Schweitzer Fachinformationen
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Zehra war froh, dass es nicht der Pavianfelsen war. Siegrist verbrachte seine Mittagspause oft auf einer Bank im Zoologischen Garten vor dem künstlichen Miniaturgebirge. Das wusste sie von Brandt. Untergebene oder Bittsteller ließ er gern dort antanzen. Aber wahrscheinlich war das in seiner neuen Position nicht mehr opportun.
Sie fuhr die Seitenscheibe nach unten. Stickige Luft strömte herein und blies die ein paar Grad kühlere Luft der Klimaanlage aus dem Wagen. Schnell fuhr Zehra die Scheibe wieder hoch.
Sie war nervös. Und misstrauisch. Wie auch nicht, wenn sich der Innensenator von Berlin mit ihr treffen wollte? Sie hatte Siegrist während eines Falls vor einem guten halben Jahr persönlich kennengelernt. Damals war er noch Oberstaatsanwalt gewesen. Die Begegnung war für sie nicht angenehm verlaufen. Sie hatten gerade einen Verdächtigen befragen wollen. Siegrist hatte sie aus dem Verhörraum geworfen. Er hatte aus politischen Gründen versucht, die Ermittlungen in eine bestimmte Richtung zu drängen, und hatte sie vermutlich nicht als Zeugin dabeihaben wollen. Aber Brandt hatte sich nicht unter Druck setzen lassen. Der Fall war Siegrist um die Ohren geflogen. Es konnte nicht leicht gewesen sein, ihn doch noch ohne viel Aufsehen zu beerdigen. Anscheinend hatte er sich dabei geschickt angestellt und bei den richtigen Leuten so verdient gemacht, dass er sich kurz darauf auf dem Sessel des Innensenators wiederfand. Damit war er oberster Dienstherr der Berliner Polizeibehörden.
»In vierhundert Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht.« Langsam rollte sie an einem Gitterzaun vorbei. Gräber sah sie keine. Mit seinen gepflegten Rasenflächen und den alten Bäumen erinnerte der Dreifaltigkeitsfriedhof eher an eine Parkanlage.
Vor dem Haupteingang, einem aus roten Ziegeln gemauerten Torbogen, stand ein etwa dreißigjähriger Mann neben einer schwarzen Mercedes-Limousine. Trotz der Hitze trug er einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Das konnte nur Siegrists persönlicher Referent sein. Als er Zehra sah, hörte er auf, mit dem Fuß zu wippen, und kam auf sie zu.
»Sie sind zu spät.«
Zehra sah auf ihre Uhr. Drei Minuten drüber.
Statt sich vorzustellen, musterte er Zehra abschätzig von oben bis unten. Schlagartig wurde sie sich der Schweißflecken bewusst, die sich unter ihren Achseln gebildet hatten. Der Referent machte auf dem Absatz kehrt und steuerte mit langen Schritten auf den Torbogen zu. Zehra griff nach ihrer Jacke und zog sie an, während sie hinter ihm herhastete.
Sie traten in den Schatten einer von riesigen Platanen gesäumten Friedhofsallee.
Zehras Nervosität wuchs.
Sie bogen in einen Nebenweg. Hier waren sie, die Gräber, Seite an Seite ordentlich aufgereiht. Innensenator Gunnar Siegrist stand leicht gebeugt vor einem Grab und schien die Inschrift auf dem Grabstein zu studieren. Anders als sein Adlatus hatte er sein Anzugjackett ausgezogen und die Krawatte gelockert. Dennoch strahlte der hagere, hoch aufgeschossene Mann Strenge aus. Er erinnerte Zehra immer an einen Insektensammler, der Nadeln in Käfer und Schmetterlinge stach.
Er wandte sich um und sah sie an. Da war er wieder, der inquisitorische Blick, mit dem er versuchte, sein Gegenüber bis in die geheimsten Ecken auszuloten.
»Hallo, Frau Erbay. Wir hätten uns vielleicht besser in einem Freibad getroffen.«
Er streckte seine Hand aus, sie nahm sie. An seinem falschen Lächeln musste er noch arbeiten. Oder vielleicht auch nicht. So war es viel einschüchternder.
»Guten Tag, Herr Innensenator.«
Er hielt ihre feuchte Hand einen Moment länger als nötig. Seine eigene war völlig trocken. Wie machte er das?
»Ich bin ab und zu hier.« Er deutete auf den Grabstein.
Zehra las die Inschrift: »ulrike marie meinhof 7.10.1934-9.5.1976«.
»Sie wissen, wer das ist?«
»Natürlich.«
Eine Terroristin, Rote Armee Fraktion. Über vierzig Jahre war das her. Auf der Polizeischule hatten sie in Modul FG III.3, LV 5 »Politisch motivierte Kriminalität, Terrorismus, Anschläge und Gefahr von Anschlägen« einen Vortrag dazu gehört.
»Sie fragen sich wahrscheinlich, warum Sie hier sind.«
Zehra zuckte mit den Achseln.
Siegrist sprach weiter. »Bisweilen stehen wir vor Entscheidungen, bei denen unsere ethischen Prinzipien mit pragmatischen Erwägungen kollidieren. Intuitiv würde man am liebsten seinen Überzeugungen folgen. Aber das ist nicht immer richtig.«
Der Innensenator machte eine Kunstpause. Zehra fragte sich, worauf er hinauswollte.
»Darum komme ich ab und zu hierher. Um mich zu erinnern, wohin ethischer Rigorismus und falsch verstandene Loyalitäten führen können.« Er deutete auf das Grab. »Bei dieser Frau zu Brandstiftung, Entführung, Mord und schließlich zu Selbstmord. Sie war keine gewöhnliche Kriminelle. Sie hatte höchste moralische Ansprüche, sie litt an der Ungerechtigkeit in der Welt. Sie wollte das Gute, davon bin ich überzeugt. Gehen wir.«
Sie folgte den Männern zurück zu den Autos.
Siegrist nickte ihr zu. »Fahren Sie einfach hinter uns her.«
Nach anderthalb Kilometern endete die Fahrt auf einer Großbaustelle mit drei Etagen hoch gestapelten Bürocontainern und einem Dutzend haushoher Baukräne. Lastwagen donnerten über das Gelände und wirbelten Staub auf.
Sie hielten vor einer stählernen Aussichtsplattform. Der Referent riss die Tür auf, der Innensenator schraubte sich ins Freie. Sie stiegen die Stufen hinauf.
Von oben überblickte man die Baustelle, bisher vor allem ein riesiges Loch mit einem Irrgarten frisch gegossener Betonwände, aus denen rostbraune Armierungseisen ragten. Überall wuselten Arbeiter mit gelben Helmen und nackten Oberkörpern herum, während am Rand der Grube Raupenbagger, Kipplader und Betonmischer rangierten.
»Wissen Sie, was das hier wird?«
Natürlich wusste sie es. »Die Erweiterung des LKA in Tempelhof.«
»Richtig. Allerdings trifft >Erweiterung< es nicht ganz.« Siegrists leicht nasale Stimme bekam einen beinah enthusiastischen Ton. »Hier entsteht das LKA 2.0, Frau Erbay.«
Er wartete auf ihre Reaktion. Zehra tat ihm den Gefallen nicht und sah ihn nur fragend an.
»Unsere Ermittlungsbehörden müssen dringend modernisiert werden, um der Entwicklung der Kriminalität und ihren neuen Formen gerecht zu werden - vor allem im Bereich der Schwerstkriminalität.«
Es hätte klingen können, als hielte er eine Rede, tat es aber nicht. Jedes Wort schien direkt an Zehra gerichtet zu sein, als sei sie die einzige Person, die diese Ziele Wirklichkeit werden lassen konnte.
»Modernste Technologie, flache Hierarchien, optimierte Kommunikationswege. Weg von Beamtenroutine und Beförderungsorientierung. Leistung statt Dienstjahre.«
Er machte eine weitere Kunstpause, um zu sehen, ob seine Zuhörerin angemessen beeindruckt war. Sie war es, aber sie war auch skeptisch.
»Sie glauben nicht daran, stimmt's? An Ihrer Stelle würde ich das auch nicht. Die Politik hat der Polizei schon oft Versprechungen gemacht und nur die wenigsten davon erfüllt.« Mit einer knappen Geste umriss er das Baustellenareal. »Es wird passieren, und wenn es so weit ist, will ich, dass Sie dabei sind. Wir brauchen eine neue Sorte Polizeibeamte. Intelligent, flexibel, kreativ. Ich bin davon überzeugt, dass eine Einheit aus solchen Ermittlern die RAF erheblich früher außer Gefecht gesetzt hätte.«
»Und Sie denken, ich bin dafür geeignet?«
»Ja. Ich kenne Ihre Bewerbung, Ihre Personalakte. Der Aufsatz, den Sie in Berufsethik geschrieben haben, hat mich fasziniert.«
»Ich war damals noch -«
Siegrist legte seine Hand auf ihren Arm. »Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, als ich Sie für das Sonderdezernat empfohlen habe.«
Was sollte das nun wieder heißen?
»Sie wollten unbedingt zum LKA. Das Sonderdezernat war eine neue Sache, eine Herausforderung. Es brauchte geistige Beweglichkeit.« Er sah sie direkt an. »Sie sind mit Leib und Seele Polizistin. Bei Ihrem Chef ist das anders. Er hat wichtige, ich würde sogar sagen, unersetzliche Fähigkeiten, aber im Polizeiapparat wird er immer ein Fremdkörper bleiben.«
Zehra spürte den Impuls, Brandt zu verteidigen. »Er ist ein ausgezeichneter Kriminalist.«
Siegrists Lächeln war das Äquivalent eines Kopftätschelns. »Loyalität ist eine lobenswerte Eigenschaft, wie gesagt.«
Der persönliche Referent straffte sich, als versuche er, sich in ein Standbild der Loyalität zu verwandeln.
»Ich bedauere die derzeitige Situation des Dezernats sehr. Aber nach dem Presserummel hielt der Regierende Bürgermeister es für klüger, das SD Fremdkultur eine Zeit lang aus der Schusslinie zu nehmen. Gegen meinen Rat.«
Zehra glaubte ihm kein Wort. Siegrist selbst hatte das Dezernat liquidieren wollen, Brandt hatte ihn nur durch Erpressung daran hindern können.
»Ich halte Ihre momentane Situation für eine Verschwendung Ihres Talents und Potenzials.«
Ob sie wollte oder nicht, Zehra musste zugeben, dass es exakt das war, was sie selbst dachte. Siegrists Blick ließ sie nicht los.
»Sie können es weit bringen, vorausgesetzt, Sie verrennen sich nicht aus falscher Loyalität. Ich würde Ihnen gern helfen. Ich frage Sie jetzt nicht, ob Sie weiter im Sonderdezernat arbeiten wollen. Aber wenn Sie die freie Wahl hätten - was würden Sie in der Polizei am liebsten tun? Seien Sie ehrlich.«
»Mordermittlung.«
Sie hatte gesprochen, ohne nachzudenken. Ohne zu überlegen, ob das wirklich ihre Wahl war, ob sie Brandt damit in...
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