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Die SS-Division »Das Reich« war bereits seit fünf Tagen in Sucharki und erholte sich nur mühsam von den Wochen an der Front von Stalingrad, von wo der väterlich um sie besorgte Führer sie schließlich abgezogen hatte.
Dies war der erste Gefechtseinsatz der Division gewesen. Nur ungern hatte das Oberste Kommando die Eliteeinheit in die mörderische Schlacht geschickt; normalerweise operierten sie hinter der Front in den besetzten Gebieten, wo sie für besonders heikle Sondereinsätze vorgesehen waren, deren Durchführung den regulären Einheiten des deutschen Heeres mitunter widerstrebte.
Vierundzwanzig Stunden nach dem Einrücken der Division in Sucharki fuhren im grauen Morgendunst, wo sich die nackten Zweige der Bäume, Glockentürme und Dächer eine rauch- und stimmlose Starre mit dem Himmel teilten, zwei Lastwagen der SS mit hoher Geschwindigkeit durchs Dorf.
Es gab kaum Gegenwehr: Fast alle noch einsatzfähigen Männer hatten sich dem Widerstand angeschlossen.
Ein paar gellende Schreie, ein paar Schüsse, der Lärm zerschlagener Fensterscheiben und eingetretener Türen, und schon fuhren die Lastwagen so schnell, wie sie gekommen waren, wieder ab und nahmen auf der Ladefläche an die zwanzig verängstigte junge Frauen mit zur Sommerresidenz der Grafen Pulacki, drei Kilometer südlich von Sucharki an der Straße nach Grodno.
Schon mehrmals hatte die Division »Das Reich« in den besetzten Gebieten zu dieser Kriegslist gegriffen, fast immer mit Erfolg. Nach dem historischen Wort des Gauleiters Koch, der sie sich ausgedacht hatte, war dies ein geniales Manöver, um »das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden«, und es zeugte außerdem von einer »hohen, ja idealistischen Auffassung« der menschlichen Natur.2
Und tatsächlich kamen die Partisanen, sobald sie erfuhren, dass ihre Töchter, Schwestern, Ehefrauen und Bräute den deutschen Soldaten zu deren Vergnügen ausgeliefert waren, aus dem Wald und ließen sich durch die verzweifelten Bemühungen ihrer Anführer nicht davon abhalten, ihren Frauen zu Hilfe zu eilen, und genau das war es, worauf der Feind spekulierte: Man musste nur in aller Ruhe hinter dem Maschinengewehr eine Zigarette rauchen und abwarten, bis die zum Äußersten entschlossenen Männer zum Angriff stürmten und dabei unmittelbar in die Schusslinie liefen, wo alles zu ihrem Empfang bereitet war. Der Plan hatte allenthalben gute Ergebnisse gezeigt, bei den Polen aber, mit ihrem ausgeprägten männlichen Stolz, war die List so gut wie unfehlbar.
Die Villa der Grafen Pulacki war Ende des 19. Jahrhunderts von einem französischen Architekten erbaut worden, der sich ganz offensichtlich vom Trianon hatte inspirieren lassen. Es war ein Sommerpalast, eine sogenannte »Folie«, mit Empfangssalons, einem Theater, Fresken und Holzvertäfelungen. Während der Kämpfe von 1939 war die Villa kaum beschädigt worden, doch Verwahrlosung und Plünderungen hatten das Ihrige getan. Fast alle Fensterscheiben waren zerschlagen, und seit einige »Pensionsgäste« versucht hatten, sich mit Glasscherben die Pulsadern aufzuschneiden, sah man sich gezwungen, drinnen Wachen aufzustellen. Die Frauen, die dort festgehalten wurden, waren so abgestumpft von der Kälte und Nässe, dass sie kaum noch etwas von ihrem Elend spürten. Doch schon zwei Tage nach Beginn der Operation »Hungrige Wölfe«3 - unter diesem Namen war das Unternehmen im Einsatzplan der Division vermerkt - gelang es einigen Familienangehörigen, die Wachen zu bestechen und den jungen Frauen ein paar warme Kleider und Decken zukommen zu lassen.
Ein Park im französischen Stil umgab das Lustschloss und erstreckte sich bis zum Waldrand. In den künstlich angelegten Teichen moderten Laub und Äste auf dem Betonboden vor sich hin, dazwischen ragten rostige Rohre; Cupido, Venus und eine Vielzahl anderer Marmorstatuen im Stil der Jahrhundertwende säumten die Alleen. Tag und Nacht standen Soldaten in den erlesenen Pavillons und hielten Wache an Orten, wo sich früher einmal die Gäste der Grafen Pulacki auf ein Rendezvous eingefunden hatten, wo sie im Mondschein geträumt, das Feuerwerk bewundert oder zerstreut den Aufführungen im Freilufttheater zugesehen hatten und wo nun ein Nest aus Maschinengewehren errichtet worden war.
Die SS hatte im Schloss einen Ofen aufgestellt, aber es war nie genug Kohle da, um die riesigen Räume ordentlich zu heizen; nur im großen Ballsaal mit seinen üppigen blaugoldenen Holzverzierungen, den Engeln und Göttinnen, die im Tiepolo-Stil die Decke schmückten, war es etwas wärmer. In diesem Saal hielten sich die Frauen auf, wenn die Soldaten kamen, um ihre Auswahl zu treffen. An die dreihundert Soldaten hatten dem Ort innerhalb der ersten achtundvierzig Stunden bereits ihren Besuch abgestattet.
Am frühen Morgen des zweiten Tages kam eine Gruppe von zwölf Partisanen aus dem Wald gerannt und lief schießend in einer Reihe durch den Park; sie richteten nicht den geringsten Schaden an und wurden von den Maschinengewehren niedergemäht; dabei verloren sie sechs Männer, ehe sie sich zurückziehen konnten.
Nach diesem Zwischenfall hatte die SS, erfreut über den neuerlichen Erfolg der Operation »Hungrige Wölfe«, einen Ofen im Ballsaal aufgestellt und eine Feldküche herbeigeschafft, um den »Pensionsgästen« etwas warmes Essen zu spendieren.
Ein sehr blondes Mädchen von höchstens sechzehn Jahren ging mit der Zigarette im Mundwinkel unaufhörlich von einer Frau zur nächsten und versuchte all jene zu trösten, die sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden konnten und es einfach nicht fertigbrachten, sich an die Umstände anzupassen. Sie hatte ein schmales, blasses Gesicht voller Sommersprossen und war ziemlich hübsch, trotz der zu stark bemalten Lippen und der übermäßig gepuderten Wangen. In Sucharki hatte man das Mädchen noch nie gesehen; sie erklärte, die Soldaten hätten sie in Vilnius aufgelesen, ihre Eltern seien getötet worden, und seit einem Jahr »ginge sie mit den Soldaten«, wie sie selbst es ausdrückte. Sie trug eine Baskenmütze und einen viel zu großen Militärmantel; ihre schwarzen Wollstrümpfe, von Gummibändern gehalten, rutschten ständig herunter und fielen ihr auf die Knöchel; dann hob sie, anstatt sich zu bücken, mit einer kindlichen Geste das Knie, um die Strümpfe wieder hochzuziehen.
Jedes Mal wenn eine der Frauen hysterisch wurde und zu schreien anfing, eilte sie zu ihr, nahm ihre Hand und redete ihr gut zu:
»Bitte! So schlimm ist es doch gar nicht. Es ist überhaupt nicht wichtig. Man darf einfach nicht darüber nachdenken, dann macht es einem auch nichts aus. Es ist nur schlimm, wenn man anfängt, sich Gedanken zu machen.«
Mit besonderer Hingabe kümmerte sie sich um eine schöne junge Frau von etwa dreißig Jahren mit leicht angegrautem Haar, deren starrer Blick aus den großen schwarzen Augen zeigte, dass sie kurz davor war, den Verstand zu verlieren - sie war die Frau eines Arztes aus Sucharki, die Frau von Doktor Twardowski. Die Kleine ging häufig zu ihr, kniete sich neben ihr auf den Boden, streichelte ihr die Hand, strich ihr übers Haar und sagte:
»Man darf nicht darüber nachdenken, wirklich. Sie werden uns schon nicht die ganze Zeit hierbehalten. Bald lassen sie uns gehen. Bald ist es vorbei, Sie werden sehen.«
Es gab keine Möbel in der Villa. Die Frauen schliefen mit Strohmatratzen auf dem Fußboden. Ein paar Ahnenportraits der Grafen Pulacki hingen noch an den Wänden. Die Bilder waren sämtlich aufgeschlitzt oder von verirrten Kugeln durchlöchert, darauf in blaue Seide gekleidete Höflinge mit ordengeschmückter Brust und würdiger Miene unter ihren weißen Perücken, die Damen mit prächtigem Schmuck behängt oder mit einem gelockten Hündchen auf dem Schoß.
Wenn einer der Soldaten das blonde Mädchen - sie hieß Zosia - auswählte, drückte sie sorgfältig ihre Zigarette aus, legte sie aufs Fensterbrett und ging mit nach oben. Wenn sie zurückkam, holte sie sich die Zigarette und zündete sie wieder an. Es schien, als sei ihre Zigarette ihr viel wichtiger als alles, was dort oben mit ihr geschah. Sie gab sich den Anschein, als sei gar nichts passiert, als hätte all das wahrhaftig keine große Bedeutung.
Sobald sie unter den Besuchern einen Offizier erblickte, stürzte sie auf ihn zu, zog ihn zur Seite und verlangte mit weinerlich schriller Stimme Kohlen, mehr Essen, heißes Wasser, Zigaretten und Seife. Dabei klammerte sie sich wie ein Äffchen an ihn und bekam am Ende fast immer, was sie wollte. Danach beruhigte sie sich augenblicklich, lächelte zufrieden und zog los, ihren Gefährtinnen die gute Nachricht zu überbringen.
»Mit den Deutschen ist das ganz einfach. Wenn man von denen etwas haben will, wenn ihr sie beeindrucken wollt, dann müsst ihr einfach sagen: >Schmutzig, schmutzig<, denn Schmutz ertragen sie am allerwenigsten. Mit dem Wort könnt ihr alles von ihnen haben.«
Die SS-Leute hatten drei Panzerwagen im Park postiert, mit Blick auf den Waldrand. Dort harrten sie hinter ihren Waffen aus, warteten geduldig und kletterten nur ab und zu vom Wagen, um sich an einer der offenen Feuerstellen zu wärmen. Immer wieder kamen Partisanengruppen aus dem Wald und eröffneten das Feuer. Fast alle wurden nach kurzem Schusswechsel getötet. Aber es folgten regelmäßig welche nach, oft nur zu dritt oder zu viert, und fast immer waren es Ehemänner, Väter oder Verlobte.
Am vierten Tag erschien ein hochgewachsener, mit einem gutgeschnittenen Überzieher bekleideter Mann mit Filzhut und einem warmen Schal um den Hals; er trug einen Zwicker...
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