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Freunde in Venezien
Die Tage des Weins und der Rosen, sie währen nicht lange.
Ernest Dowson, Vitae Summa Brevis
In der Nähe des Hauses meiner Mutter wohnten Carletto Ancilotto und seine Frau Chiara, die ich seit meiner Kindheit kannte. Er war ein Graf, und ihr Landsitz an der Lagune stand Freunden immer offen. Dort lernte ich Paolo kennen, der mit Mariangela, einer künstlerisch begabten und intelligenten Frau, verheiratet war. Sie hatten zwei kleine Töchter, Valeria und Livia. Es war unmöglich, Paolo nicht zu bemerken. Er verströmte Energie; die Aura von intensiver Lebendigkeit und Wachheit, die ihn umgab, war außerordentlich anziehend. Er hatte eine besondere Art, hoch aufgerichtet zu gehen und seinem Gesprächspartner die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner offenen, intelligenten und beeindruckend blauen Augen zu schenken. Paolo war Doktor der Agrarwissenschaft und interessierte sich auch praktisch für die Landwirtschaft, die er erfolgreich betrieb. Er war, wie die meisten Gutsbesitzer zur damaligen Zeit, ein begeisterter Angler, Jäger und Sportschütze - Leidenschaften, die er mit Carletto teilte.
Paolos Vater hatte sein Geburtsland, die Schweiz, verlassen, als er noch keine zwanzig Jahre alt war, um im Süden der Vereinigten Staaten zu leben, wo er alles Wissenswerte über Baumwolle lernte; später hatte er sich in Indien niedergelassen und sich ganz dieser florierenden Branche gewidmet. Paolos Großvater mütterlicherseits war ein Pionier der Luftfahrt gewesen, und zu Beginn dieses Jahrhunderts hatte er in Italien die bekannte Flugzeugfabrik Macchi gegründet. Seine Mutter hatte am Konservatorium studiert und war eine ausgezeichnete Geigerin. Von seiner Mutter hatte Paolo die Leidenschaft für Musik und von seinem Vater die Reiselust und Begeisterung für die Tropen geerbt.
Sobald er sein Studium abgeschlossen hatte, nahm sich Paolo ein Jahr frei und reiste per Schiff nach Afrika. An einem Tag im Jahre 1959 kam er in Mombasa an: Es war der Anfang seiner Liebe zu diesem Kontinent.
Er schloss dort viele Freundschaften, besonders mit den Brüdern Jack und Tubby Block, die aus jener Pionierfamilie stammten, die das Hotelgewerbe in Kenia dominierte, sowie mit den Roccos, einem regelrechten Clan halb italienischer, halb französischer Herkunft, die auf einer Farm am Ufer des Naivashasees lebten. Auf seinen Reisen durch das Land entdeckte Paolo eine Farm auf dem Kinangop am Fuße des Aberdare-Gebirgszuges, durch die ein Fluss voller Forellen floss. Sie stand zum Verkauf, und er verlor sein Herz daran. Er fuhr wieder nach italien, heiratete Mariangela, seine Jugendfreundin, und kehrte mit ihr nach Kenia zurück, nachdem er seinen Vater dazu überredet hatte, die Farm zu kaufen.
Im Jahre 1960, kurz vor der Unabhängigkeit, stand Kenia noch ganz unter dem Einfluss der Mau-Mau. Menschen, die auf abgelegenen Farmen lebten, gingen noch immer mit griffbereitem Gewehr zu Bett. Es war ein völlig anderes Leben als in Mailand, und Mariangela fiel es schwer, sich daran zu gewöhnen. Als sie ein Kind erwartete, überredete sie Paolo, nach Italien zurückzukehren.
Sie gingen zurück nach Europa und ließen sich in Venezien an der Lagune nieder, auf dem Gut »Cavallino« (kleines Pferd), wo es von Wildgänsen und Fischen wimmelte. Die Blocks oder einige Mitglieder der Rocco-Familie kamen sie oft besuchen und entfachten immer wieder Paolos Sehnsucht nach Afrika.
In der Gesellschaft des venezianischen Landadels waren sie von Anfang an akzeptiert. Ich traf sie häufig und verstand mich mit beiden ausgezeichnet. Paolos Intelligenz und Bildung, sein flinker Verstand und die Art, wie er Geschichten von Afrika erzählte, faszinierten mich. Im Sommer fuhr unser ganzer Freundeskreis oft zu verschiedenen Gartenrestaurants, die für ihre Küche und ihren exzellenten Wein berühmt waren.
An einem dieser Abende beschlossen wir, gemeinsam mit Carletto, Chiara und ein paar anderen Freunden ein neues Fischrestaurant am Ufer des Sile auszuprobieren. Unglücklicherweise hatte Paolo seinen Wagen an diesem Tag Dorian Rocco geliehen, der aus Kenia zu Besuch war, und der Wagen seiner Frau war zur Inspektion. Carletto und Chiara holten sie deshalb mit ihrem Wagen an der Anlegestelle auf dem Festland ab, und ich begleitete sie.
Das Essen war ausgezeichnet, und wir waren in bester Stimmung. Danach trennten wir uns und tauschten die Wagen, da Carletto und Chiara sich entschieden hatten, nach Hause zu fahren, und wir Übrigen tanzen gehen wollten. Die Nacht war mild, und überall leuchteten Glühwürmchen. Wir lachten und unterhielten uns im Auto, ohne den Lastwagen zu beachten, der mit vollem Tempo und aufgeblendeten Scheinwerfern auf uns zuraste.
Ein Knall, Schreie, das Geräusch von splitterndem Glas und quietschendem Metall. Das Gefühl, auseinandergerissen zu werden, von einem gewaltigen Strudel brutal nach hinten gerissen, in einen dunklen Tunnel, aus dem es kein Zurück gab. Eine Strähne meines blonden Haares hing blutverklebt an der geborstenen Heckscheibe.
Die Glühwürmchen tanzten noch immer, unbekümmert.
Durch die Tragödie hatte ich das, was mir noch von meiner jugendlichen Naivität geblieben war, verloren. In schweren Gips wie in einen überdimensionalen Kokon gehüllt, lag ich flach auf dem Rücken über acht Monate lang in verschiedenen Krankenhausbetten. Zu meinen zahlreichen Frakturen kam noch die Entdeckung hinzu, dass ich an akuter Anämie litt; vor dem Unfall war ich einfach extrem dünn gewesen.
Eines Nachmittags hob man mich mühselig auf eine fahrbare Liege und rollte mich in einen anderen Raum, wo ich auf einem Schwarzweißfernseher verblüfft beobachtete, wie ein Mensch, der selbst wie vom Gewicht eines unförmigen Gipsverbandes niedergedrückt schien, die ersten vorsichtigen Schritte auf der leuchtenden Oberfläche des Mondes unternahm. Später an diesem Abend lag ich in der Dunkelheit und fing in meinem Handspiegel das silberne Licht des Mondes ein, den der Mensch erobert hatte und der doch in diesem Sommer von meinem Bett so weit entfernt war.
Ich lernte, mit kaum erhobenem Kopf zu essen und zu trinken und es nicht als Demütigung zu empfinden, dass ich bei meinen körperlichen Bedürfnissen völlig auf die Krankenschwestern angewiesen war.
Während der endlosen heißen Sommernächte, wenn sich die eigenartige Stille der Krankenhäuser, die vom Atmen so vieler unbekannter leidender Menschen erfüllt war, auf mich legte, starrte ich an die klinisch weißen Zimmerdecken und wartete geduldig darauf, dass mein Körper gesund wurde, wohl wissend, dass das, was danach geschehen würde, zum großen Teil von mir selbst abhing.
Der Schlüssel zu meiner Zukunft war Paolo. Trotz der Operationen und Bluttransfusionen, trotz des körperlichen Schmerzes und des quälenden Grübelns fing ich an, mich auf seine Besuche zu freuen. Allmählich verkörperte er die Verbindung zu einer anderen Welt, die Hoffnung auf Veränderung und auf ein neues Leben.
Seine Beine waren unverletzt, und sein Kiefer, seine Rippen und das Rückgrat, die verletzt waren, konnten ihn nicht unbegrenzt ans Bett fesseln. Paolo musste sich einfach bewegen. Er strömte Heiterkeit und Abenteuergeist aus. Er saß an meinem Bett und erzählte mir mit zusammengebissenen Zähnen von dem Ort, an dem er einmal gelebt hatte und wo er, wie er aus ganz irrationalen Gründen fühlte, hingehörte. Paolo, schlank und gerade, stets sonnengebräunt, mit funkelnden blauen Augen, aus denen Leiden, aber auch unerschütterliche Energie sprachen, rief in mir Bilder wach von einer grenzenlosen Freiheit, von endlosen Horizonten und roten Sonnenuntergängen, von grünem Hochland, in dem es von wilden Tieren wimmelte. Seine Anwesenheit tauchte das Krankenzimmer in goldenes Licht; ich konnte das trockene Gras der unbekannten Savannen riechen, den ersten Regen, der nach langer Dürre auf die staubige Erde fiel, und ich konnte den Wind in meinem Haar und die brennende Sonne auf meiner Haut spüren. Der Traum meiner Kindheit erwachte durch seine lebhaften Erzählungen zu neuem Leben.
Einmal erzählte er mir von den Aalen, die die Kanäle und Flüsse verlassen, wo sie geboren werden, die gefährlichen Meere durchqueren und in die Tausende von Meilen entfernte Sargassosee zurückschwimmen, um dort zu laichen und zu sterben. Und von den Jungaalen, die denselben Weg zurückschwimmen, zu denselben Flüssen und Kanälen, von denen ihre Eltern kamen. Ich dachte an die Schwalben.
Damals sprachen wir nicht ein einziges Mal über das, was geschehen war und was unser Schicksal für immer verändert hatte. Um unsere tieferen Wunden zu heilen und allmählich wieder Fuß zu fassen, war es nötig, dass wir beide hoffnungsvoll in die Zukunft blickten, auf ein ganz neues Leben, in dem keine Schatten der Vergangenheit lauerten, wo uns keine Erinnerungen verfolgten und wir den Sinn des Lebens neu würden entdecken können. Instinktiv wussten wir beide, dass das nur an einem Ort geschehen konnte, wo wir ganz von vorne anfangen konnten. Irgendwo weit fort, irgendwo, wo alles noch mehr oder weniger unbekannt war. Sein Enthusiasmus berauschte mich. Mein Enthusiasmus gab ihm Wärme und neue Hoffnung. Uns verband die Vision von diesem fernen Kontinent jenseits des Ozeans und der Wille zu überleben.
Als das Wetter kalt und neblig wurde und die Bäume erneut ihre Blätter verloren, hatten wir uns ineinander verliebt. »Du musst gesund werden. Du musst wieder gehen können. Dann werde ich dir Kenia zeigen.«
Ich konnte es nicht erwarten. Unter dem schweren Gipsverband trainierte ich ständig meine Muskeln, um so fit wie möglich zu sein, wenn man mich endlich aus dieser Schale würde befreien können.
Als der Augenblick kam, war Paolo...
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