Schweitzer Fachinformationen
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Miami, 2014: Jeanette kämpft jeden Tag gegen ihre Drogenabhängigkeit und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als ihre Nachbarin Gloria von der Einwanderungspolizei abgeführt wird, hat das für sie, selbst Tochter einer kubanischen Migrantin, ungeahnte Konsequenzen. Denn kurz darauf steht Glorias kleine Tochter Ana vor dem verlassenen Haus. Jeanette nimmt das Kind zu sich. Doch es ist ihr unmöglich, Gloria im System der Behörden wiederzufinden. Tief beschämt ruft sie die Polizei und versteckt sich im Schlafzimmer, als Ana abgeholt wird.
Gabriela Garcia entfaltet eine Geschichte starker Frauen über fünf Generationen hinweg, von den kubanischen Tabakfabriken im 19. Jahrhundert bis zu den amerikanischen Auffanglagern der Gegenwart. Mit großer Leichtigkeit und Poesie erzählt sie von Liebe und Verrat, von Müttern und Töchtern, die einander nicht aufgeben wollen. Von Frauen und Salz sucht nach Menschlichkeit in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.
Alles hält dich jetzt fest
Miami, 2014
Blaue und rote Blitze, die Discolichter an die Wand werfen, wecken sie; sie schaut aus dem Schlafzimmerfenster. Ein weißer Van mit einer offiziell wirkenden Plakette. Zwei Beamte in schwarzen Jacken mit reflektierenden Buchstaben darauf. Sie schrumpft hinter dem Vorhang. Nur ein Ausschnitt der Szene ist sichtbar, und die einzige Straßenlaterne, die noch brennt, verströmt ein kaltes Glimmen. Die Buchstaben auf den Jacken scheinen die Atmosphäre der Nacht wiederzugeben: ICE, die Einwanderungspolizei. Jeanette zieht den Bademantel fest um sich.
Ihre Nachbarin wird in Handschellen und Schlafanzug abgeführt. Auf ihrer Hose steht Minnie Maus auf Zehenspitzen, die Finger vor dem Gesicht, Herzen unterschiedlicher Größe explodieren um ihre Mäuseohren. Jeanette kennt sie nicht. Weiß nur, dass sie jeden Tag arbeitet, auch sonntags. Sie sieht sie immer im gleichen rosa Kittel aus dem Haus gehen, mit dem gleichen Wagen voll Putzutensilien. Jeanettes Atem schlägt sich in kleinen Dunstspiralen auf dem Fenster nieder. Die eine Agentin, eine Frau mit rotbraunen Locken, zieht ihre Jacke mit einer Hand fester um sich, während die andere die Kette hält, die die Handschellen der Frau verbindet.
Keine Schreie, keine Rufe, kein Gerangel. Die Agenten und die Nachbarin gehen schweigend zum Wagen, die Lichter blitzen noch immer wie das Feuerwerk am 4. Juli. Der Mann schiebt die Tür mit einem Knall zu. Das Brummen des Motors. Die Abgaswolke. Winzige Drähte durchziehen die Fenster, und Jeanette kann nicht in den Van hineinsehen, kann die Nachbarin nicht erkennen, als der Wagen an den dunklen Häusern vorbei die Straße entlangfährt, nach rechts abbiegt und verschwindet. Das Ganze dauert nur Minuten.
Jeanette versucht, wieder einzuschlafen, aber es gelingt ihr nicht. Sie verreibt Lavendelöl auf ihren Handgelenken, nimmt eine Tablette Melatonin. Liegt mit offenen Augen eine Stunde da.
Schließlich wählt sie die Nummer, drückt zuvor *67, um die Rufnummer zu unterdrücken. Mario meldet sich mit verschlafener Stimme. Mario meldet sich, weil sich Mario immer meldet, gleichgültig, wie spät in der Nacht es ist. Und sogar jetzt, nach sechs Monaten Trennung und sechs Monaten clean, muss Jeanette immer noch den Kloß im Hals herunterschlucken, während sie auf das Klicken, die vertraute Stimme wartet.
Sie sagt: »Ich vermisse dich.«
Keine Höflichkeit nötig, kein Heucheln. Nicht einmal ihren Namen muss sie nennen. Natürlich ist sie es. Ein Seufzen am anderen Ende der Leitung. Das Rascheln von Laken.
»Jeanette.«
»Hallo.«
»Das kann so nicht weitergehen.«
»Ich kann nicht schlafen.«
Ein Geräusch wie ein Klicken. Der Lichtschalter?
»Dieses Gingerale, das du magst«, sagt sie. »Das sie im Supermarkt in der Nähe von unserem alten Haus nicht mehr verkauft haben? Ich habe es heute gesehen, dort, wo ich einkaufe.«
»Wo kaufst du ein?«
»Du weißt, dass ich dir das nicht sagen kann.«
»Sag mir zumindest, ob du noch in Miami bist.«
Schweigen.
Ein Seufzer.
»Jeanette, wie lange sollen wir dieses Spiel noch spielen? Wenn du mir nicht sagen willst, wo du bist, rufst du dann nur an, damit mein Herz noch mehr bricht? Damit es noch härter für mich wird?«
Sie kann ihn vor sich sehen. Er schläft ohne Shirt, in Boxershorts. Sie kann sich die bedruckte Bettwäsche vorstellen, ihre Farbe, den Duft von frisch Gewaschenem. Den Stapel Bibliotheksbücher auf dem Nachttisch. Die Farbe der Wände. Sie haben sie gemeinsam ausgesucht: Eierschalen-Bayerische-Creme. Was liest er dieser Tage?
Er sagt: »Bist du okay?«
Sie sagt: »Ich bin okay.«
Sie dachte, sie würde ihn anrufen, um ihm von der Razzia zu erzählen, von der Nachbarin. Wie sich herausstellt, hat sie nichts dazu zu sagen. Was sich noch herausstellt: Entzug ist eine tägliche Übung, vor allem nachts. Sie denkt daran, wie ihr Nachttisch vor einem Jahr aussah: zerriebene OxyContins, Hustensirup mit Traubenaroma, damit sie die Nacht schmerzlos überstand. Eine Art Gebet. Sie zieht die Decke ans Kinn. Fragt sich, worum sie flüsternd beten würde, wenn sie eine Frau wäre, die betet.
Was sie über die Nachbarin weiß: wahrscheinlich in den Dreißigern, wahrscheinlich aus Zentralamerika, kommt jeden Abend zwischen sechs und sieben nach Hause. Ihre Haut ist von der Farbe verbrannten Zuckers, und sie hat pechschwarzes Haar. Ihr Gesicht ist immer perfekt geschminkt. Bogenförmige Augenbrauen. Dunkelbraune Lippen. Wimpern, die sich wie Blütenblätter nach oben biegen. Ledig? Jeanette hat sie nie mit jemandem gesehen, nicht einmal mit einer Freundin. Nur eine junge Tochter, die jeden Abend gegen acht vorbeigebracht wird. Was ist mit der Tochter? Sie hat bislang nicht an die Tochter gedacht. Die Frau am Steuer, die die Tochter absetzt, steigt nie aus. Das kleine Mädchen rennt jeden Abend zur Tür und klopft. Sie ist ungefähr sieben oder acht Jahre alt, schätzt Jeanette. Gelegentlich kreuzen sich ihre Wege, wenn sie und die Nachbarin gleichzeitig auf der Einfahrt sind. Sie sagen Hallo, die Tochter lächelt. Sie haben nie miteinander gesprochen. Jeanette ist siebenundzwanzig, und sie bemerkt Kinder kaum und denkt nicht weiter über sie nach.
Und jetzt, nach der Razzia, das Blutorange eines Miami-Morgens wie jeder andere. Selbstverständlich ist sie noch in Miami. Diese Straßen hat sie im Blut - pastellfarbene Mini-Mall-Vorstadt-Schandflecke, tropische Schnörkel in jeder sich dahinziehenden Sekunde, jeder Betonbungalow ein erfüllter amerikanischer Traum, gleichgültig, wie betrügerisch der Kredit ist. Kein anderer Ort ist ihr so sehr Zuhause wie dieser. Es ist ein weiterer Tag in einer Wohnung, die nicht so anders ist als die mit Mario, nur dass Mario nicht da ist.
Jeanette stellt den Laptop auf den Küchentisch neben dem Fenster. Von hier aus hat sie das Haus der Nachbarin im Blick. Den ganzen Tag sitzt sie mit Kopfhörern da und hört einem Psychiater zu, der Patienten anhand von Versicherungsnummer und Krankheiten definiert. Zwangsstörung. Hypomanie. Schizotypische Persönlichkeitsstörung in Kombination mit allgemeiner Soziophobie. Sie tippt wild, hält hin und wieder das Band an, um Schreibweisen und Abrechnungscodes in ihrem diagnostischen Handbuch zu überprüfen. Sie notiert sich, die neueste Auflage zu bestellen. Sie schiebt eine Healthy-and-Lean-Frikadelle mit Parmesan und Gemüsestiften in die Mikrowelle. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen, obwohl ihr Betreuer ihr geraten hat, aufzuhören, weil »Abhängigkeit von irgendeiner Substanz oder Droge das Rückfallrisiko erhöht«. Als ob nicht alle nach dem Entzug rauchen würden. Draußen: Es wird still, ein langsamer Dominoeffekt, die Autos fahren aus den Einfahrten, bis die Straße abgesehen von Jeanettes Wagen leer ist. Ein paar raschelnde Bäume. Hin und wieder eine Eidechse oder ein Vogel. Keine Spur von der Nachbarin. Kein Hinweis darauf, dass in der Nacht etwas passiert ist.
Am Abend ist Jeanette mit dem Transkribieren fertig und hat die Datei ihrer Zeitarbeitsagentur gemailt. Sie bereitet sich für das Abendessen vor, schaut im Gefrierschrank nach, summt eine Melodie aus der Hitparade, Rihanna oder Beyoncé oder Adele. Sie sieht einen Wagen vor dem Nachbarhaus vorfahren. Die Tochter der Nachbarin steigt aus, der Wagen wendet und fährt wieder davon. Jeanette denkt daran, hinauszulaufen und den Wagen aufzuhalten. Zu erklären, dass die Mutter des kleinen Mädchens nicht zu Hause ist. Doch sie erstarrt, als sie die Eventualitäten, Fragen, ihre Rolle in der Sache abwägt. Sie schaut aus dem Fenster. Das kleine Mädchen steht in lila Leggings und einem geblümten Polohemd vor der Tür des Nachbarhauses. Sie hält einen rosa Rucksack in beiden Händen. Starrt auf die Tür. Klopft. Starrt. Klopft noch einmal. Das Mädchen schaut sich um, und ihr Blick bleibt an Jeanettes Küchenfenster hängen. Sie sehen sich an.
Was kann sie tun? Das kalte Gras knackt unter ihren nackten Füßen. Hin und wieder weht eine Brise, lässt die Palmen rascheln. Das Mädchen blickt leicht amüsiert drein oder besorgt oder beides zugleich, als sich Jeanette ihm nähert und es in ihr Haus bittet. Das Mädchen scheint unsicher, runzelt die Stirn, als Jeanette sich vor es hinkniet.
»Nur bis wir deine Mom finden, okay? Weißt du, wo sie ist?«
»Nein.«
»Wer hat dich hergebracht?«
»Jesse.«
»Hast du Jesses Nummer?«
»Hast du die Nummer von deiner Mutter? Vielleicht von ihrem Handy?«
»Sie hat keins. Ich habe meine Nummer, meine Nummer zu Hause.«
»Können wir irgendjemand aus deiner Familie anrufen?«
»Nein, weil du ihre Nummer nicht weißt? Ihren Namen?«
»Eine Tante oder einen Onkel vielleicht? Eine Oma?«
»Sie sind in El Salvador.«
»Okay. Gut. Wir gehen rein. Ich mache dir was zu essen, und wir versuchen, deine Mom zu finden?«
Das Mädchen zögert, nimmt dann jedoch Jeanettes ausgestreckte Hand. Sie lässt sich von Jeanette ins Haus...
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