie nirgends sonst und die zehntausend Arbeiter, die dafür vonnöten waren, sich in einen wohlversorgten Zustand der Unmündigkeit fügten.
Als ich auf Zlín zufuhr, sah ich zahllose würfelartige Häuschen, die in strenger geometrischer Ordnung auf die Hügel gesetzt waren, alle gleich klein, alle aus roten Ziegeln, alle mit einem Gärtchen. Die Arbeiter von Zlín hatten es viel besser und schlechter zugleich als ihre Klassengenossen, wo immer diese in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lebten. Besser, weil jeder von ihnen sein kleines Eigenheim bewohnte, in Betriebskantinen gesund und preiswert essen, das größte Kino Mitteleuropas besuchen und etliche Kultur- und Sporteinrichtungen nutzen konnte. Schlechter, weil das Leben genormt war, architektonisch auf dem hohen Standard, den ein Architektenteam um Frantisek Gahura und Vladimír Karfík anlegte, als es die Siedlungen der Arbeiter baute und die Fabrik- und Bürogebäude an der Hauptstraße viele Stockwerke hochzog. Und sozial genormt, weil die privilegierten Arbeiter von Zlín keine Gewerkschaft gründen durften und verpflichtet waren, sich auch feiertags zum Glück zu bekennen, in der »Stadt des Neuen Menschen« zu leben. Die Auftraggeber der Architekten, die Patriarchen ihrer Arbeiterfamilie, waren die Brüder Tomás und Jan Bat'a, die ihre erste Schuhfabrik vor der Jahrhundertwende gegründet hatten, im Ersten Weltkrieg Millionen Stiefel für die Soldaten der habsburgischen Armee erzeugten und in den zwanziger Jahren das Arbeiten und Leben in ihrer Stadt diktatorisch so funktional organisierten, dass es nachgerade surreale Folgen zeitigte.
Am Nachmittag besuchte ich das einstige Bürogebäude auf Nummer 21 der Hauptstraße, begleitet von einem misstrauischen weiblichen Feldwebel, der in den leeren Gängen des menschenverlassenen Gebäudes nach einer feindlichen Truppe Ausschau hielt, für deren Späher er mich hielt. Das Haus war mit einem riesigen gläsernen Lift ausgestattet, der einst als fahrbares Büro samt Schreibtisch, Telefon, Sitzgruppe mit Tomás Bat'a vom einen zum anderen Stockwerk fuhr, damit er seine Angestellten unentwegt überwachen konnte. Sein Bruder Jan grübelte derweil über dem Plan, wie sich die gesamte tschechoslowakische Bevölkerung nach Brasilien übersiedeln ließe; er berechnete, wie viel Geld vonnöten wäre, um für zehn Millionen Mitteleuropäer im Urwald Brasiliens so und so viele Industriestädte errichten zu lassen, und er kam zum Schluss, dass er die Summe dafür würde auftreiben können. Tatsächlich hat er immerhin zwei brasilianische Kopien von Zlín erbaut, Batayoporã und Bataguassu, in denen er ab den vierziger Jahren Schuhe für den Weltmarkt herstellen ließ.
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