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JAKE
Heute ist Donnerstag. Nachdem ich vor zwei Tagen in der Uni dieses Mädchen angerempelt hatte, geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen, sie wäre mir definitiv aufgefallen.
"Verdammt, tut das weh", jammert Jimmy, der vor mir auf dem Stuhl sitzt. "Halt die Klappe, Mann. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du so jammerst", entgegne ich und konzentriere mich weiter auf die Linien vor mir. "Jammern? Mein Rücken steht in Flammen, Jake. Du hast ja keine Ahnung. Du bist nur der Tätowierer", brummt er, was mir ein Lachen entlockt.
"Stimmt, die Tattoos auf meinen Armen sind dahin gezaubert worden. Wie konnte ich das nur vergessen", grinse ich, während ich weiter die blauen Linien nachfahre. Jimmy brummt nur etwas Unverständliches vor sich hin, hält aber den Mund und lässt mich meine Arbeit machen. Nach meiner Ausbildung habe ich dieses Studio hier eröffnet, um mich über Wasser zu halten. Meine Studiengebühren zahlen sich leider nicht von selbst.
"Du hast es gleich geschafft, es dauert nicht mehr lange", versuche ich ihn zu ermutigen. Er nickt vorsichtig und atmet tief durch. Ein bisschen lustig ist es ja schon.
"Bitte, nimm noch einen Augenblick hier Platz. Ich frage Jake eben, ob er gleich Zeit hat", höre ich Warren vorne sagen, bevor er nach hinten kommt.
"Neue Kundschaft?", frage ich, ohne den Blick von Jimmys Rücken abzuwenden. "Ja, sie hat keinen Termin. Eine spontane Aktion. Hast du Zeit?", fragt er und begrüßt Jimmy dann kurz. Kurz überlege ich. "Ja, ich denke, das lässt sich einrichten. Der nächste Termin ist erst in zwei Stunden", antworte ich ihm, und er verschwindet wieder. Warren ist mein kleiner Bruder. Mittlerweile haben wir einen guten Draht zueinander, aber das war nicht immer so. Ich steche die letzte Linie von Jimmys Totenkopf und tupfe es danach ab. "Du hast es geschafft, Jimmy", lobe ich ihn und klopfe ihm auf die Schulter.
Erleichtert atmet er durch und steht auf. "Ich spüre meinen Körper nicht mehr, alles ist taub, Mann", sagt er und lässt seine Gelenke knacken. Auch an mir geht so eine lange Sitzung nicht spurlos vorbei. Ich rolle mit meinem Stuhl nach hinten und reiche ihm eine Tube.
"Hier, das musst du am besten abends auftragen. Beugt Entzündungen und so vor", erkläre ich ihm, aber er hört mir nur mit halbem Ohr zu, denn er bewundert sein neues Rückentattoo im Spiegel.
"Das ist der Hammer", grinst er und schlägt mit mir ein. Ich grinse ebenfalls und scheuche ihn dann davon, damit ich hier hinten sauber machen kann. Jimmy kenne ich von der Uni. Er ist ein ganz netter Kerl, kann aber manchmal etwas aufdringlich wirken. Ich ziehe mir die schwarzen Handschuhe aus und gehe nach vorne in den Eingangsbereich. Warren steht hinter dem Tresen, und in dem Wartebereich sitzt ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter.
Als ich näher komme, erkenne ich sie. Und ich hätte nicht erwartet, ausgerechnet sie hier zu sehen.
"Hey, ich bin Jake. Mir gehört das Studio hier. Meinen Bruder Warren hast du ja schon kennengelernt", begrüße ich sie und halte ihr meine Hand entgegen. Man kann ihr die Überraschung deutlich ansehen, aber sie versucht es zu verstecken.
"Ich bin Emily", sagt sie und schüttelt meine Hand. Ihre Hand ist klein und warm und passt perfekt in meine. Viel zu schnell entzieht sie mir ihre Hand wieder.
"Gut, dann ein mal hier entlang bitte", ich deute mit dem Kopf in Richtung des Raumes, aus dem ich gekommen bin und folge ihr dann. Sie lässt sich auf dem Stuhl nieder und sieht sich um. Ihre Füße baumeln in der Luft, so klein ist sie. Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. Ich lasse mich vor ihr auf meinem Drehstuhl nieder und mustere sie.
Ihre braunen Haare gehen ihr bis über die Schulter und umrahmen ihr Gesicht perfekt. Ihre Augen schimmern in einem tiefen Grau Blau. Und links über ihren vollen Lippen hat sie ein kleines Muttermal. Sie ist wirklich sehr hübsch. "Was kann ich für dich tun, Emily?", frage ich sie und ziehe mir ein neues Paar Handschuhe an.
"Ehrlich gesagt, habe ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht. Es soll etwas von Bedeutung sein", erzählt sie. Ich überlege, während sie mich ansieht.
"Erzähl mir etwas von dir. Es muss nichts großes sein, aber etwas, das mit dem Tattoo zu tun hat, wäre gut. Vielleicht kann ich dir dann helfen", schlage ich vor. Ich studiere ihre Gesichtszüge und merke, wie sie sich versteifen. Es fällt ihr offensichtlich schwer, darüber zu reden. Sie fängt an, mit ihren Händen in ihrem Schoß zu spielen und lässt ihre Füße baumeln.
"Ich habe jemanden verloren, der mir sehr wichtig war. Er hatte Krebs. Er ist nicht daran gestorben. Er ist aus dem Fenster gesprungen, um Erlösung zu finden. Seine Chancen auf Heilung standen nicht besonders gut. Am Montag habe ich eine Liste gefunden, die er für mich geschrieben hat. Mit lauter Dingen, die ich machen soll. Unter anderem, mir ein Tattoo stechen lassen. Ich hätte gerne eins, das mich mit ihm verbindet", gibt sie schließlich von sich. Jetzt muss ich mich beherrschen, meine Gesichtszüge nicht entgleisen zu lassen.
Als Tätowierer bin ich es gewohnt, dass meine Kunden mir eine persönliche Geschichte erzählen. Aber im Normalfall kenne ich meine Kunden auch nicht. Ihre Geschichte berührt mich. Ich frage mich, wen sie wohl verloren hat, aber spreche den Gedanken nicht aus.
"Das tut mir leid", sage ich, weil es das erste ist, das mir einfällt. Und plötzlich kommt mir eine Idee.
"Wo möchtest du dein Tattoo?", frage ich sie.
"Ich habe überlegt im Nacken. Oder am Handgelenk", entgegnet sie.
"Am Nacken ist perfekt, wenn es in Ordnung ist?", es klingt mehr wie eine Frage, aber sie nickt. Ich hole meinen Block und fange an zu zeichnen. Sie sieht mir interessiert dabei zu, wie ich eine Linie nach der anderen auf das Blatt male. Als ich fertig bin, höre ich sie scharf die Luft einziehen. Sie ist mir während des Zeichnens etwas näher gekommen, und ich rieche ihren Duft. Sie riecht nach Vanille und etwas Honig.
"Gefällt es dir?", unsicher reiche ich ihr das Papier. Ich weiß nicht, warum ich so unsicher bin, sonst bin ich es auch nicht. Vielleicht liegt es daran, dass sie mich ein klein wenig nervös macht.
"Das ist wunderschön. Du hast echt Talent", antwortet sie. Dankend lächle ich sie an. Das Bild zeigt zwei Schwalben, die fliegen. Darunter ist ein kleines Semikolon, welches man von weiter weg kaum sieht. Ein Semikolon-Tattoo steht dafür, dass man etwas beenden konnte, es aber nicht getan hat.
Bei ihr ist das etwas anders, aber ich hatte das Gefühl, dass dieses Zeichen dieses Tattoo perfektionieren würde.
"Ich muss dich jetzt leider bitten, dein Shirt auszuziehen und dich mit dem Rücken zu mir auf den Stuhl zu setzen", lache ich und versuche so, meine Unsicherheit zu überspielen. Ein kleines, schüchternes Lächeln umspielt ihre Lippen, und sie zieht sich langsam das Shirt über den Kopf und bindet ihre Haare zu einem Zopf. Ich versuche nicht hinzusehen, doch es gelingt mir nicht ganz. Sie ist wirklich wunderschön. Ich fahre den Stuhl etwas zurück, so dass sie es bequem hat und lege dann die Vorlage auf ihren Nacken, bevor ich sie leicht festdrücke und dann abziehe. Auf ihrem Nacken sind jetzt die blauen Kugelschreiber Linien zu sehen, die ich gleich nachstechen werde.
"Ich will dich nicht anlügen, es wird weh tun. Wenn du eine Pause brauchst, sag mit bitte Bescheid", informiere ich sie. Sie gibt mir mit einem Nicken zu verstehen, dass sie verstanden hat und ich suche die Nadelgröße, die ich brauche. Dann bereite ich alles Weitere vor.
"Ich fange jetzt an", flüstere ich, als ich soweit bin. Auch jetzt nickt sie wieder. Als ich die Nadel ansetze, atmet sie laut aus, zuckt aber nicht einmal zusammen. Ich bewundere ihre Stärke. Immer wieder tupfe ich das Tattoo vorsichtig ab, bevor ich weiter steche. Sie ist wirklich tapfer. Nach fast einer Stunde ist das Tattoo fertig. Ich tupfe es ein letztes Mal ab und creme es ein, bevor ich sie erlöse.
"Hinter dir ist ein Spiegel, für den Fall, dass du es sehen möchtest", lächle ich und reiche ihr meine Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Dankend nimmt sie meine Hand an und stellt sich vor den Spiegel. Ein bisschen mühsam dreht sie sich so, dass sie ihr Tattoo sehen kann, während ich ihr dabei zusehe und nicht weiß, wohin mit mir.
Auf ihrem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Es ist ein echtes Lächeln, das sogar ihre Augen erreicht. Und ich kann nur wieder daran denken, wie schön sie ist.
"Vielen Dank, Jake. Du hast mir mit diesem Tattoo so sehr geholfen. Es ist wirklich wunderschön. Ich kann dir gar nicht genug danken", freut sie sich, und ehe ich mich versehe, hat sie mich in den Arm genommen.
Etwas benebelt von der plötzlichen Geste und ihrem Geruch umarme ich sie einfach zurück. Ganz davon abgesehen, dass sie ihr Shirt noch nicht wieder angezogen hat. Ich weiß nicht, wie lange wir so dastehen, aber Warren unterbricht unsere Umarmung. In diesem Moment würde ich meinen Bruder am liebsten auf den Mond schießen.
"Jake, dein neuer Termin ist da", ruft er mir zu, woraufhin Emily sich von mir...