Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
(finnisch: Am Anfang war das Schweigen)
«Erzähl doch keinen Unsinn!»
«Das ist kein Unsinn, Kaisa, die Japaner .»
«Die Japaner . Was wissen denn schon die Japaner .»
«Das Nordlicht, glauben sie .»
«Shhh!», machte der bärtige Mann im Flanellhemd am Nebentisch und blickte uns vorwurfsvoll an.
«Das Nordlicht .», wisperte ich leise, doch von überall her trafen uns verärgerte Blicke. Ich brach ab. Ich würde Kaisa heute ohnehin nicht überzeugen können.
Wir befanden uns in einer kleinen Bar in Kemi; es war später Nachmittag. Etwa zwanzig Männer und Frauen saßen im halbdunklen Raum, schweigend, und starrten gebannt auf die Großleinwand, die neben der Theke aufgespannt war. Ausnahmsweise wurden weder Langlauf, Skispringen noch Eishockey übertragen, sondern fünf Menschen mittleren und höheren Alters in einem biederen Wohnzimmer; vier spielten Karten, eine Frau häkelte. Alle paar Minuten wurde in einen anderen Raum geschnitten: Eine Frau räumte ihr Zimmer auf. Ein Mann hackte Holz. Eine Frau heizte die Sauna. Zwei Frauen rauchten auf der Veranda. Ein Mann kurvte auf Langlaufskiern um einen kleinen Innenhof. Eine Frau und ein Mann spielten Pingpong. Dann wieder: das Wohnzimmer mit der geblümten Tapete.
Bis auf das leise Raunen der Bewunderung, das dann und wann durch die Bar zitterte, war die Stille gespenstisch, und ich fragte mich, warum der Barmann den Fernsehton ausgemacht hatte.
«Was ist das?», fragte ich Kaisa. «Was .?»
«Keine Ahnung», unterbrach sie mich kopfschüttelnd, nicht weniger verwundert als ich. «Psst.»
Werbepause; als das Signet des Fernsehsenders erklang, zuckte ich überrascht zusammen, doch der Barmann stellte den Ton sofort leiser. Die Stimmung entspannte sich. Wer sich keinen frischen Kaffee holte, wisperte und murmelte angeregt; es klang wie das Fachsimpeln bei einer Sportübertragung, nur weniger laut.
Der Mann vom Nachbartisch lehnte sich zu uns herüber und fragte etwas. Kaisa erwiderte, ich hörte «sveitsiläinen» und nickte automatisch, wie immer, wenn ich dieses Wort hörte.
«Aha», nickte der Mann und flüsterte weiter, wobei er mich mit freundlicher Miene musterte.
«Ein Schweizer ist auch dabei», übersetzte Kaisa, «und er schlägt sich ganz wacker, für einen Ausländer.»
«Wo schlägt er sich ganz wacker, der Schweizer?»
«Das hat er nicht gesagt.»
«Dann frag ihn doch!»
Ein paar Minuten später schnappte ich mir Kaisas Mobiltelefon und schrieb eine SMS an die Redakteurin einer Schweizer Zeitung. «Hei Brigitte, bin in Lappland. Schweige-WM mit erfolgreichem Schweizer Teilnehmer. Interessiert?»
Es war, als säße er im Wasser, umgeben vom Schweigen. Er nahm alles nur gedämpft wahr, leise, verschwommen. Er rang nach Atem, aber da gab es keine Luft, er röchelte, sein Röcheln hörte sich fremd an, und plötzlich sah er sich selbst, er saß in einem Wohnzimmer wie in einem Aquarium, er blätterte in einem Buch, ohne es zu lesen, und er spürte: Ein Wort nur, und er würde auftauchen und das unerträgliche Gefühl abschütteln wie Wassertropfen, ein Wort nur, und er würde wieder atmen. Doch er sagte nichts, er erhob sich und kämpfte sich durch die schwere Atmosphäre, jede Bewegung eine quälende Anstrengung, als ginge er unter Wasser, und er schleppte sich hinters Haus, zum Holzstapel. Er ergriff die Axt. Hackte Scheit um Scheit. Zwei Stunden lang. Dann war das bedrückende Gefühl verschwunden.
«Du willst dich doch nur über uns lustig machen.» Kaisa funkelte mich an. «Die Finnen, das eigenartige Völkchen aus dem Norden mit seinen schrulligen Sitten! Unartikulierte Provinzdeppen, das sind wir in euren Augen, Säufer und Schweiger, und aus diesen Klischees willst du Kapital schlagen!»
«Keineswegs», verteidigte ich mich.
Wir saßen in einem ziemlich leeren Bus; es war kurz nach Mittag, doch draußen herrschte, wegen der dichten Wolkendecke, dämmergraue Düsternis.
«Und warum fahren wir dann nach Sodankylä und nicht wie geplant nach Enontekiö?»
«Auch in Sodankylä können wir Ski laufen.»
«Aber der Nationalpark ist bestimmt reizvoller als die Umgebung von Sodankylä.»
«Schneebedeckt und in der Winternacht sieht Lappland überall gleich aus, das hast du selbst gesagt.»
Das stimmte. Ursprünglich hatte Kaisa gar nicht nach Lappland gewollt. Schon gar nicht im Winter. Aber ich hatte insistiert und geschwärmt von Langlaufen, Skifahren, Hundeschlitten, Nordlicht - das volle Programm.
«Und was bin ich für dich? Auch nur ein Finnlandklischee?»
Ich schüttelte seufzend den Kopf und verdrehte die Augen. Dabei hatte sie natürlich recht: Die Schweige-WM reizte mich mehr als die Vorstellung, bei minus 20 Grad durch die Dunkelheit zu langlaufen. Ins winterliche Lappland trieben mich nicht in erster Linie sportliche Gründe - ich wollte die ewige Nacht und ihre Farben erleben und das Nordlicht. Vor allen Dingen aber wollte ich dem finsteren Grau entfliehen, das sich seit Monaten auf Helsinki gelegt, sich bis in die hintersten Winkel unserer Gemüter eingenistet und Kaisas Augen ihres Glanzes beraubt hatte.
Es war mein erster Winter in Finnland, er übertraf meine Erwartungen bei weitem, und ich wusste nicht, inwieweit unsere Beziehungskrise von einem finnlandtypischen, saisonalen Gefühlstief bedingt war oder ihren Ursprung tatsächlich in uns selbst hatte.
Eine Abwechslung tat not. Weil das Geld aber nicht für die Südsee reichte, hatte ich die tollkühne Idee, die Flucht nach vorn anzutreten, ins Herz der Finsternis, nach Lappland. Hier würden wir, glaubte ich, zusammenrücken, ja uns wieder aneinanderkuscheln und während des ekstatischen Nordlichts das Angenehme mit dem Sinnvollen verbinden. Ganz offensichtlich ein Trugschluss.
Kaisa starrte aus dem Busfenster.
Ich betrachtete sie, ihr kurzes, rötlich gefärbtes Haar, die zierliche Nase, die aparten Wangenknochen, ihren Hals. Sie war wunderschön.
Als sie meinen Blick spürte, versteckte sie ihren Hals unter ihrem Schal.
«Du wusstest also nichts von dieser Schweige-WM», bemühte ich mich noch einmal um ein Gespräch, «obwohl ihre Live-Übertragung populärer ist als jede Reality-TV- und jede Casting-Show?»
«Sie ist im Norden populär», präzisierte Kaisa. «Nur im Norden. Das ist ein großer Unterschied.»
Für den Rest der Fahrt hüllte sie sich in Schweigen.
Schwerfällig stand er auf. Der Blick auf den Ämterplan zeigte, dass er heute dran war mit Spülen. Das störte ihn nicht. Im Gegenteil. Es war Zeitvertreib. Mindestens eine halbe Stunde Ablenkung; keine Versuchung, etwas zu sagen. Die Tage werden lang, wenn man schweigt. Es ist ein Unterschied, fand er, ob man einfach so schweigt, freiwillig, oder ob man schweigen muss.
Tero und Anu verließen die Küche. Nur Pirjo saß noch am Tisch. Er hörte, wie sie sich eine weitere Tasse Kaffee einschenkte. Zucker. Milch. Der Löffel klirrte in der Tasse.
Viel zu lang rührt sie ihn, ihren Kaffee, viel zu lang. Es klingt gedankenverloren. Oder gelangweilt. Woran denkt sie wohl?
Die Wanduhr tickte. Der Kühlschrank brummte. Nun legt sie vermutlich ihre Hände um die Tasse, wie sie das oft tut.
Er drehte den Wasserhahn auf; das Wasser rauschte ins Spülbecken. Er spürte Pirjos Blick in seinem Rücken. Er drehte sich nicht um. Es reichte ihm aus, ihren Blick zu spüren.
Dölf und Ueli vom Außendienst hatten ihn angemeldet. Ein Scherz. Das war ihr Geburtstagsgeschenk gewesen. 57 war er geworden, im letzten September. Er sei zwar ein guter Freund, hatte der Dölf gesagt, aber seit dem Tod seiner Erika öffne er kaum mehr den Mund. Deshalb schicken wir dich nun zur Schweige-WM nach Finnland. Zur Kur. Und alle hatten gelacht, auch er.
Tasse um Tasse spülte er, langsam und gründlich. 13 Tassen waren übrig. Vor 25 Tagen waren es noch 33. Sollte er nun den Tisch abräumen? Besser nicht. Noch saß Pirjo da, und am liebsten vermied er es, ihr allein gegenüberzustehen. In diesen Momenten fiel ihm das Schweigen besonders schwer.
Wie erstaunt sie gewesen waren, Dölf und Ueli und die anderen, als er tatsächlich Ferien ab dem 16. Dezember eingegeben, vier Wochen plus die Überstunden, und den Flug nach Helsinki gebucht hatte. Als er dann gefahren war, mit dem Zug nach Zürich und dem Flugzeug nach Helsinki, dann im Nachtzug nach Rovaniemi und im Bus nach Sodankylä, war auch er überrascht gewesen über seine Reise. Von Finnland hatte er nicht viel gesehen, es war immer dunkel. Die Schweige-WM begann am Tag vor der Polarnacht in Sodankylä; die Sonne schaffte es eine Woche lang nicht über den Horizont, die Nacht war endlos.
Stühlerücken. Pirjo stand auf. Sie legte ihre Tasse zu den anderen, eine Weile stand sie neben ihm, er spülte weiter, mechanisch, als erwartete er etwas, doch sie verließ die Küche. Die Tür fiel ins Schloss. Er war allein. Er seufzte. Seufzen war erlaubt.
Die Pressefrau am Empfang strahlte mich an, mit grünblauen Augen, deren Leuchtkraft mir den Atem verschlug. Internationale Presse sah sie selten. Mehr als eine launige Meldung, hatte mir Brigitte nach ihren Recherchen gemailt, sei die alle zwei Jahre stattfindende Schweige-WM den Nordeuropa-Korrespondenten nie wert. Dass ein ausländischer Berichterstatter persönlich in Sodankylä...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.