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Es begann in der früheren Sowjetunion. Dass ich gerade hier dem Autor Otfried Preußler wiederbegegnen würde, hätte ich nie geahnt - im Russland des 21. Jahrhunderts und in Städten wie Moskau, Kasan und Jelabuga. Persönlich getroffen habe ich Otfried Preußler leider nie, und dies, obwohl ich seit vielen Jahren Gespräche mit Autorinnen und Autoren führe.[18] Wer sich mit Literatur beschäftigt, sollte - so meine Auffassung - auch mit jenen im Austausch stehen, die Urheber dieser einzigartigen Form der Weltaneignung sind. Meine Buchbekanntschaft mit dem Autor Preußler reicht dafür in die 1960er Jahre, und es ist eigentlich eine deutsch-deutsche Geschichte. Denn: Die fantastische Erzählung vom »Kleinen Wassermann«, die Otfried Preußler 1956 den Durchbruch als Autor brachte, fand in einem Paket den Weg in den Osten. »Geschenksendung, keine Handelsware« stand in großen Buchstaben auf der Verpackung.[19] Und ich weiß noch heute, dass mir damals die Episode, in der es zum Streit zwischen dem kleinen Wassermann und dem Menschenmann kommt, am besten gefallen hat. Erst viel später wurde mir klar, dass die gewisse Entgegensetzung von Kinder- und Erwachsenenwelt im »Kleinen Wassermann« romantisch motiviert ist. Schon in Ludwig Tiecks »Die Elfen« (1812) oder auch E.T.A. Hoffmanns »Das fremde Kind« (1817) fungieren die kindlichen Protagonisten als Grenzgänger, die zwei Welten miteinander in Verbindung bringen, eine real-fiktive und eine phantastische. Im Rahmen romantischen Selbstverständnisses wird einzig Kindern die Eigenschaft zugeschrieben, in beiden Welten heimisch zu sein; Kinder sind es, die noch nicht das Rationale favorisieren, sie nehmen das Wunderbare an, sind sensibel und offen gegenüber anders gearteten Wirklichkeitserfahrungen. Genau das findet man auch bei Otfried Preußler.
Jahre später, während des Studiums in den späten 1970er Jahren, fiel erneut der Name Otfried Preußler. Egon Schmidt, Professor für deutsche Literatur, machte ihn in einer speziellen Vorlesung mit der deutschen Kinder- und Jugendliteratur von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt.[20] Dabei ging er mehrfach auch auf die böhmische Literatur für junge Leser ein und stellte Bezüge zur tschechischen her, die zunächst stark aus der Folklore, also der mündlichen Überlieferung, gespeist wurde. Wir wunderten uns, woher seine Kenntnisse im Tschechischen kamen, dann deutete Egon Schmidt nebenher irgendwann an, dass er in Nordböhmen geboren worden war. Durchaus mit etwas Stolz in der Stimme verwies er, der selbst erfolgreich Kinderbücher schrieb, auf die böhmischen Märchen und Sagen und darauf, dass Böhmen allem Anschein nach eine Region sei, die die schriftstellerische Phantasie in besonderer Weise anregen würde. Und er nannte auch zwei Namen: Franz Fühmann und Otfried Preußler. Fühmann war in der DDR eine anerkannte literarische Größe, aber Otfried Preußler aus Westdeutschland kannten nur wenige. Ich gehörte zu denen, die mit seinem Namen etwas anfangen konnten, denn auch der »Räuber Hotzenplotz«, dessen erster Band 1961 erschien, hatte es über die innerdeutsche Grenze geschafft. Das Buch wurde - wie man damals sagte - »vergesellschaftet«, also vielfach ausgeliehen. Ich weiß noch ganz genau, wie penibel ich den Freunden einschärfte, pflegsam mit dem Buch umzugehen.
Egon Schmidt, Jahrgang 1927, übrigens stammte aus Klein Priesen, dem heutigen Malé Brezno, etwa 150 Kilometer von Reichenberg (Liberec) entfernt, dem Ort, wo Otfried Preußler geboren wurde. Daher Schmidts ausgezeichneten Kenntnisse der böhmischen und tschechischen Literatur.
Einige Jahre später führte mich ein eher trauriger Anlass erneut in die Wohnung der Familie Schmidt. Mein früherer Lehrer war verstorben, und seine Frau wollte eine kleinere Wohnung beziehen, weshalb sie mir anbot, Bücher aus der umfangreichen Bibliothek zu erwerben. Ich sagte sofort zu, wohl wissend, dass es dort zahlreiche Bücher gab, an die man in der DDR auf normalem Weg nie gelangen würde. So kam es, dass ich mich über mehrere Wochen in der Bibliothek von Egon Schmidt lesend in Texte vergrub. Ich entschied mich vor allem für Bände, deren Publikationsorte im Westen lagen. Dazu gehörten Bücher des Germanisten Hans Mayer (1907-2001), der an der Universität Leipzig gelehrt hatte und 1963 von einem Besuch in der Bundesrepublik nicht zurückgekehrt war. Meine Wahl fiel beispielsweise auf »Thomas Mann. Werk und Wirkung« (1950) und »Von Lessing bis Thomas Mann« (1959). Damals wusste ich nur wenig vom legendären Hörsaal 40, in dem er seine Vorlesungen gehalten hatte, unter den Zuhörern waren Uwe Johnson und Christa Wolf, Hans Joachim Schädlich und Fritz Rudolf Fries. Ich entschied mich auch für das Standardwerk »Der Geist der Goethezeit« (1923-1953) von Hans Mayers Kollegen Hermann August Korff (1882-1963). Auch Karlheinz Deschners »Kitsch, Konvention und Kunst« (1958), Walter Muschg »Die Zerstörung der deutschen Literatur« (1956) und Friedrich Sengles »Arbeiten zur deutschen Literatur 1750-1850« (1965) standen auf der Liste. In der Bibliothek gab es zudem zahlreiche Texte mit Widmungen von Kollegen aus der Bundesrepublik, die zur Kinder- und Jugendliteratur arbeiteten. Darunter waren Alfred Clemens Baumgärtner und Heinz Pleticha, ein Freund von Otfried Preußler. Letztlich hatte ich es auf das abgesehen, was man Kontingentliteratur nannte. Dazu gehörte erstaunlicherweise auch Otfried Preußlers »Krabat«. In der Gegenwart weiß kaum noch jemand, was der Begriff Kontingentliteratur bedeutet. Der mit Otfried Preußler bekannte Autor Erich Loest hat in seinem wichtigen Roman »Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene« (1978) eindringlich beschrieben, was darunter zu verstehen ist. Er lässt nämlich seinen Ich-Erzähler, der den bezeichnenden Namen Wolfgang Wülff trägt, in den sogenannten »Giftturm« der deutschen Bücherei in Leipzig vordringen.[21] Dort, hoch über den Dächern, gibt es einen kleinen Lesesaal, den man nur mit einer Sondergenehmigung betreten kann und in dem es möglich ist, ansonsten verbotene, also kontingentierte Literatur zu studieren. Hier finden sich jene Zeitschriften und Texte, von denen staatliche Instanzen in der DDR annahmen, dass man sie nicht lesen sollte, weil sie andere als die offiziell verfügten Werte, Normen, Codes und Ideen transportierten. Untergebracht waren hier auch jene Wissenschaftler und Schriftsteller, die - wie Hans Mayer und Uwe Johnson - die DDR verlassen hatten.[22]
Wiederum Jahre später kam ich erneut mit Otfried Preußler in Berührung, diesmal im Kinderbuchverlag Berlin. Der Verlag wollte unbedingt Michael Endes »Unendliche Geschichte« in der DDR veröffentlichen. Wegen der Episode mit den Yskalnari gab es aber Probleme. Die Yskalnari kennen bekanntlich das Pronomen »Ich« nicht; was zählt, ist einzig die Gemeinschaft. In der DDR wurde diese Episode als Angriff auf einen gesellschaftlichen Grundansatz gesehen. Dabei hatte der Prosatext »Abendlicht« von Stephan Hermlin bereits Anfang der 1980er Jahre eine Diskussion in Gang gebracht, in der es um die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ging. Hermlin wendet sich in autobiografisch angelegten Episoden der eigenen Biografie zu und erinnert, wie sein Lehrer Hermann Duncker Vorlesungen über das »Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels gehalten hat. Sich seiner Sache sehr sicher, macht Hermlin im fünfzigsten Lebensjahr eine - wie er sagt - unheimliche Entdeckung. »Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: >An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist<«, so Hermlin. Er hatte sich den Satz aus dem Manifest in dieser Weise eingeprägt. Aber nun macht er eine erstaunliche Entdeckung: »Wie groß war mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, daß der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagt: >worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.<«[23] Die Debatte, die mit Hermlins Text losgetreten worden war, kam freilich nicht überall an.
Joachim Schmidt, einer der profiliertesten Kinderbuchlektoren des Landes, hatte mich eingeladen, weil er wusste, dass ich mich mit dem Phantastischen in der deutschen Literatur beschäftige, und bot mir an, einen Aufsatz zu Endes Roman zu schreiben. Wenn ein wissenschaftlicher Beitrag vorliege, sei es einfacher, eine Druckgenehmigung vom Ministerium für Kultur zu bekommen. Lektoren in Verlagen waren - so meine Erfahrung - hochgebildete und qualifizierte Literaturkenner, von denen man lernen konnte und denen es darum ging, gute Bücher zu machen, und nicht darum, sie zu verhindern. Jochen Schmidt etwa hatte eine Studie zur »Volksdichtung und Kinderlektüre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts« (1977) vorgelegt, damals ein Meilenstein der historischen Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur.[24] Ich sagte also sofort zu, auch deshalb, weil es bei den eingeschränkten wissenschaftlichen Publikationsmöglichkeiten ausgesprochen schwierig war, in so hochkarätige Publikationsorgane zu kommen. Bei einem der nachfolgenden Treffen brachte ich...
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