DOMESTIKATIONSGESCHICHTE UND HAUSTIERWERDUNG
Der Prozess der Domestikation (Haustierwerdung), also der Schaffung von Haustieren aus wilden Stammarten, ist in sehr unterschiedlicher Form definiert worden. Eine gute zusammenfassende Definition findet sich z.B. in dem Standardwerk von Herre und Röhrs, siehe Kasten.
DEFINITION: DOMESTIKATION
"Haustiere sind aus kleinen Individuengruppen von Wildarten hervorgegangene Bestände, die unter dem Einfluss des Menschen weitgehend in sexuelle Isolation von der Stammart gerieten, sich über Generationen den besonderen ökologischen Bedingungen eines Hausstandes anpassten und zu zahlenmäßig großen Beständen entwickelten. Die veränderte natürliche Auslese und weitergehende zielgerichtete Auslese durch Menschen, führte im Zusammenhang mit Umorganisationen und anderen Veränderungen in den Erbanlagen zu einer großen Manigfaltigkeit in Anatomie, Physiologie und Verhalten . dabei wurden Haustieren ihren wilden Stammarten immer unähnlicher." (Herre und Röhrs, 1990)
Ebenso haben Herre und Röhrs (1990) die Verhaltensänderungen im Domestikationsprozess zusammengefasst (Näheres siehe Gansloßer, in Lücker et al., 2005). Es wird zwar immer wieder betont, dass im Haustierstand keine echten Neuerwerbungen im Verhalten gegenüber den Wildarten auftreten, auch wenn erlernte Verhaltensweisen in beeindruckendem Maße durch Dressur erzeugt werden. Es gibt jedoch Befunde, die zu dieser Ansicht im Widerspruch stehen, etwa das Lachen bei Haushunden, das dem Wolf noch fehlt. Auffallend ist jedoch, dass bei Haustieren gegenüber wilden Stammformen die Gehirngröße stets reduziert ist, und zwar in viel stärkerem Umfang als bei in Gefangenschaft aufgezogenen Wildtieren. Bei Schweinen kann diese z.B. bis zu 34% betragen, besonders die Strukturen des limbischen Systems (als emotionales Gehirn bezeichnet), des Kleinhirns (im Zusammenhang mit Bewegungskoordination), aber auch die Großhirnrinde.
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Verhaltensänderungen in der Domestikation beziehen sich auf den Verlust vor allem solcher Verhaltenselemente, die mit komplexer Bewegungskoordination einhergehen. Kommunikationselemente werden undeutlicher, undifferenzierter, oft lebhafter, aber weniger geordnet. Es fehlen vor allem die leiseren Laute und die unauffälligeren optischen Signale (Mimikvergleich zwischen Wolf und Haushund).
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Andere Verhaltensbereiche werden übersteigert, treten häufiger oder intensiver oder unter Verlust jahresperiodischer Veränderungen auf.
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Verhaltensketten zerfallen, verschiedene Verhaltensbereich werden voneinander gelöst (Beutefangverhaltenskette bei verschiedenen Jagdhundrassen, siehe hier).
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Haustiere haben gegenüber ihren wilden Stammformen meist eine geringer ausgeprägte Tages- und Jahresaktivitätsperiodik, vor allem männliche Haustiere weisen geringere jahresperiodische Hormonschwankungen im Bereich des Testosterons auf.
Ein Verhaltensvergleich der physiologischen Werte von Wild- und Haustierformen, wie er z.B. von Künzel und Sachser (1997) an Wild- und Hausmeerschweinchen exemplarisch durchgeführt wurde, fand im aggressiven Bereich höhere Werte bei den Wild-, im soziopositiven höhere Werte bei den Hausmeerschweinchen. Das Cortisolsystem, das als passives Stresssystem bezeichnet wird, war bei Wildmeerschweinchen wesentlich empfindlicher, und im Bereich des Adrenalinsystems lag schon der Ruhewert der Hormonausschüttung bei den Wildformen höher. Adrenalin- und vor allem Noradrenalinausschüttung stiegen dann noch weiter signifikant stärker bei den Wildmeerschweinchen an, sobald eine geringfügige Belastung eintrat. Sollten diese Ergebnisse, wofür vieles spricht, auf andere Haustierformen übertragbar sein, so wäre dieses nicht nur ein Verständnis der besseren Anpassungsfähigkeit von Haustierformen an unterschiedliche Lebensformen. Es würde z.B. auch die hohe Erregbarkeit und vor allem auch die vergleichsweise hohe Stressanfälligkeit der rückgekreuzten Haushundrassen (Tschechischer Wolfshund, Saarlooswolfshund), oder gar der echten Wolfshybriden erklären.
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Die rückgekreuzten Haushundrassen zeigen oftmals vergleichsweise eine hohe Erregbarkeit und hohe Stressanfälligkeit.
ZOOLOGISCHE NOMENKLATUR
In der zoologischen Nomenklatur erhalten Haustiere den Namen ihrer wilden Stammform plus einen Zusatz. Hat der Begründer des zoologischen Systems (Carl von Linné) das Tier schon mal getrennt benannt, wird sein Name angehängt. Linné nannte den Hund Canis familiaris, daher heißt er heute Canis lupus forma (= f.) familiaris. Kannte Linné die Haustierform noch nicht, oder wusste er um die Artgleichheit wie etwa bei Kaninchen, so heißt die Haustierform heute forma domestica, z.B. die Laborratte Rattus norwegicus f. domestica. Wegen der oben genannten Besonderheit des Domestikationsvorgangs sind z.B. Arbeitselefanten keine Haustiere, denn es gibt keine abgegrenzte Gründerpopulation oder Zuchtwahl durch den Menschen. Auch die Frage, ob der Australische Dingo als Haustierform, als Unterart des Wolfs, oder vielleicht als eigenständige Form eines ursprünglichen Haushundes zu betrachten ist, wird von Systematikern immer wieder kontrovers diskutiert.
DOMESTIKATION DES HUNDES
In der jüngsten Vergangenheit haben neue, vor allem auch durch verbesserte methodische Möglichkeiten, gestützte Befunde die Diskussion über die Abstammung des Haushundes erneut hochkochen lassen (siehe Gansloßer und Kitchenham, 2019). Zum Verständnis dieser Diskussionen muss nochmals auf eine zoologische Grundgegebenheit zurückgegriffen werden: Die neuere Literatur spricht sehr häufig davon, dass der "Wolf" eben nicht der Vorfahr des Haushundes, sondern nur dessen nächster Verwandter wäre. Zoologisch ist diese Aussage nicht weiter erstaunlich. Eine heute lebende Art, Unterart oder andere zoologische (oder auch botanische) Gruppe, kann nicht gleichzeitig der Vorfahr einer anderen, heute ebenfalls noch lebenden Art oder Unterart sein. Haushunde sind, wie wir noch genauer sehen werden, vor einer sehr langen Zeit von einer Population damals lebender Wölfe abgespalten. In den nachfolgenden Zehntausenden von Jahren haben selbstverständlich beide, die Vorfahren der Haushunde und die "zurückgebliebenen" Wölfe, weitere evolutive Anpassungen und Weiterentwicklungen erlebt. Dementsprechend sind die heute lebenden Wölfe vielleicht mehr oder weniger gute Modelle für diejenigen Wölfe, aus denen damals aus Abspaltung die Haushundpopulation hervorgegangen ist. Die Vorfahren aber können sie deshalb nicht mehr sein. Dies ist keine Besonderheit der Hund-Wolf-Entstehung, sondern ein allgemeingültiges Prinzip der Artbildung und Artenentwicklung der Biologie.
DREI STUFEN DER DOMESTIKATION
Die meisten Hypothesen zur Domestikation, die zunächst von einem Urhund ausgehen, beschreiben drei aufeinanderfolgende Stufen:
Stufe 1 wird als Selbstdomestikation bezeichnet und steht für die Trennung einer eher territorialen Lebensweise der Vorfahrenwölfe hin zu einer eher an Wanderungsbewegungen und Auflösung der Territorialität orientierten Nähe zu den menschlichen Jägern und Sammlern. Die früher häufig geäußerte Vermutung, dass ein Steinzeitmensch mit Helfersyndrom verwaiste Wolfswelpen aufgezogen und dadurch die Begründung für eine Haushundpopulation gelegt hätte, ist wohl kaum in dieser Form nachvollziehbar.
Viel wahrscheinlicher sind die Überlegungen, die z.B. von dem amerikanischen Hundeforscher Ray Coppinger (Coppinger und Coppinger, 2001) und seiner Arbeitsgruppe angestellt wurden. Danach hatte sich eine Population von Kulturfolgerwölfen herausgebildet, die mehr und mehr in der Nähe menschlicher Lagerstätten und späterer menschlicher Siedlungen anzutreffen waren, und sich dort als Müllräumer betätigten. Molekulargenetische Untersuchungen zu Veränderungen im Verdauungstrakt (siehe hier) würden diese These unterstützen. Einige "Urwölfe" könnten also Gefallen daran gefunden haben, sich in der Nähe menschlicher Lagerstätten aufzuhalten und dort Abfall zu sammeln. Dadurch mussten sie das sesshafte Leben der Territorialität aufgeben und sich an der Seite der herumstreifenden menschlichen Jäger und Sammler fortbewegen. Somit war eine erste Trennung der Fortpflanzungsgemeinschaft von den anderen, territorial lebenden Wölfen vollzogen.
Stufe 2 war wohl die einer gezielten Selektion nach Zähmbarkeit und Friedfertigkeit. Bei der Betrachtung entwicklungsbiologischer Prozesse im Zusammenhang mit der Haustierwerdung, können wir im Folgenden genauer verstehen, welche genetischen und in Folge davon auch physiologischen Änderungen durch die Selektion auf Zähmbarkeit und größeres Vertrauen gegenüber dem Menschen ausgelöst worden sein könnten. Das immer wieder zitierte und trotzdem wichtige, sogenannte Farmfuchsexperiment der sowjetischen und später russischen Forscher rund um Dmitri Beljajev (siehe Gansloßer und Kitchenham, 2012, 2019; Miklósi, 2018) wäre hier ein gutes Modell. Silberfüchse, die auf bessere Zähmbarkeit durch den Menschen und geringere Ängstlichkeit selektiert wurden, zeigten eine ganze Reihe von körperbaulichen und auch Verhaltensveränderungen, die nicht direkt durch den menschlichen Selektionsprozess bevorzugt worden waren. Fellfärbungen, Knickohren und Ringelschwänze, aber auch eine verstärkte Vertrauensseligkeit, stärkere Sozialität gegenüber dem Menschen und sogar Veränderungen im Kommunikationsverhalten (häufigeres Bellen, Spielaufforderung,...