Schweitzer Fachinformationen
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ZWEI
Elwood stand an der Ecke des Bahnhofs Wattwil. Im Durchgang zwischen Haupt- und Nebengebäude. Zurückgekämmte Haare zu einem Rossschwanz gebunden wie Jon Lord im Alter; heute das schwarze Leibchen mit dem stilisierten Konterfei des Tastengenies, grüne Leinenhose mit Seitentaschen und die bequemen neuen Sneakers. Den New Yorker G-man Cotton im Ohr. Wie er seinem Partner Phil Decker Anweisungen gab. Ecke vierzigste, zwei Blocks vom Tatort entfernt. Wie er es auch in der Krimiserie »Castle« immer wieder aufgeschnappt hatte. Zusammen mit Ivy hatte er alle Folgen zweimal geguckt. Er hatte keine Blocks vor sich, nur die gerade Linie des Hauptgebäudes. War aber bereit, alle Wege zu gehen, um erfolgreich zu sein. Er schaute wieder hin, zur Nische vor dem Hauptdurchgang. Hatte ihn der selbst ernannte Guru gesehen? Kurz hatte er den Kopf gedreht und in seine Richtung geschaut. Elwood wendete ebenfalls den Kopf. Auf Gleis 3 fuhr der Zug aus Nesslau ein. »S2«, stand auf dem Anzeigebalken. Es war elf Uhr morgens.
Zu Hause hatte er den Inhalt des Couverts nochmals geprüft. Drei Bilder standen ihm zur Verfügung. Darauf die Zielperson mit gewöhnlicher Kleidung. Dann waren da der Pocket Viewer und der Plan der Burg. Er hatte die Frage beantwortet, wieso ihm der unbekannte Auftraggeber den Namen nicht nannte, den bürgerlichen. Elwood vermutete, dass es für die Beschattung ohne Belang war. Und dass der ominöse Fremde über die Guru-Identität Bescheid wusste. Er aber hatte vor, ihn herauszufinden. Über den bürgerlichen Namen könnte er Anhaltspunkte finden. Der Fremde hatte es genau formuliert: Finden Sie heraus, wo die Zielperson die letzten Jahre gesteckt hat. Eine Geschichte sollte er liefern, keine Fotos. Und er hatte gezeichnet. Ein Phantombild des Anrufers, was zur Ausbildung eines Detektivs gehörte. Er verzichtete auf Wanzen, GPS-Tracker und Nachtsichtgerät. Texte entschlüsseln ordnete er bei den drei ??? ein. Anders war es mit der Befragungstechnik, der Psychologie derselben. Da wollte er noch einiges mehr nachlesen.
In der Nacht hatte er geträumt, er liefe durch ein junges Buchenwäldchen. Die Sonne sandte ihre Strahlen durch das Laub schräg zwischen die Stämmchen. Blauer Himmel und ein Knirschen unter seinen Sohlen, als liefe er über transparentes Folienpapier.
Wollte ihn seine Seele darauf hinweisen, wie man sich möglichst ohne Geräusch fortbewegt? Wusste die das besser? Dieser Traum war nicht so komplex gewesen, aber vielleicht sollte er etwas über Traumdeutung lesen.
Von der Bahnhofstraße hörte er ein Geknatter. Eine Kolonne Vespafreunde auf dem Weg durch das Toggenburg. Elwood zählte sechsundzwanzig. Und dachte an eine andere Weisheit. Nur wo man zu Fuß gewesen ist, ist man wirklich gewesen. Wobei er ungemein gern eins jener Gefährte besitzen würde. Als er wieder nach vorne schaute, war der Guru verschwunden. Gähnende Leere, wo der soeben mit einem Bier in den Händen gestanden hatte, wie Elwood interpretierte. Er wendete den Kopf, zuerst neunzig Grad, um zu sehen, ob der Guru nicht plötzlich hinter ihm auftauchte. Dann vorsichtig wieder nach vorn. Leer. Er verscheuchte den Gedanken an das Knistern des Traums. Setzte vorerst aber behutsam einen Fuß vor den andern. Endlich kam Leben in die Sache. Zu lange hatte er nur verharrt. Gefühlt mehrere Stunden. Erster Tag hin, erster Tag her. Er wollte es nicht versieben. Von der anderen Seite war er auf den Bahnhof zugelaufen. Hatte den Guru unter den Randständigen ausgemacht. Wenn man die noch jungen Menschen Randständige nennen sollte. Die im Winter bestimmt nicht so früh am Bahnhof waren. Jetzt aber bei diesen milden Temperaturen die Zeit draußen genossen. Das gemeinsame Biertrinken. Wo war der Guru? Elwood war beinahe vorbei am Abgang zur Unterführung. Immer noch konnte er ihn nicht sehen. Noch einmal hielt er inne, spähte umher, konnte ihn nirgends finden. Er setzte seinen Weg fort. Beschleunigte seine Schritte. Wenn schon offensiv, dann richtig. Vorbeilaufen fällt nicht auf. Anschließend musste er sich neu postieren oder abbrechen und nach Hause gehen. Er wählte das Erste. Zwei Burschen saßen auf der Bank gleich beim Geländer. Von dem Guru keine Spur. Elwood unterdrückte den Impuls, auf sie zuzugehen, das Bild zu zeigen und nach dem Namen zu fragen. Wäre das Einfachste. Er hielt sich an den gewählten Plan und lief vorbei. War sicher besser. Denn einer der beiden würde es bestimmt dem Guru stecken, dass einer nach seinem Namen gefragt hatte. Er war sich nicht sicher, was für eine Auswirkung das haben würde. Er verlangsamte seinen Gang und ging nach rechts hinüber zum Kiosk. Kurz entschlossen trat er ein und kaufte sich ein Kägi fret. Wieder draußen stellte er sich an den runden Hochtisch. Das hätte er tun sollen. Öffentlich hinstellen und beobachten. Von der Haltestelle nach Ebnat-Kappel winkte ihm eine Frau. Er schaute genauer hin. Bea.
»Zu Besuch«, hörte er sie rufen. Sie wendete den Kopf, und er folgte ihrem Blick. Die Bahnhofstraße runter kam Guru Chaachaa Jabar. In der Hand eine Coop-Papiertragetasche. Nachschub, tippte Elwood. Die Kleider stimmten mit dem Stil auf dem Youtube-Kanal überein. Absolut gurumäßig, was er aus der Ferne bestimmen konnte. Hippiemäßiger Aufzug, den man hinlänglich mit hinduistischem Gedankengut verknüpfte. Er schaute zurück zu Bea. Leer. Der Bus nach Ebnat war abgefahren. Ein wenig drehte er sein Gesicht wieder in die Marschrichtung des Gurus, öffnete das Kägi fret, als er näher kam und an ihm vorbei zu seinen Spießgesellen ging. Was sollte er jetzt tun? Warten und unauffällig beobachten, darauf hoffen, dass der Guru wieder ging? Dann könnte er ihm folgen. Oder sollte er nochmals in den Kiosk gehen, eine Zeitung kaufen und sich direkt nebenan auf die Bank setzen? Er wählte wieder das Erste. Warten, nicht Tee trinken, warten. Er hatte Zeit, wie jene drei Brüder dort drüben. Ha. Er könnte trotzdem die Zeitung kaufen. Entschied sich, daran zu arbeiten, die grottenschlechten Einstiegsideen zur anstehenden SP-Rede von gestern zu toppen. Ein schlechter Einstieg war wie der vermasselte Anfang eines Rockkonzerts. Die Zuhörer wieder zu fangen brauchte zu viel Energie. Was dürfte es also sein, diesmal? Elwood aß den zweiten Stängel des Kägi frets. Ballte die Packung zu einer Kugel und warf sie Richtung Kübel. Daneben. Er bückte sich, versuchte es noch mal. Treffer. Genau so, dachte er. Nach dem zweiten Anlauf ein Treffer.
Ein kurzer Blick nach drüben offenbarte keine Neuigkeiten. Frisches Bier hatte die Runde gemacht. Ließ die Burschen lauter werden.
Elwood stand mit den Ellbogen auf den Stehtisch gestützt da. Kopf abgedreht Richtung Bushaltestelle. Jederzeit bereit, die Bewegungen des Gurus zu verfolgen. Er hätte auch Zeit, Notizen zu machen, was ihm auffiel. Vor allem dachte er daran, wieso er den handlichen Pocket Viewer nicht mitgenommen hatte. Er könnte alles direkt eintippen. Wäre doch praktisch. Untersucht hatte er ihn. Das digitale Notizbuch war vollkommen leer. Vom Kalender über den Terminplaner bis zu den Kontakten, keine Einträge. Hätte er Fingerabdrücke nehmen sollen? Er war sich sicher, dass der Fremde Handschuhe getragen hatte. Zudem hatte er das Gerät schon in den Händen gedreht und gewendet. Ohne Schutz.
Eine Frau stellte sich ihm gegenüber an den Stehtisch. Weiße Handtasche mit silbernem Kettentragriemen, Packung Mary Long in der Rechten, Zigarette in der Linken. Die Frau selbst sah aus wie Mary Long. Jedenfalls die schwarzen gepflegten Haare. Sie hatten einen Blaustich. Was nicht zum sonstigen Äußeren passte. Wie auch nicht die Handtasche. Ein nicht sommerliches rotes Lakers-Spielerdress mit einem Scorernamen, der ihm nichts sagte, und braune Lederhose. Das zu weite Sportleibchen verhüllte eine mollige Figur. Sympathisch. Es roch so richtig nach Mensch. Und Elwood wusste, was er an der nächsten Parteisitzung als thematischen Einstieg bringen könnte. Der Kerngedanke. Die Leistungsgesellschaft war wichtig. Aber ebenso wichtig war, dass der Mensch seine Identität nicht preisgeben musste. Seine Partei hatte offene Arme für Personen jeder Couleur. Konnte es sein, dass die Zielperson ihre Identität verloren hatte oder am Verlieren war?
»Darf ich?« Mary Long wedelte mit der Zigarette.
»Ja sicher, stört mich nicht.«
Durch ihre Anwesenheit war sein Herumstehen nicht mehr so auffällig.
»Sind doch draußen«, ergänzte er.
Aus der Richtung des Gurus schepperte es. Eine halb volle Dose knallte auf den Boden. Gralsburg, diese Pfütze, kann man sowieso nur gekühlt trinken. Dann das Gekeife des Gurus: »Du hast schon Schulden bei mir. Ich liefere meistens das Bier. Und jetzt soll ich dir noch die Zigaretten .«
Es wurde handgreiflich. Der Guru zog den Kürzeren und ging zu Boden. Elwood wollte schon Partei ergreifen, denn eine Hilfe geben war wichtiger als am Auftrag festhalten, als der Guru sich aufrappelte und von dannen machte.
»Behaltet das Bier«, hörte Elwood ihn noch rufen.
Er bereute, von Mary Long Abschied nehmen zu müssen. Der Gedankengang war noch nicht fertig. Unausgereift. In einigem Abstand folgte er dem Guru das Perron entlang bis zu der Stelle, wo er die Observierung begonnen hatte. Immer darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen. Weiter die neue Ladenpassage an der Bahnhofstraße hinauf ging es zur Brücke über die Thur. Vor seinen Augen, hinter der Brache, das kleine noch existierende Kino »Passerelle«. Vor der Brücke rechts weg der Thur entlang. »Auweg«, stand auf der blauen Tafel. Eine Richtung, die er nie beschritt. Mit Viva ging er immer die andere Seite der Thur entlang, nach Lichtensteig. Hier war es ein Feldweg von der Breite einer Fahrspur, kein Asphalt. Die Thur beschrieb einen leichten Bogen. In...
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