Schweitzer Fachinformationen
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Ich stieg Green Park aus und ging zu Fuß weiter. Was für eine Erleichterung, wieder über der Erde zu sein. Wenn ich Richtung Piccadilly Circus lief, links in die Sackville Street und quer durch Soho, hatte ich zwischen U-Bahn-Station und Theater fünfzehn Minuten frische Luft.
Vom Ritz bis zur Regent Street kam ich an vier berühmten Gebäuden vorbei, in denen ich noch nie gewesen war. In halb so viele war ich in diesem Land bisher eingeladen worden. Zwei in zwölf Monaten. Eine After-Show-Party in der Wohnung eines Schauspielers und ein Reihenhaus in Surbiton, in dem ein Cousin meines Vaters mit seiner Frau lebte. Nicht meine Idee. Drei Stunden hatte ich gebraucht, um dorthin zu kommen, nur um mich dann mit guten Ratschlägen bombardieren zu lassen, wie ich mein Leben zu leben hätte. Genau wegen solcher Leute hatte ich Irland verlassen. Beide reagierten pikiert, als ich ihnen erzählte, dass meine jetzigen Vermieter Muslime waren und ich mich prächtig mit ihnen verstand, viel besser als mit deren Pendant in Dublin. Ich lud sie nicht zu mir ein, um Mr. und Mrs. Hanif kennenzulernen. Hatte ich bisher überhaupt jemanden nach Kingsbury eingeladen? Nein, hatte ich nicht.
In der Brewer Street war es weniger hektisch, Taxis im Schneckentempo, Lieferwagen am Straßenrand. Eine Mutter mit einem kleinen Kind in Schuluniform kam mir auf dem schmalen Bürgersteig entgegen. Die gleichen Augen, die gleiche Haarfarbe. Sie hielten sich an den Händen. Als ich zur Schule ging, musste meine Mutter mich mit Süßigkeiten oder einem Ausflug zur Pferdeweide locken. Sobald sie erwähnte, wohin es wirklich ging, bekam ich Bauchschmerzen, und beim Anblick des Schultors erstarrte ich. Ich trat zur Seite, um die beiden vorbeizulassen. In einiger Entfernung saß eine Elster auf einer Werbetafel und fixierte mich dreist wie ein Leopard. Ich wollte sie mit meiner Einsamkeit füttern. Damit der hungrige Vogel sie auffraß.
Ich blieb erst wieder stehen, als ich die gegenüberliegende Straßenseite des St.-Leonard-Theaters erreicht hatte, und wartete auf eine Lücke im Verkehr. Das Tageslicht war grausam zu diesem Ort. Ohne die Dunkelheit als Hintergrund gab es keine Leuchtreklame, keine Lauflichter über dem Vordach, nichts, was die Aufmerksamkeit von Kaugummiresten und Zigarettenstummeln auf den Granitstufen ablenkte. Onkel Wanja und seine Rosen auf den Plakaten sahen blutleer aus. Die Wände hinter den Glastüren waren vergilbt und schmuddelig und warteten auf das weichere Licht der Kronleuchter. Abend für Abend liefen siebenhundertvierundneunzig Paar Schuhe über den roten Teppich, der abends so glamourös wirkte wie tagsüber schäbig. Anyas akkurate Staubsaugerlinien, die die Flecken im Foyer kaschierten, wurden vom Theaterpersonal wieder plattgetreten. Sie musste gerade mit den Waschbecken und Duschen für die Schauspieler durch sein, als ich Mr. Henderson am Bühneneingang grüßte, die Garderobenschlüssel entgegennahm und mich für die erste Hälfte meiner Doppelschicht eintrug. Eingesperrt für die nächsten vier Stunden. Ich ging an den Kulissen vorbei, an der Gemeinschaftsküche, dem Aufenthaltsraum mit seinen bunt zusammengewürfelten Möbeln aus früheren Produktionen - manchen fehlten Gliedmaßen, andere fielen nach monatelanger Misshandlung auseinander - und stieg die Hintertreppe zur Kostümabteilung hinauf, ganz nach oben, wo die Temperatur einem tropischen Gewächshaus glich. Die Dachluke war geschlossen, aus Angst, die Tauben könnten alles vollscheißen.
Binnen einer Stunde hatte ich eine Nähmaschinennadel in einen Reißverschluss eingeklemmt, einen Hosenboden ruiniert und entdeckt, dass eines von Wanjas weißen Hemden in der gestrigen Wäsche zerfetzt worden war. Lass alles stehen und liegen. Verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken. Der Impuls hielt nicht länger als eine Seifenblase. So mutig war ich nicht. Um mich zu beruhigen, stieß ich den Notausgang zur Feuertreppe auf und machte eine frühe Teepause.
Draußen auf der Stahlplattform, fünf Stockwerke hoch, wehte eine steife Brise. Ich verspürte den Drang, mich übers Geländer zu stürzen, also schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf die tulpenförmige Tasse in meiner Hand. Die Wärme an meinen Handflächen half. Ich hob mein Gesicht zur Sonne und stellte mir vor, zu Hause am Meer zu sein. Die Möwen, die ich hörte, rissen keine Müllsäcke auf, sie fischten im Kanal, und am Straßenrand wuchsen Schlüsselblumen. Anya musste jetzt wieder im Foyer sein und polierte die Türschilder, fast fertig. Als ich die Tasse an meine Lippen setzte, roch ich Urin an meinen Fingern. Von der Nadelstreifenhose. Reißverschlüsse an maßgeschneiderten Hosen zu reparieren, war die zeitraubendste und schlimmste Arbeit, die es gab. Wollte ich nicht weinen, weil ich die schmutzige Wäsche fremder Leute anfassen musste? Die versteckten Lagen auftrennen und wieder zusammenflicken? Vor gar nicht langer Zeit hätte ich das getan, aber nach drei Monaten am St. Leonard wollte ich den Tee trinken, solange er noch heiß war. Ich lockerte den Griff um die Tasse und rührte mich nicht von der Stelle. Niemand hatte mich gezwungen, diesen Job anzunehmen. Das Streifenshirt, das ich gestern getragen hatte. Was hatte Margaret gesagt? »Senkrechte Streifen für die Bourgeoisie, waagerechte Streifen fürs Proletariat.« Mach Wäsche fertig. Näh weiter. Das Bündchen einer Feinstrickjacke mit Stickereien war hinten aufgerissen. Eine perfekte Fünfzigerjahre-Replik. An einer Türklinke hängen geblieben, als Jelena mit Wanja um die Pistole rang. Am Ende der Szene beim Ausziehen erneut hängen geblieben an einem falschen Diamantring. Mit einer Lupe und gebeugtem Rücken würde ich dasitzen, winzige Doppelstiche nähen und sie verfluchen, weil sie dunkelgrün war und nicht hellblau, und Sonja Alexandrowna würde heute Abend Doktor Michail Astrow dieselbe Frage stellen, die sie ihm jeden Abend stellte: »Warum zerstörst du dich selbst?« Ich weiß es nicht, Sonja, ich weiß es nicht.
Ich öffnete die Augen und starrte auf das gegenüberliegende Gebäude. Ein rotes Backsteinpuzzle mit einem Fenster im grauen Ziegeldach und einem verblichenen Union Jack an einer Antenne. Die Namen einiger Bewohner standen handgeschrieben an der Gegensprechanlage auf Straßenniveau. Im vierten Stock befand sich ein Verlag. Die Wände von Bücherregalen gesäumt, an jedem Schreibtisch ein Hinterkopf. Ich spähte oft hinein, in der Hoffnung, etwas Interessantes zu sehen: ein kleines Drama, ein bekanntes Gesicht. Eine Frau ging umher und verteilte DIN-A4-Blätter und diverse Umschläge.
Auf dem Display meines Handys blinkte eine neue Sprachnachricht. Wahrscheinlich eine, die ich nicht hören wollte. Meine Mutter war die Einzige, die Sprachnachrichten hinterließ, um mich zu erinnern, dass ich eine Mutter hatte und sie öfter anrufen sollte. Warum ich das nicht tat? Als ich letzten Herbst erwähnte, dass ich ein paar Tage freihatte, bekam ich prompt eine Sprachnachricht, die mich darüber informierte, dass sie am Flughafen Stansted auf mich wartete. Ich fand sie in der Ankunftshalle. Sie hatte seit dem Vorabend nichts gegessen. Wir bestellten schreckliche Sandwiches in einem schrecklichen Flughafencafé, und als ich Tickets für den Zug kaufen wollte, fiel mir auf, dass sie ihr Gepäck vergessen hatte. Sie meinte, es sei nicht ihre Schuld, sie dachte, ich hätte es. Entweder war es konfisziert oder gestohlen worden, wir haben es nie erfahren. Hatte sie noch nie von 9/11 gehört? Ich kochte vor Wut. Sie zuckte die Schultern. Warum war ich nur so? Drei Tage lang ließ ich mich nicht von ihr anfassen, wich aus, sobald sie sich näherte.
»Du willst mich nicht hier haben«, sagte sie.
Ich konnte weder Ja noch Nein sagen.
Hinter mir entstand ein Luftzug, als die Tür am Ende des Flurs zugeschlagen wurde. Man hörte harte, mit winzigen Nägeln befestigte Absätze auf dem Linoleum, gefolgt von schwereren Schritten und einem klirrenden Schlüsselbund.
»Wessen Vater hat das nicht?«
Die Stimme ganz nah.
»Es ist immer dieselbe, die Theater macht.« Margaret. Die wartete, bis Lloyd, der Hausmeister des Theaters, wieder zu Atem gekommen war. In der einen Hand hielt er einen Werkzeugkasten, mit der anderen tätschelte er die alte Waschmaschine.
»Robustes altes Mädchen. Hat länger überlebt als meine Ehe.« Er sog die Luft durch die Zähne ein. »Könnte das Kugellager sein oder der Riemen oder vielleicht der Motor. Wir haben wahrscheinlich fast jedes Teil nach und nach ersetzt, aber sie läuft immer noch.«
Ich trat das Bühnengewicht weg, das die Tür zur Feuertreppe aufhielt, und wollte, dass sie zuknallte, statt leise ins Schloss zu fallen, weil ich genervt war. Eine Hand in der Hüfte, wartete ich auf den Knall, der nicht kam. Margaret beobachtete mich. Ich stellte die Tasse ab und sprach zu laut.
»Nur, dass sie das nicht tut. Sie hat heute früh ein Hemd zerfetzt.«
Zwei Tage in Folge. Gestern Astrows Socken. Heute Wanjas Hemd. Ich ging zum Tisch und hielt den Beweis in die Höhe, der mich zwang, etwas in der gleichen Größe, im gleichen Stil zu suchen, und es dann so zu gestalten, als würde es jemandem gehören. Eine Figur, die in Verzweiflung versinkt, brauchte ausgefranste Manschetten. Eine Ladung Unterwäsche und Handtücher in der zweiten Maschine war fertig, aber ich hatte sie noch nicht geleert. Oder die Feinwäsche sortiert: Bügel-BHs, Longline-BHs, Slips und...
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